Von der Belästigung zum Frauenmord: Die Kette der Gewalt

01.02.2018, Lesezeit 9 Min.
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#MeToo machte erneut das ganze Ausmaß der Gewalt an Frauen sichtbar. Diese Gewalt hat System: Es handelt sich um eine ganze Kette der Gewalt, die mit "harmlosen", herabsetzenden Sprüchen anfängt und mit Morden endet. Das dient der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems.

Alle 26 Stunden wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Alle drei Minuten wird eine Frau vergewaltigt. Dies sind erschreckende Zahlen, die einmal mehr die Gewalttätigkeit dieser Gesellschaft aufzeigen. Wie kann irgendjemand angesichts dieser Statistiken behaupten, wir lebten in einer Welt ohne Frauenunterdrückung?

Die Gewalt, die tagtäglich an Frauen verübt wird, ist eine Kraft, die aus der Funktionsweise dieser Gesellschaft resultiert – und gleichzeitig die Weiterexistenz dieser Gesellschaft garantieren soll. Der Femizid – d.h. der Mord an Frauen, weil sie Frauen sind – ist dabei die äußerste Ausdrucksform eines Sexismus, der tief in den gesellschaftlichen Verhältnissen verwurzelt ist.

Warum sagen wir, dass Frauen ermordet werden, weil sie Frauen sind? Allein die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Laut der Statistik des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2016 wurden 158 Frauen von ihren Partnern ermordet – und 15 Männer von ihren Partnerinnen. Auch wenn die Gewalt, die Männer erleben, verurteilenswert und furchtbar ist, nimmt sie nie vergleichbare Ausmaße an. Denn ihr liegen nicht die selben strukturellen Bedingungen zugrunde, die Frauen ökonomisch abhängig machen und ihnen bestimmte verletzliche Positionen in der Familie zuordnen. Gewalt in der Familie ist also klar geschlechtsbedingt.

Überschriften von „Familiendrama“ und „Mord aus Leidenschaft“, oder der harmlos klingende Begriff „häusliche Gewalt“, wollen uns weismachen, dass es sich um tragische Einzelfälle handelt, ja dass vielleicht das Opfer sogar eine Mitschuld trug. Klingt Häuslichkeit nicht immer auch nach Gemütlichkeit und Rückzug? Dabei handelt es sich um ein zutiefst politisches, strukturelles Phänomen.

Denn diese Gewalt an Frauen hat ein Ziel: Sie soll den Status quo erhalten. Sie ist strukturell, weil sie aus den etablierten sozio-kulturellen Normen entspringt, die bestimmen, wie Frauen sich verhalten sollten. Sie wird als „legitime Bestrafung“ für diejenigen institutionalisiert, die sich diesen patriarchalen Vorgaben nicht unterwerfen. Denn auch wenn die Gewalt, wenn sie eine bestimmte Grenze überschreitet, juristisch verfolgt wird, bleibt doch beispielsweise das Verständnis für den „Frust“ des Mannes, der „seine“ Frau verliert oder einfach die Kontrolle über sich selbst. Die Männer, die das patriarchale Mandat ausüben, haben, wenn sie nicht über die Stränge schlagen, Verständnis zu erwarten.

Sexismus und Rassismus

Dabei wird in Deutschland nur weißen, deutschen Männern die Ausübung dieses Mandats zugestanden – alle anderen werden dafür hart bestraft und als „Gruppe der Täter“ typifiziert. Dies hat den Zweck, gerade die Gewalt einiger weißer Männer möglich zu machen, indem sie versteckt wird. Der Mythos der modernen, gewaltfreien Gesellschaft wird so aufrecht erhalten.

Doch die Gewalt finden wir nicht nur im Frauenmord. Er ist nur das letzte Glied in einer Kette der Gewalt, die aus dem Lächerlichmachen, dem Verdacht und der Kontrolle, der Einschüchterung, der Verurteilung der Sexualität und der Verhaltensweisen, die sich nicht der heterosexuellen Norm anpassen, besteht. Eine Kette der Gewalt, die sich in der Abwertung der Körper, die nicht den klassischen Schönheitsmodellen entsprechen, zeigt, ebenso wie im Abtreibungsverbot durch den Staat, der Vergewaltigung, dem sexualisierten Missbrauch und den Schlägen. Sie besteht aber auch aus der Gewalt durch die Kapitalist*innen: durch die Prekarisierung, durch das Outsourcing, durch die doppelte Bürde in Lohnarbeit und Haushalt und durch die Arbeitskrankheiten. Die Gewalt wird ausgeübt von den Kapitalist*innen und ihrem Staat, aber auch von Männern, die sich in diesem Moment zu Agenten des Kapitals in unseren Reihen machen.

Wir reden von einer Kette der Gewalt, weil diese Arten der Gewalt miteinander verbunden sind, sich gegenseitig ermöglichen und stützen und in der Subjektivität der Frauen miteinander in Verbindung stehen und einen Zusammenhang der Unterdrückung bilden.

Sie sind teils direktes Resultat der kapitalistischen Produktionsweise und seiner Arbeitsorganisation, teils Resultat einer sexistischen Ideologie, die sich auf der materiellen Basis des Kapitalismus und seiner Aufteilung der Menschen in Männer und Frauen als Ausdruck von Träger*innen verschiedener Arbeitsfunktionen und Formen der Ausbeutung entwickelt.

Gewalt an Frauen ist also kein bloßes Überbleibsel einer fernen feudalen Vergangenheit, sondern ein Mechanismus, der im kapitalistischen System ein konkrete Form annimmt und in der Aufrechterhaltung des Status quo einen konkreten Zweck erfüllt.

Kapitalismus und Sexismus

Marx und Engels haben aufgezeigt, wie das kapitalistische Fabriksystem Frauen einer in dieser Form neuen brutalen Form der Ausbeutung unterworfen hat. Noch viel mehr gilt das für das System der Sklaverei, ebenso Teil des kapitalistischen Systems. Feministinnen haben immer wieder auch auf andere Formen der Gewalt in der Entstehung des Kapitalismus hingewiesen: neben dem Kolonialsystem auch der Ausschluss der Frauen aus der den Lebensunterhalt deckenden Lohnarbeit. Auch die Hexenverfolgung gehörte zu den Grundsteinen des kapitalistischen Systems.

Das alles hat die Trennung einer produktiven von einer reproduktiven Sphäre zum Ziel. Der letzteren wurden Frauen zugeordnet – was nicht heißt, dass sie nicht auch noch für einen Lohn arbeiteten, sondern dass der Haushalt nun ideologisch der ihnen zugeschriebene Platz wurde. Dort sollten sie unbezahlt die kommende Generation von Arbeiter*innen „produzieren“ und die jetzige wiederherstellen – etwas, was sie nur durch massiven Zwang taten. Ein weitere Effekt – ebenso wie eine Bedingung – dieser Aufteilung war die Möglichkeit, den Frauen für ihre Lohnarbeit nur geringe Löhne zu zahlen – denn dies war ja nicht ihre „wahre“ Bestimmung.

Diese historisch gewachsene Form der Ausbeutung weiblicher Arbeit gilt bis heute und wird wie beschrieben aufrecht erhalten, notfalls eben mit Gewalt. Denn auch heute noch hat das Kapital ein Interesse daran, Frauen als die schlecht oder unbezahlten Produzentinnen von Arbeitskraft zu erhalten, und gewaltförmig diese Rollen in ihre Körper einzuschreiben.

Dazu kommt den Einfluss, den Gewalt auf die Subjektivität von Frauen hat. Die argentinische Sozialistin Andrea D’Atri schreibt dazu:

Jedes Mal, wenn eine Frau vergewaltigt, geschlagen oder ermordet wird, lernen Millionen Frauen, die überlebt haben, eine Lektion, die – unmerklich – ihre Subjektivität formt. Auch wenn in den Nachrichten der Frauenmord die Namen und Gesichter von einer einzelnen Frau und einem einzelnen Mann trägt, handelt es sich deshalb auch um ein Zahnrad in einer riesigen Maschine der Gewalt gegen Frauen, deren Ziel nicht nur der Tod der Opfer ist, sondern die Disziplinierung der Körper, der Begehren und des Verhaltens der Überlebenden.

Es geht also darum, die Subjektivität von Frauen auf eine bestimmte Art und Weise zu formen, die nützlich für das Kapital ist. Es zielt darauf ab, unsere Klasse, die Klasse der Ausgebeuteten, zu spalten, uns Frauen zu passivieren und die Überausbeutung weiblicher Arbeit, ebenso die unbezahlte wie die bezahlte, weiter zu ermöglichen.

Kapitalismus und Gewalt

Dabei erleben zwar Frauen aller Klassen Gewalt, sie ist aber in ihrer Zielrichtung letztlich auf die Kontrolle der Frauen der Arbeiter*innenklasse gerichtet, denn gerade ihre Körper sollen der kapitalistischen Kontrolle unterworfen werden. Und auch hier bestehen Unterschiede: So erleben nicht-weiße Frauen weitaus mehr Gewalt – im Alltag, bei der Arbeit, durch Gesetze, durch imperialistische Interventionen – während weiße Frauen diese Gewalt teilweise mit ausüben. Auch Frauen werden so weiter untereinander gespalten.

Deshalb nimmt der Kampf gegen Gewalt eine besondere Rolle ein: Im Kampf gegen Gewalt können diese Spaltungen überwunden werden, indem sie politisiert werden. Und auch die Passivierung wird überwunden, indem Frauen einen neuen Subjektstatus für sich erobern. Es ist kein Zufall, dass der Kampf gegen Gewalt an Frauen einer der zentralen Mobilisierungsmomente der zweiten Welle der Frauenbewegung war (in Deutschland unter dem Topos der “geschlagene Frauen”) und heute wieder ist, angesichts der „Ni Una Menos“-Bewegung in Lateinamerika, aber auch in Europa und den Vereinigten Staaten.

Wir können damit auch aufzeigen, dass die Gleichberechtigung, von der viele denken, sie sei in Deutschland erreicht, weit entfernt ist – und dass der Mythos einer gewaltfreien Gesellschaft ebenso ein Mythos ist. Die radikale Feministin Maria Mies sagte in den 80er Jahren dazu:

Durch die Konzentration auf männliche Gewalt gegen Frauen, die in der Vergewaltigung an die Oberfläche kommt, und durch den Versuch, dies zu einem öffentlichen Thema zu machen, haben Feministinnen ungewollt eines der Tabus der zivilisierten Gesellschaft berührt, nämlich, dass sie eine „friedliche Gesellschaft“ sei. Obwohl die meisten Frauen vor allem mit der Hilfe für die Opfer oder mit der Herbeiführung gesetzlicher Reformen beschäftigt waren, hat schon die Tatsache, dass Vergewaltigung jetzt zu einem öffentlichen Thema wurde, dazu beigetragen, den Schleier von der Fassade der sogenannten zivilisierten Gesellschaft zu reissen und ihre versteckten, brutalen und gewalttätigen Fundamente blosszulegen.

Wenn wir gegen Gewalt an Frauen kämpfen, dann zeigen wir außerdem auf, dass feministische Errungenschaften im Kapitalismus immer nur begrenzt sein können, weil sie die Grundlage der Gewalt nicht in Frage stellen. Gerade in Momenten der Krise zeigt sich, dass Fortschritte in diesem System immer in Frage stehen. So stieg beispielsweise die Zahl der Frauenmorde nach der Wirtschaftskrise im Spanischen Staat und in vielen anderen Ländern massiv an. Wir können die Rolle des Kapitals und des Staates, die hinter der Gewalt stecken, aufzeigen.

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