Über Optimismus und Pessimismus

31.12.2015, Lesezeit 3 Min.
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Im Jahr 1901 verfasste der erst 22-jährige Leo Trotzki folgende Zeilen über den Optimismus und den Zukunftsdrang der Revolutionär*innen. Welch passenden Worte zum Ausklang dieses Jahres 2015 – auf dass die Zukunft uns gehöre!

„Dum spiro spero! [Solange ich atme, hoffe ich!]

…Wäre ich einer der Himmelskörper, so würde ich völlig unbeteiligt auf diesen elenden Ball von Staub und Schmutz herabblicken… Ich würde die Guten und Schlechten in gleichem Maß bescheinen… Aber ich bin ein Mensch. Die Weltgeschichte, die für dich kaltherzigen Genießer der Wisschenschaft, für dich, du Buchhalter der Ewigkeit, nur ein unbedeutender Augenblick im Kommen und Gehen der Zeiten ist – für mich bedeutet sie alles! So lange ich lebe, werde ich für die Zukunft kämpfen, die strahlende Zukunft, in der der Mensch, stark und schön, Herr über den dahineilenden Strom der Geschichte sein wird, um seine Wasser dem grenzenlosen Horizont der Schönheit, der Freude und des Glücks entgegenzuführen!…

Das neunzehnte Jahrhundert hat in vieler Hinsicht die Hoffnungen des Optimisten erfüllt, noch öfter aber enttäuscht… Es hat ihn gezwungen, die meisten seiner Hoffnungen auf das zwanzigste Jahrhundert zu übertragen. Immer dann, wenn der Optimist einer scheußlichen Tatsache gegenüberstand, rief er aus: Was, und das kann an der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts geschehen! Wenn er von der harmonischen Zukunft wunderbare Bilder malte, so war die Szenerie immer die des zwanzigsten Jahrhunderts.

Und nun ist dieses Jahrhundert gekommen! Was hat es gleich zu Beginn gebracht?

In Frankreich den Giftschaum des Rassenhasses, in Österreich – nationalistische Streitigkeiten…; in Südafrika – den Todeskampf eines winzigen Volkes, das von einem Riesen hingemordet wird; auf der ‘freien Insel’ selbst – Triumphgesänge an die siegreiche Gier chauvinistischer Geschäftemacher; dramatische ‘Komplikationen’ im Osten! Rebellionen hungernder Volksmassen in Italien, Bulgarien, Rumänien… Haß und Mord, Hungersnot und Blut… Es scheint so, als ob das neue Jahrhundert, dieser gigantische Neuankömmling, vom ersten Augenblick seines Erscheines an nur darauf aus ware, den Optimisten in einen völligen Pessimismus und ein bürgerliches Nirwana hineinzutreiben.

-Nieder mit der Utopie! Nieder mit dem Glauben! Nieder mit der Liebe! Nieder mit der Hoffnung! Donnert das zwanzigste Jahrhundert inmitten der Gewehr- und Kanonensalven.

-Ergib dich, du sentimentaler Träumer. Hier bin ich, dein lang erwartetes zwanzigstes Jahrhundert, deine ‘Zukunft’.

-Nein, erwidert der ungebeugte Optimist: Du – du bist nur die Gegenwart.“

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