Wie halten es Erzieher:innen mit dem Fachkräftemangel aus?

04.11.2022, Lesezeit 10 Min.
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Foto: Simon Zinnstein

Der Fachkräftemangel in den Kitas ist akut und wird voraussichtlich in den nächsten zehn Jahren weiter steigen. Der Beruf ist essentiell, dennoch unterfinanziert und unterbesetzt. Die Folgen für die Kinder und die pädagogischen Fachkräfte sind enorm.

Erziehungsdienst: Essentiell dennoch unterbesetzt

Der Erziehungsdienst ist ein essentieller Berufssektor, der dafür sorgt, dass die Gesellschaft am Laufen bleibt und die traditionelle Reproduktionsarbeit (teils-) sozialisiert wird. Es ist ein Beruf, der die kritische Infrastruktur aufrechterhält. Wenn die Kinder nicht in der Kita sind, können die Eltern in der Regel nicht arbeiten. Der kapitalistische Markt wäre daher enorm dysfunktional. Dieser Beruf ist damit beauftragt, die Kinder und Jugendlichen pädagogisch in ihrer Entwicklung zu begleiten, ihre Kompetenzen zu fördern und dadurch die Integrationsfähigkeit in der Gesellschaft zu stärken. Der Großteil der Zielgruppe ist die Altersgruppe 0-12 Jahren.

Nach wie vor handelt es sich von einem überwiegend feminisierten Beruf, da die patriarchalen Normen in der Gesellschaft den Frauen die Erziehungsaufgabe erzwingen. Es gibt zwar einen männlichen Anteil unter Erzieher:innen, allerdings ist er sehr gering. Der Grund dafür liegt in der bürgerlichen Familie, die der Frau die Aufgabe der Kindererziehung und der Hausarbeit zuspricht. Die (teils-) Sozialisierung der Reproduktionsarbeit ermöglicht den Frauen, Lohnarbeit auszuüben. Nichtsdestotrotz haben die arbeitenden Frauen im Erziehungssektor sowohl zu Hause als auch am Arbeitsplatz Reproduktionsarbeit zu erledigen.

Die essentielle Bedeutung dieses Berufs entspricht aber nicht den Arbeitsbedingungen, die die Wichtigkeit dieser Arbeit und ihrer Qualität widerspiegeln. Der Mangel an Personal, Vorbereitungszeiten, Räumlichkeiten und finanziellen Mitteln bestimmen den Rahmen der pädagogischen Aktivitäten.

Laut einer ver.di Umfrage vom letzten Jahr fehlen aktuell rund 173.000 Fachkräfte in deutschen Kitas. Die Bertelsmann Stiftung geht davon aus, dass bis 2030 bundesweit sogar 300.000 Fachkräfte fehlen werden. Demnach steht 74 Prozent der Kinder in amtlich erfassten Kita-Gruppen nicht genügend Fachpersonal zur Verfügung. 54 Prozent aller Kita-Gruppen seien laut der Stiftung zu groß.

Die Vorbereitungszeiten, die in der letzten Tarifrunde auf 19,5 Stunden im Jahr erhöht wurden, sind sowohl zu niedrig als auch kaum anwendbar, da der Personalmangel diese Aktivität nicht erlaubt. Dadurch geht eine wertvolle pädagogische Maßnahme verloren, die konzeptionell dafür gedacht ist, den Kindern Angebote vorzubereiten, um ihre Entwicklung zu fördern und zu begleiten. Es geht bei Vorbereitungszeiten nicht nur um die Betreuung, sondern auch darum die Bildungs- und Lernangebote zu konzipieren, sowie deren Dokumentation und Gespräche mit den Eltern.

Die Gruppen sind meistens zu groß, die Räumlichkeiten zu klein und das Personal zu wenig, um die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes wahrzunehmen und ihren Interessen, entsprechende pädagogische Begleitung, zu ermöglichen. Auch die Zeit, sich mit der Entwicklung der einzelnen Kinder auseinanderzusetzen oder Rücksprache mit den Eltern über Auffälligkeiten zu halten, fehlt oftmals. Aus wichtiger, qualitativer Arbeit für die Entwicklung, wird somit ein reines Beaufsichtigen der Kinder.

Wie geht es den Azubis?

Die schlechte Planung der Ausbildung ist eine weitere Hürde. Die Azubis als Nachwuchskräfte sind die wichtigste Quelle gegen den Personalmangel, doch sie werden wie billige Arbeitskräfte behandelt. Die pädagogischen, psychologischen und entwicklungstheoretischen Inhalte und Methoden, die den Azubis vermittelt werden, können in der Praxis der Ausbildung kaum genutzt werden, da es an Zeit und Ressourcen mangelt, sich als Azubi mit derartigen Aufgaben zu beschäftigen. Denn aufgrund des Personalmangels werden sie meistens als Lückenfüller genutzt.

Es gibt mehrere Ausbildungsmodelle, die drei bis fünf Jahre dauern. Die vier- bis fünfjährigen Ausbildungen sind oft schlecht vergütet und zu lang, was eine große Belastung für die Auszubildenden darstellt, da sie über Jahre hinweg auf BAföG angewiesen sind. Nur im letzten Jahr, das als Anerkennungsjahr gilt, verdienen sie 1600 Euro brutto, obwohl sie Vollzeit arbeiten. Diejenigen Azubis, die aus einkommensschwachen Verhältnissen kommen, müssen bis zum Anerkennungsjahr zusätzlich zur Vollzeitausbildung Nebenjobs machen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.

Die seit 2012 angebotene praxisintegrierte Ausbildung, die drei Jahre dauert, ist nur für Menschen mit Fachabitur oder Abitur zugänglich. Dieses Modell heißt in Bayern OptiPrax. Es handelt von einer generalisierten Ausbildung, die den Azubis ermöglicht, in allen Bereichen der Frühpädagogik (Krippe, Kindergarten und Hort) jeweils ein Jahr zu arbeiten. Dadurch, dass sich die Azubis im abwechselnden Rhythmus zwischen Schule und Praxis befinden, sorgen sie dafür, dass der Personalmangel teilweise gemildert bleibt. Es gibt mehrere Einrichtungen in München, die behaupten, dass man ohne die OptiPrax-Azubis die Einrichtungen schon längst hätte schließen müssen. Dieses Ausbildungsmodell ist vergütet. In München zum Beispiel verdient man im ersten Jahr etwa 1300 Brutto. Es ist zwar eine bessere Situation im Vergleich zur unvergüteten Ausbildung, doch Netto bleiben etwa 1000 Euro, womit man sich gerade so die Miete für ein WG-Zimmer leisten kann, das in München durchschnittlich etwa 700 Euro kostet. Wir haben also mit einer Vollzeitbeschäftigung im systemrelevanten Bereich zu tun, die aber durch Niedriglohn finanziert wird.

Die Folgen sind gravierend

Aus allen diesen Bedingungen folgt, dass viele Kolleg:innen stark belastet sind und gesundheitsbedingt ausfallen oder sogar durch andauernden Stress psychisch erkranken und arbeitsunfähig werden. Die hohe Arbeitsbelastung in Kitas hat zur Folge, dass viele Kolleg:innen den Beruf verlassen oder nur Teilzeit arbeiten. Diese Entwicklung dürfte niemanden verwundern. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in der Pflege beobachten, wo immer mehr Beschäftigte durch die hohe körperliche und psychische Belastung infolge des Personalmangels aus dem Job und oft sogar ins Burnout getrieben werden.

Sowie sich der Personalmangel in der Pflege auf die Qualität der medizinischen Versorgung auswirkt, sinkt auch die Qualität der Erziehung durch die genannten Probleme enorm. Die Kinder tragen die Last des Personalmangels mit und bekommen die Auswirkungen unmittelbar zu spüren. Auf individuelle Bedürfnisse von Kindern kann kaum eingegangen werden, wenn eine Fachkraft alleine die Gruppe betreut, was in der Realität sehr oft der Fall ist. Die Situation des Fachkräftemangels, in der das pädagogische Personal tagtäglich an ihre Grenzen stößt, verhindert auch den Kindern eine gesunde Entwicklung und eine angemessene pädagogische Betreuung und Begleitung.

Autoritäre oder vernachlässigende Tendenzen werden sichtbar aufgrund des Personalmangels und/oder der großen Gruppenkonstellationen. Es ist eine Illusion, das Bedürfnis jedes einzelnen Kindes wahrzunehmen und dem nachzukommen, wenn der Personalschlüssel die nötige Zeit für die Betreuung nicht ermöglicht. Was für die Kinder gravierende Folgen hat, gerade in den super wichtigen und prägenden ersten Lebensjahren, ist auch für die Beschäftigten dort unglaublich frustrierend. Sie lernen jahrelang in der Ausbildung, wie wichtig und bedeutsam ihre Arbeit für junge Menschen ist und wie sie die Entwicklung der Kinder positiv beeinflussen können. Dann aber in der Praxis aufgrund von Personalmangel nichts davon umsetzen zu können und zu wissen, dass man gerade durch Unterbesetzung qualitativ keine gute Arbeit leistet, ist unglaublich frustrierend und für viele auch Grund, sich einen anderen Job zu suchen.

Was macht die Bundesregierung gegen den Personalmangel?

2019 trat das Gute-Kita-Gesetz, konzipiert von Franziska Giffey (SPD), in Kraft, was den Ländern etwa 5,5 Milliarden für Investitionen in Kitas bereitstellen sollte. Wofür genau das Geld ausgegeben werden kann, stand den Ländern frei. Dieses Budget ist sehr gering und wurde nicht angewendet, um die Beschäftigten besser zu bezahlen, die Ressourcen auszubauen oder die Ausbildungsbedingungen attraktiver zu gestalten. In einigen Bundesländern wurde das Geld genutzt, um die Kita-Gebühren von Eltern zu senken. Berufsverbände, Gewerkschaften und Erzieher:innen kritisierten, dass das Geld in anderen Bereichen der Kita besser aufgehoben wäre. Doch hier werden die Interessen der Eltern und der Erzieher:innen gegeneinander ausgespielt, obwohl sie eigentlich die gleichen sind, nämlich die qualitativ bestmögliche Erziehung der Kinder. Diese kann nur durch genügend Personal und angemessene Arbeitsbedingungen garantiert werden. Um solche Komplikationen zu vermeiden, müssen die Kita-Gebühren entfallen, damit allen Kindern von der Krippen- bis zur Hortphase ein kostenloses Erziehungsangebot angeboten werden kann, ungeachtet des Einkommens ihrer Eltern. Und gleichzeitig braucht es Geld für Erzieher:innen, die Ausbildung und Kitas, um eine professionelle Betreuung mit Qualität statt bloßer Aufsicht zu garantieren.

Das Gute-Kita-Gesetz soll nun 2023 durch das Kita-Qualitätsgesetz abgelöst werden, welches vier Milliarden Euro für die nächsten zwei Jahre vorsieht. Im Vordergrund stehen die sprachliche Bildung, Maßnahmen für bessere Ernährung und mehr Bewegung sowie mehr Geld für mehr Fachkräfte. Aber vier Milliarden sind dafür nicht genug! Wir brauchen keine kurzfristigen Pflaster, die die Kitas für kurze Zeit vor dem Untergehen bewahren. Stattdessen braucht es nachhaltige und wirksame Maßnahmen, die die Probleme im Erziehungsdienst strukturell beheben. Immer wieder wird erwidert, dass einfach nicht genug Geld da wäre, vor allem jetzt in dieser krisenhaften Zeit. Doch eine Regierung, die über Nacht 100 Milliarden Euro Sondervermögen aus dem Boden stampft, kann uns nicht erzählen, dass für die Erzieher:innen, Eltern und Kinder leider kein Geld da sei. Das ist ein klarer Ausdruck davon, dass die Regierung mehr Wert auf Panzer legt als auf eine gute Entwicklung von Kindern.

Im selben Atemzug plant die Bundesregierung, die Gelder für das Sprach-Kita-Programm zu streichen. Die Folge wäre die Streichung von 7.000 Stellen und die Entlassung von 500 Fachberatungen. Die Sprach-Kitas kümmern sich um die sprachliche Entwicklung von Kindern, indem sie die Familien in ihre Projekte mit einbeziehen. Es versteht sich von selbst, dass die migrantischen Kinder besonders von diesen Aktivitäten profitieren und das Entfallen von Sprach-Kitas ihnen es sehr erschweren wird, in der Gesellschaft zurechtzukommen.

Vorschläge, um gegen den Fachkräftemangel vorzugehen

Anfang 2023 beginnt die Tarifrunde im öffentlichen Dienst. Sie bietet uns eine Bühne, die Arbeitsbedingungen und unsere Forderungen in die Öffentlichkeit hineinzutragen. Für diese Tarifrunde müssen die Gewerkschaften ver.di und GEW die Kolleg:innen für eine starke Präsenz organisieren, um die Forderungen nach einem Inflationsausgleich und 500 € Sockelbetrag vollständig durchsetzen zu können. Denn der niedrige Organisierungsgrad im Sektor ist eine Hürde, um hohe Kampfkraft zu erreichen.
Die Tarifrunde bezieht sich hauptsächlich auf ökonomische Forderungen. Der Beruf muss besser entlohnt werden, doch die Entlastung braucht umfassendere Schritte, die mit politischen und strukturellen Maßnahmen einhergehen müssen.

Logischerweise sind Azubis die erste Quelle um neues Personal zu gewinnen. Doch die Ausbildungsgänge sind oft unbezahlt und dauern vier bis fünf Jahre. Eine lange Zeit, in der die Auszubildenden ohne Einnahmequelle auskommen müssen. Dies ist für viele einfach nicht möglich und so gehen potentielle Erzieher:innen, die den Beruf gern ausüben würden, in andere Bereiche. Das dreijährige praxisintegrierte Modell (Optiprax oder PiA) könnte als effektive Lösung gegen den Personalmangel wirken. Doch um vielen jungen Menschen die Ausbildung zu ermöglichen, müssen die Aufnahmebedingungen gelockert und die Ausbildung mit allen Abschlüssen ermöglicht werden. Zudem müssen die Gehälter realistisch den Lebenskosten der Azubis angeglichen werden. Das Ausbildungsgehalt variiert bundesweit, aber es bleibt zu niedrig angesichts der hohen Kosten in den Städten, was viele Azubis in eine finanziell prekäre Lage bringt.

Die Gruppen müssen verkleinert, die Vorbereitungszeiten erweitert und das Budget für Kitas erhöht werden, damit die Einrichtungen mit ausreichendem Raum und pädagogischen Materialien ausgestattet werden können, um der hohen Arbeitsbelastung entgegenzukommen.

Gleichzeitig braucht es eine Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden die Woche. Es klingt zunächst paradox, für einen Beruf mit hohem Personalmangel eine Arbeitszeitverkürzung zu fordern. Doch bereits jetzt arbeiten zahlreiche Kolleg:innen in Teilzeit ohne vollen Lohnausgleich. Diese Forderung ist notwendig, um die Beschäftigten zu entlasten, vor krankheitsbedingten Ausfällen zu schützen und vor allem, um die Kolleg:innen, die aus dem Beruf ausgestiegen sind, wieder zurückzugewinnen und Anreize für neue zu schaffen.

Eine weitere Forderung ist die Anerkennung aller im Ausland gemachten Abschlüsse. Viele Kolleg:innen aus dem Ausland haben Schwierigkeiten, ihren Abschluss anerkennen zu lassen oder sie werden auf den beruflichen Grad der Kinderpfleger:innen zurückgestuft. Das ist eine ungerechte Situation, die überwunden werden muss.

Zuletzt muss allen hier lebenden Menschen das Recht auf Arbeit zugänglich gemacht werden. Es ist ein Widerspruch, dass während in Krankenhäusern, Schulen und Kitas Personalmangel herrscht, viele Geflüchtete in Deutschland trotz jahrelangem Aufenthalt kein Recht auf Arbeit haben. Das Recht auf Arbeit bedeutet auch gleicher Lohn für gleiche Arbeit und Tarifvertrag für alle.

Das sind einige Forderungen, die solide Schritte für die Entlastung einleiten würden.

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