„Viele sagen, das sei ihr letzter Streik gewesen“

15.07.2015, Lesezeit 5 Min.
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// Der überraschende Abbruch des Arbeitskampfes bei der Post AG hat bei vielen Beschäftigen Frust hinterlassen. Ein Gespräch mit Sven Paschmann, Briefzusteller bei der Deutschen Post AG und Vertrauensmann der Gewerkschaft ver.di. //

Sven Paschmann (Name geändert) ist Briefzusteller bei der Deutschen Post AG und Vertrauensmann der Gewerkschaft ver.di.

Vier Wochen lang wurde bei der Deutschen Post AG gestreikt. Doch vergangenen Sonntag kam die überraschende Nachricht, dass es ein Ergebnis gebe. Wie waren die Reaktionen bei Ihren KollegeInnen?
Es gab Enttäuschung, Entsetzen und Wut, niemand hat verstanden, wie innerhalb von einem Wochenende diese 180-Grad-Wende von den ursprünglichen Forderungen hin zu diesem Abschluss gemacht werden konnte. Viele KollegInnen sagten, das sei ihr letzter Streik gewesen. Selbst den Betriebsräten, die uns das Resultat als Erfolg präsentieren sollten, war die Enttäuschung anzusehen. In mehreren Orten wurden spontane „Urabstimmungen“ durchgeführt, und 90 Prozent stimmten dagegen.

Auch in sozialen Medien laufen seit einer Woche hitzige Debatten unter PostlerInnen. Wie reagieren die GewerkschaftsfunktionärInnen?
Zuerst versuchten sie, sich an der Debatte zu beteiligen. Später ging es eher darum, die Diskussion abzuwürgen und die Vereinbarung als Erfolg hinzustellen. Zuletzt wurden offenbar nicht wenige Menschen von den verschiedenen ver.di-Facebook-Seiten geblockt – das heißt, sie hatten keinen Zugriff mehr auf die Kommentarfunktion. Auf der anderen Seite haben sich im Streik mehrere offene und von ver.di unabhängige Facebook-Gruppen gegründet. Dadurch gibt es erstmals überregional einen intensiven Austausch unter den Beschäftigten.

Eine Online-Petition fordert eine Urabstimmung über das Ergebnis. Wird es eins geben?
Das Grundproblem besteht darin, dass ver.di mit seiner hierarchischen und bürokratischen Struktur keinen Arbeitskampf von der Basis aus organisiert. Nach einem Abschluss ist Kritik unerwünscht. Die Führungsebene glaubt anscheinend, dass niemand außer ihr selbst die Situation realistisch einschätzen kann.

Am Höhepunkt des Streiks waren 32.000 PostlerInnen im Ausstand – eine Minderheit der 140.000 Beschäftigten. Hätte ver.di mehr mobilisieren können?
Es hätten sicherlich mehr Menschen mobilisiert werden können. Bei uns hier im Norden, also in Hamburg und Schleswig-Holstein, haben wir recht viel Aktive an der Basis – auch schon vor dem Streik. Das ist ein Grund dafür, dass wir hier die höchste Streikbeteiligung im ganzen Land hatten. Glaubwürdige und aktive Betriebsgruppen fördern die Aktivität an der Basis. Ich sehe auch eine Aufgabe darin, die Struktur der Gewerkschaft dahingehend zu verändern, dass AktivistInnen aus den streikstarken Gebieten mehr Einfluss bekommen.

Die Ausgliederung von BriefzustellerInnen in die DHL Delivery GmbHs ist ein schwerer Schlag gegen die traditionell starke gewerkschaftliche Organisierung bei der Post – Strukturen müssen neu aufgebaut werden. Warum hat die ver.di-Führung dem zugestimmt?
Weil sie keine Chance mehr gesehen hat, diese Ausgliederung zu verhindern. Dieses Thema war das wichtigste im gesamten Streik. Ver.di war sich bewusst, dass es hier um die Zerschlagung der Organisationsmacht der Gewerkschaft ging.

Die Einschätzung bei uns an der Basis ist deshalb auch nicht, dass wir von ver.di-FunktionärInnen verraten wurden, sondern dass der Streik so plötzlich und schnell aufgegeben wurde, weil man ein noch schlimmeres Desaster befürchtet hat. Nämlich, dass mit der anrückenden Ferienzeit und der ersten Lohnauszahlung am 15. Juli die Streikfront zusammengebrochen wäre.

Ob das so gekommen wäre, kann niemand sagen. In jedem Fall kam der Abbruch viel zu früh, er war völlig unvermittelt. Da hätte unbedingt eine Urabstimmung durchgeführt werden müssen. Dadurch hat nicht nur der Abschluss selbst die Gewerkschaft nachhaltig geschädigt, sondern noch viel mehr die Art, wie er zustande kam.

Gibt es Ideen von kritischen KollegInnen, wie es jetzt weitergeht?
Es gibt diverse Überlegungen von lokalen, regionalen und bundesweiten Treffen zur Auswertung des Streiks. Jetzt ist es wichtig, uns besser zu organisieren und zu vernetzen. Wir müssen uns verstärkt solidarisch auf andere Arbeitskämpfe beziehen, denn der verlorene Kampf hat uns auch gezeigt, dass die KapitalistInnenklasse in Zusammenarbeit mit dem Staat eine große Macht besitzt, Arbeitskämpfe zu zerschlagen, solange sie isoliert voneinander geführt werden.

Wir brauchen mehr politisches Bewusstsein. Bis zu 70 Prozent der Bevölkerung hat den Arbeitskampf der PostlerInnen unterstützt. Doch auf der anderen Seite gibt es diesen breiten nationalistischen Konsens im Krieg Deutschlands und der EU gegen die griechische Bevölkerung. Aber der Kampf der Griechen gegen die Zerschlagung jeglicher sozialer Mindeststandards ist der gleiche, wie unser Kampf gegen die Post AG.

Warum muss dieses Interview anonymisiert stattfinden?
In den Tagen nach dem Streik ist es zu zahlreichen Schikanen gegen Streikende gekommen. Viele KollegInnen wurden auf Arbeitsplätze mit anstrengenderen Bedingungen versetzt. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass Menschen, die sich kritisch über die ver.di-Linie äußern, im Fall von Maßregelung durch die Geschäftsleitung noch weniger mit gewerkschaftlichem Schutz rechnen können.

Dieses Interview erschien auch in der jungen Welt.

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