Wagenknecht-Partei schürt nationale Illusionen

19.01.2024, Lesezeit 9 Min.
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Bild: Deutscher Bundestag / Achim Melde

Zur Europawahl tritt Sahra Wagenknechts neue Partei mit einem Programm an, das die EU zurückbauen will. Mehr soziale Gerechtigkeit braucht man sich davon aber nicht erwarten.

In der vergangenen Woche wurde Sahra Wagenknechts neue Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht – Für Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW) offiziell gegründet. Zum ersten Mal soll die neue Partei bei der Europawahl im kommenden Juni antreten. Ein Entwurf für ein Europawahlprogramm liegt Teilen der Presse vor, ist jedoch noch nicht öffentlich zugänglich. Der Entwurf soll Ende Januar auf einem BSW-Parteitag diskutiert werden. Die Auszüge, die bisher bekannt geworden sind, überraschen wenig.

Ein souveränes Deutschland zwischen den USA und China

Alles in allem scheint es darum zu gehen, dass Deutschland eine möglichst souveräne Rolle auf der Weltbühne einnehmen soll. Dazu sollen alle zu großen Beschränkungen, die die EU Deutschland auferlegt, abgeworfen werden. So heißt es im Wahlprogramm, die Politik der EU sei bürgerfern, „abgehoben“ und „demokratisch kaum kontrolliert“. Alles, was „lokal, regional oder nationalstaatlich besser und demokratischer regelbar ist“, soll auch auf nationalstaatlicher Ebene geregelt werden. Es geht um einen „Rückbau der EU“, wie auch Der Spiegel titelt.

Mit dem Programm zur Schwächung der EU geht auch die Forderung einher, die Aufnahme weiterer Mitgliedsstaaten in das Bündnis zu stoppen. Unter anderem sollen also die Verhandlungen mit der Republik Moldau, Georgien und der Ukraine beendet werden. Das passt zu Wagenknechts Analyse, wonach die Ost-Expansion westlicher Bündnisse, die auch vor der Ukraine nicht haltzumachen scheint, den Ausbruch des Ukrainekrieges verursacht habe. Der Verzicht auf die europäische Integration jener Staaten soll wohl auch dazu beitragen, die Beziehungen zu Russland zu verbessern und einer „europäischen Sicherheitsarchitektur“ den Weg zu bahnen, an der auch Russland beteiligt sein soll.

Die Beziehungen zu Russland und China spielen bekanntermaßen eine besondere Rolle für das Wagenknecht-Bündnis. Für eine souveräne Rolle Deutschlands und Europas auf der geopolitischen Bühne sei es notwendig, dass Europa eine Art Vermittlerrolle zwischen den beiden rivalisierenden Blöcken der USA und Chinas einnimmt. Bisher sei die EU ein „Vasall der USA“, so der Programmentwurf, und die zu starke Bindung an die Vereinigten Staaten gefährde ernsthaft die wirtschaftliche Partnerschaft mit China. In diesem Sinn soll die EU auch auf einen Waffenstillstand in der Ukraine und Friedensverhandlungen mit Russland hinwirken. Dazu sei ein Stopp aller Rüstungsexporte in die Ukraine notwendig.

Neben dieser geopolitischen Neuorientierung will das Bündnis Sahra Wagenknecht auch mit der bisherigen Klimaschutzpolitik der EU Schluss machen. Die Partei lehne es ab, Bürger:innen durch Klimaschutzmaßnahmen „umzuerziehen“. So sollen beispielsweise CO2-Zertifikate abgeschafft und Verbrennermotoren unbefristet weitergenutzt werden. Bisher sieht die EU vor, ab 2035 quasi keine Verbrennermotoren mehr neu zuzulassen. Auch Öl- und Gasimporte aus Russland will das BSW wieder einführen.

Am ehesten EU-konform sind die migrationspolitischen Vorstellungen der neuen Partei. Sie ist für Asylverfahren an den EU-Außengrenzen oder in Drittstaaten. Außerdem soll schärfer gegen sogenannte Schlepper:innen vorgegangen werden. Gleichzeitig sollen Fluchtursachen bekämpft werden.

Spitzenkandidaten ohne Einigkeit

Das BSW-Programm soll Wagenknecht bei der Europawahl aber nicht selbst verkörpern. Sie sieht ihren Platz im Bundestag. Als Spitzenkandidaten gehen an ihrer Statt Fabio De Masi und Thomas Geisel an den Start.

De Masi war bis 2021 stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion im Bundestag und erwarb sich als Finanzpolitiker über die Parteigrenzen hinweg Anerkennung. Besonders seine Bemühungen um die Aufklärung von Finanzskandalen wie Cum-Ex oder Wirecard brachten ihm Bekanntheit. Er ist außerdem ein langjähriger Weggefährte Wagenknechts. Gemeinsam initiierten sie schon das gescheiterte BSW-Vorgängerprojekt „Aufstehen“. 2014 bis 2017 saß er bereits im Europaparlament. Auch wenn es durchaus noch einige Linke gibt, die De Masi schätzen, will er mit diesem Label nichts mehr zu tun haben. Auf der Bundespressekonferenz gestand er, aus einer politischen Traditionslinie zu kommen, „die im weitesten Sinne links ist.“ Nur verstünden viele Menschen darunter etwas anderes.

In den Verdacht zu geraten, besonders links zu sein – das kann seinem Nebenmann Thomas Geisel nicht passieren. Von 2014 bis 2020 war Geisel Oberbürgermeister von Düsseldorf. 2023 trat er nach 40 Jahren Mitgliedschaft aus der SPD aus. Auf dem linken Parteiflügel war Geisel dabei nicht zu finden. Im Mai vergangenen Jahres veröffentlichte Geisel ein kurzes Positionspapier, in dem er die Agenda 2010 in den höchsten Tönen lobte.

Dass sich dieses Duo noch als eine Fehlbesetzung herausstellen könnte, ließ sich auf der Bundespressekonferenz zur Parteigründung erahnen. Dort bat De Masi immer wieder darum, Geisels Antworten ergänzen zu dürfen, um sie dann vorsichtig zu relativieren. So erschien es dem Ex-Linken nötig zu betonen, dass es keinen Zweifel daran gebe, wie die beiden auf den Sozialstaat blicken. Darüber hätten sie sich lange ausgetauscht. Dann kritisierte De Masi, dass Hartz IV den Gewerkschaften das Kreuz gebrochen habe. Der Agenda-Fan Geisel verzichtete auf eine weitere „Ergänzung“.

Ein sozialistisches Europa oder ein „souveränes“ Deutschland?

Auch wenn das BSW sich gerne als grundverschiedene Alternative zur „Unvernunft“ der Ampelregierung darstellen möchte, bleibt es dieser als bürgerliche Partei doch immer nah verwandt. So ist das Ziel, das die gegenwärtige Bundesregierung mit der EU verfolgt und das Sahra Wagenknecht durch die Schwächung der EU verfolgen will, dasselbe: das Beste für den Wirtschaftsstandort Deutschland.

Für diese Bundesregierung und auch für ihre Vorgänger ist die EU ein Mittel, dem deutschen Kapital Zugriff auf den ganzen europäischen Markt und großes politisches Gewicht auf dem Kontinent zu sichern. Außerdem dient das Staatenbündnis dem deutschen und französischen Imperialismus als Mittel in der Staatenkonkurrenz über Europa hinaus. Deutschland und Frankreich haben international einfach mehr Gewicht, wenn zwei Dutzend weitere Staaten hinter ihnen stehen. Dafür ist der deutsche Staat auch bereit, bestimmte Zugeständnisse an die anderen europäischen Staaten zu machen. Mit der Macht, die der deutsche Imperialismus so errungen hat, stellt er sich meistens hinter die USA, weil er sich von einem transatlantischen Bündnis größere Vorteile erhofft als von einem Bündnis mit Russland oder China.

In der Bundesregierung ist der geo- und wirtschaftspolitische Kurs aber auch nicht unumstritten. Während die grüne Außenministerin Annalena Baerbock – wie der Oppositionsführer und Blackrock-Lobbyist Friedrich Merz (CDU) – überzeugte Transatlantikerin ist, gibt es besonders in den Reihen der SPD auch andere Töne. Olaf Scholz stand Ende 2022 wegen seines Besuchs beim chinesischen Staatschef Xi Jinping in der Kritik. Auch in der Bundestagsdebatte um die neue China-Strategie der Bundesregierung forderten die SPD-Vertreter:innen im vergangenen Herbst, im Dialog zu bleiben.

Das BSW schätzt die Lage Deutschlands etwas anders ein. Die Partei glaubt, dass das deutsche Kapital von einer stärkeren Öffnung Richtung China und Russland mehr zu gewinnen hat als vom Bündnis mit den Vereinigten Staaten. Womöglich hängt das damit zusammen, dass sie auf die Unterstützung jener Teile des deutschen Kapitals und des Kleinbürger:innentums rechnen, die historisch stärkere Verbindungen mit Russland und neuerdings mit China hatten und von so einer Neuorientierung nach Osten wirklich ökonomisch profitieren könnten.

Im Interesse der großen Mehrheit ist diese Ausrichtung nicht. Denn an der sozialen Krise kann auch eine Abkehr von den USA nichts ändern – und BSW-Gesichter wie Geisel zeigen deutlich, dass es der neuen Formation darum auch gar nicht geht. Ganz neu ist diese Illusion jedoch nicht. In der Krise der EU und des Euro um 2015 debattierten Linke in ganz Europa über die angeblichen Potenziale eines Austritts aus der Währungsunion. Schon damals beklagte Wagenknecht, dass es immer mehr Integrationsschritte gebe, die jede nationale Souveränität erledigen – als sei diese Souveränität ein Wert an sich.

Der Unterschied des BSW zu den pro-europäischen Parteien im Bundestag ist nicht prinzipiell. Sie verfolgen dasselbe Ziel, wählen aber einen etwas anderen Weg dorthin. Das heißt andererseits auch, dass es nicht die Aufgabe der deutschen Linken sein kann, die EU gegen Wagenknecht und Co. zu verteidigen. Die EU war von Anfang an ein Projekt des deutschen und französischen Imperialismus, um ihre Vormachtstellung in Europa zu besiegeln, und ist es bis heute.

Sie ist ein Zusammenschluss zur Durchsetzung wirtschaftspolitischer Maßnahmen wie Spardiktaten, Privatisierungen und Angriffen auf die Arbeitsrechte, im Interesse der großen Banken und Konzerne. Ihre Finanz-, Investitions- und Handelspolitik führt zur Verarmung ganzer Länder, insbesondere in Nordafrika. Sie ist ein militaristisches Bündnis, das mit Waffenlieferungen und Kriegseinsätzen seine eigenen Interessen durchsetzt, wie aktuell in der Ukraine, Israel und dem Jemen. Ihre Abschottungspolitik kostet Zehntausende im Mittelmeer das Leben.

Wer die vielbeschworene „europäische Idee“ eines vereinten, friedlichen und solidarisch kooperierenden Europas verwirklichen möchte, muss gegen die Europäische Union kämpfen. Diesem Europa des Kapitals müssen wir die Vision der Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas entgegenstellen. In Deutschland bedeutet das in erster Linie einen bedingungslosen Kampf gegen den deutschen Imperialismus und seine Hegemonie in Europa – genau das, wovon das Bündnis Sahra Wagenknecht uns abhalten möchte.

Die Europawahl findet in Deutschland am 9. Juni statt. Der Programmentwurf des BSW soll bei einem Parteitag am 27. Januar verabschiedet werden.

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