Über Haupt- und Nebenwiderspruch

04.05.2020, Lesezeit 7 Min.
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Mit dem Aufkeimen einer neuen weltweiten Frauenbewegung taucht die alte Debatte über Haupt- und Nebenwiderspruch wieder auf. Wie hängt es mit der Hegemonie der Arbeiter*innenklasse zusammen?

Viele Leute sagen, Kommunist*innen würden Frauenunterdrückung als ein Nebenwiderspruch abtun. Grundlage dafür ist die Theorie des langjährigen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), Mao Tse-Tung. Laut ihm bilden Proletariat und Bourgeoisie den Hauptwiderspruch der sozialistischen Revolution, alle anderen Widersprüche stehen unter ihrem Einfluss und werden von ihm bestimmt. Sie müssen wie die Glieder einer Kette nacheinander aufgelöst werden. Dazu zählt die Unterdrückung der Frau, aber auch die ökologische Frage und viele weitere. Es ist damit aber keineswegs so, dass Mao die Arbeiter*innenklasse für strategisch zentral hielte. Denn je nach der konkreten Situation oder Fragestellung kann ein anderer Widerspruch zum Hauptwiderspruch werden. In einem abhängigen Land wie China bildete der Imperialismus für Mao den Hauptwiderspruch, woraus sich für ihn die Möglichkeit einer Allianz mit der nationalen Bourgeoisie gegen die ausländische imperialistische Bourgeoisie ergab.

Hinzu kommt Maos These, dass unterschiedliche Widersprüche auf unterschiedliche Weise gelöst werden müssen. Grundlage dafür war der „revolutionäre nationale Krieg“. Ein Bündnis zwischen der nationalen Bourgeoisie und der Arbeiter*innenklasse gegen den Imperialismus, wie er sich in der sogenannten „Einheitsfront“ mit der Kuomintang verwirklicht hat. Die Kuomintang war die bürgerliche Partei Chinas, sie hatte sich in der Ersten Einheitsfront mit der KPCh gegen die nördlichen Militaristen und den Einfluss des westlichen und japanischen Imperialismus zusammengetan. In der Zweiten Einheitsfront kämpften sie gemeinsam gegen die japanische Besatzung.

Leo Trotzki vertrat hier eine gänzlich andere Linie. Er war der Meinung, dass in den wirtschaftlich unterentwickelten Ländern die Bourgeoisie gar nicht in der Lage war, die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution zu erfüllen, sondern die Arbeiter*innenklasse mit dem Mittel der „Permanenten Revolution“ die Masse der Bevölkerung anführen müsse, selbst um die bürgerlich-demokratischen Aufgaben zu erfüllen, und die Revolution dafür direkt in eine sozialistische übergehen müsse. Dies treffe in einem halbkolonialen Land wie China noch viel mehr zu als für Russland. Entsprechend war er ein scharfer Kritiker der klassenversöhnlerischen Politik der Komintern, die die chinesischen Kommunist*innen in eine tödliche Niederlage führte, als sie sich den bürgerlichen Nationalist*innen der Kuomintang unterordnete.

Maos These und ihre Anwendung für Deutschland

Mit dem Ende der Studierendenewegung von 1968 und der chinesischen Kulturrevolution fanden Maos Ideen auch in Deutschland Anklang. Weil Deutschland ein voll entwickeltes imperialistisches Land war, spielte der „revolutionäre nationale Krieg“ für die Gewinnung von Arbeiter*innen hier keine Rolle. Maos Anhänger*innen stützten sich deshalb auf die Arbeit in den Fabriken, um den Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit zu lösen. Aufgrund von Maos Losung, dass verschiedene Widersprüche nur durch verschiedene Methoden gelöst werden können, widmeten sie sich in den Fabriken allein dem ökonomischen Kampf, den sie mit revolutionären Floskeln schmückten. Die Thematisierung von Frauenunterdrückung und demokratischen Fragen wurde nicht bloß abgelehnt, sondern sogar als kleinbürgerlich stigmatisiert. Proletarisch war allein der ökonomische Kampf.

Die Apologet*innen dieser These verstanden sich dabei als die Erben des „klassischen Marxismus“ von Marx und Lenin. Dabei unterzog gerade Lenin in seinem Werk „Was Tun?“ dem Ökonomismus einer scharfen Kritik. Er bezeichnete ihn gar als „bürgerliche Politik der Arbeiterklasse“ (Lenin 1902: Was tun?). Ebenso hatten Marx und Engels nicht die Vorstellung, dass die Arbeiter*innenklasse allein durch den ökonomischen Kampf zur herrschenden Klasse aufsteigen könnte. In der Einleitung zur Kritik Hegelschen Rechtsphilosophie vertrat Marx den Standpunkt, dass die Klasse zum Repräsentanten des ganzen Volkes werden müsse, um sich selbst zu emanzipieren und von den Ketten der Herrschaft zu lösen. Wir sprechen in diesem Sinne von einer hegemonialen Strategie, in der die Arbeiter*innenklasse allen Unterdrückten ihre anführende Rolle beweist, die sie einnehmen kann, weil sie objektiv eine antagonistische Position gegenüber dem Kapital hat und die Gesellschaft mit einer sozialistischen Revolution auf internationaler Ebene neu strukturieren kann. Sie allein ist in der Lage, als ganze Klasse das Streikrecht herauszufordern, um in Deutschland einen politischen Streik am 8. März, dem internationalen Kampftag der Frauen, zu ermöglichen. Nur so kann die Abschaffung der Abtreibungsparagraphen 219 und 218a, die gesetzlich festgelegte Lohngleichheit für Männer und Frauen durchgesetzt und die Unterfinanzierung von Frauenhäusern aufgehoben werden.

Dort wo die maoistischen „K-Gruppen“ (oder „ML-Gruppen“) antiimperialistische und demokratische Politik machten, ordneten sie sich den kleinbürgerlichen und bürgerlichen nationalistischen Führungen unter. Sie waren solidarisch mit den antikolonialen Bewegungen, entwaffneten sie aber strategisch, da sie gemäß der Hauptwiderspruchs-Logik die nationale Befreiung vor die sozialistische Revolution stellten, nach ihrer Drei-Welten-Theorie – während sie in den deutschen Fabriken eine ökonomistische Politik betrieben. In der Umwelt- und der Friedensbewegung verzichteten sie auf ein hegemoniales Programm der Arbeiter*innenklasse und so löste sich auch der Großteil der maoistischen Bewegung in den deutschen Grünen auf.

Frauenunterdrückung und Revolution

Damit widmen wir uns der nächsten Frage: die Stellung der Revolution zum Kampf gegen Frauenunterdrückung. Der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz sagte in seinem Werk „Über den Krieg“ den viel zitierten Satz, dass Krieg nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Und was ist die sozialistische Revolution anderes als ein Krieg der einen Klasse gegen die andere?

Es stimmt, dass die Arbeiter*innenklasse nur mit einem hegemonialen Programm für die ganze Gesellschaft zur herrschenden Klasse aufsteigen kann. Aber es gibt keinen Automatismus, dass die Frauenunterdrückung nach der Revolution durch die Diktatur des Proletariats von selbst verschwinden wird. Ein hegemoniales Programm ist nicht bloß ein taktisches Mittel, um die Revolution zu gewinnen, sondern das Proletariat kann sich nur von den Ketten der Lohnsklaverei befreien, wenn es die gesamte Gesellschaft befreit. Allerdings braucht es schon eine sozialistische Revolution, um das Patriarchat zu besiegen. Nur auf Grundlage einer Vergesellschaftung der gesamten Produktion kann die Haus- und Reproduktionsarbeit, die überwiegend unbezahlt von Frauen geleistet wird, vergesellschaftet werden.

Viele Strömungen, die sich vom „Marxismus-Leninismus“ – ein Unwort des Stalinismus maoistischer Prägung, um seinen Bruch mit dem Internationalismus von Marx und Lenin zu verschleiern – abgrenzen, sind sich darüber einig, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung nicht auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden kann. Allerdings gibt es unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf die Revolution und die Zentralität der Arbeiter*innenklasse.

Oftmals existiert die Vorstellung, dass erst ein antipatriarchales Bewusstsein existieren muss, bevor die materielle Grundlage des Patriachats – die überwiegend von Frauen geleistete unbezahlte Reproduktionsarbeit – überwunden wird. Stattdessen soll diese gleichberechtigt von Männern und Frauen unbezahlt geleistet wird. Währenddessen können bürgerliche Frauen auf fremde Arbeitskraft zurückgreifen und Frauen als Putzkraft und Kindermädchen unter schlechten Konditionen beschäftigen. Dabei ist dem Kapital im Grunde genommen egal, ob die unbezahlte Haus- und Reproduktionsarbeit von Männern oder Frauen geleistet wird. Daraus resultiert die Annahme, dass das Patriachat auch innerhalb des Kapitalismus überwunden werden kann, durch die kritische Selbstreflexion von Männern. Statt die Fragmentierung der Arbeiter*innenklasse durch ein hegemoniales, das heißt anführendes und vom Kapital unabhängiges, Programm zu überwinden, soll dies über eine idealistische Aufklärungskampagne geschehen, um die Bedingungen für den gemeinsamen Kampf aller Ausgebeuteten und Unterdrückten zu schaffen. Weil aber unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktion keinerlei Hoffnung auf eine solche Entwicklung besteht, wird die Revolution auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben. Wie im Minimal- und Maximalprogramm kommt der Sozialismus nur in Sonntagsreden vor, es bleibt eine Etappen-Theorie.

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