Thüringen: Der Testballon Kemmerich und seine Bedeutung für das deutsche Regime

08.02.2020, Lesezeit 9 Min.
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Wahlabend Thüringen

Die Wahl des FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich mit AfD-Stimmen zum Thüringer Ministerpräsidenten macht die Krisenhaftigkeit des bürgerlichen Parteienregimes deutlich. Die Spielräume verengen sich, die Differenzen zwischen Bundes- und Landespolitik nehmen zu und die Parteispitzen verlieren die Kontrolle. Ein Blick auf die tieferen Dynamiken des politischen Erdbebens.

Bild: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Immer mal wieder kommt es zu leichten Beben im Thüringer Wald, doch für seine seismischen Aktivitäten ist der Freistaat Thüringen bundesweit nicht bekannt. Was am vergangenen Mittwoch in Erfurt geschah, lässt sich jedoch ohne weiteres als politisches Erdbeben bezeichnen, das die gesamte Bundesrepublik erschütterte. Das Epizentrum des Bebens war der Thüringer Landtag, der im dritten Wahlgang den FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich mit dem Stimmen von CDU, FDP und AfD zum neuen Ministerpräsidenten wählte.

Diese offene Kooperation zwischen den wichtigsten Repräsentanten der Bourgeoisie, der CDU und der FDP, mit der AfD wurde von vielen als „Dammbruch“ bezeichnet und löste eine Welle der Empörung aus. Auf großen Druck der Bundesparteien hin ließ sich Kemmerich zum Rücktritt überreden. Die Nachbeben setzten sich jedoch über die vergangenen Tage fort und können zu weiteren Verschiebungen der Kräfteverhältnisse und des Parteienregimes führen, dessen tiefe Krise durch das Erfurter Beben deutlich wurde.

Die Empörung über die Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten am Mittwoch war so verallgemeinert und reichte selbst bis in Teile der CDU hinein, dass man sich fragen kann, was sich die Landesverbände von CDU und FDP, hierbei besonders CDU-Landeschef Mike Mohring, bei diesem Manöver gedacht haben. Denn schnell wurde klar, dass das Abstimmungsverhalten der AfD von langer Hand geplant war und alle Parteien damit rechneten, dass die AfD ihr parlamentarisches Gewicht dafür einsetzen könnte, um Bodo Ramelow zu stürzen. So widersetzte sich die CDU-Fraktion der Aufforderung aus dem Konrad-Adenauer-Haus, sich zu enthalten, und stimmte gemeinsam mit der AfD im dritten Wahlgang für den FDP-Kandidaten. Ein Manöver, das sich aus der besonderen Mischung aus Antikommunismus und Nähe zur AfD erklären lässt, die so charakteristisch für die CDU ist.

Für die Höcke-AfD war die Wahl ein einziger Erfolg. Sie löste ihr Wahlversprechen ein, Rot-rot-grün zu verhindern, und konnte sich als effektives Mittel gegen linke Mehrheiten vor ihrer Wähler*innenbasis feiern lassen. Gleichzeitig machte sie deutlich, dass auch Teile der CDU und der FDP ihre Unterstützung anzunehmen bereit sind, wenn sie nicht anders können. So verkündete Alice Weidel stolz: „An der AfD führt kein Weg mehr vorbei!“ Dass sich gerade der faschistoide „Flügel“ um Björn Höcke diesen Erfolg einstreichen konnte, verschiebt die innerparteiischen Kräfteverhältnisse zu seinen Gunsten.

Die CDU offenbarte hingegen erneut die historische Krise, in der sie sich am Ende der Merkel-Ära befindet. Dabei drängt der rechte Flügel der Partei, vertreten durch die Werte-Union und die ostdeutschen Landesverbände, angesichts anhaltend schlechter Wahlergebnisse und Verlusten an die AfD auf einen weiteren Rechtsschwenk. Sie erhoffen sich, durch eine Zusammenarbeit mit der AfD ihr neoliberales und rassistisches Programm besser umsetzen zu können als mit SPD oder Grünen, und gleichzeitig sichere Mehrheitsverhältnisse zu generieren. So stand auch in Sachsen nach den Landtagswahlen eine mögliche Kooperation mit der AfD im Raum und in Sachsen-Anhalt arbeiteten die Parlamentsfraktionen von CDU und AfD bereits bei einigen Projekten zusammen.

Der riskante Vorstoß des CDU-Landesvorsitzenden Mike Mohring mit Unterstützung der FDP-Fraktion, durch AfD-Stimmen den einzigen Ministerpräsidenten der Linkspartei zu stürzen, der zudem über hohe Zustimmungswerte in Thüringen verfügt, ist als Testballon zu verstehen, mit dem er prüfen wollte, wie weit ihn die Bundespartei in seinem Rechtsschwenk gehen lässt. Noch am Mittwoch hatte sich die CDU-Fraktion für eine Minderheitsregierung mit punktueller Zusammenarbeit mit der AfD ausgesprochen. Eine solche wäre ein Präzedenzfall der Integration der AfD in das Regime gewesen, dem weitere gefolgt wären, immer wenn es die Kräfteverhältnisse erforderlich gemacht hätten.

Diese Strategie steht jedoch der Ausrichtung der CDU auf Bundesebene entgegen, die in Anbetracht des Zuwachses der Grünen und der bereits bestehenden Zusammenarbeit in mehreren Bundesländern auf eine zukünftige schwarz-grüne Bundesregierung hinarbeitet. Zwar verfügen die Grünen als bürgerliche Partei nicht über die gleichen Kontrollmechanismen in den Gewerkschaften wie der bisherige Koalitionsparter SPD, jedoch spielen sie eine ähnliche Rolle für die sozialen Bewegungen wie Fridays for Future oder die in der Jugend verbreitete Ablehnung gegen die AfD: nämlich als Instrument zur Erneuerung des Regimes.

In dem Sinne konnten die Grünen auch die massive Empörung der Öffentlichkeit und die spontanen Proteste von Tausenden im ganzen Bundesgebiet direkt nach der Wahl Kemmerichs für ihre parlamentarische Strategie nutzen, indem sie die CDU erfolgreich dazu drängten, Kemmerich zum Rücktritt zu bewegen. AKK, Merkel und Söder mussten erkennen, dass es sich bei einer solchen Landesregierung um einen reinen Pyrrhussieg handeln würde, der einer bundesweiten Regierungsoption mit den Grünen im Weg stehen würde. Deshalb scheiterte der Versuch: Der rechte Flügel der CDU ist zu stark, um es nicht zu versuchen, jedoch noch nicht stark genug, um sich letztendlich gegenüber der Parteispitze durchzusetzen.

Doch auch die CDU-Bundespartei bewies, wie wenig Kontrolle sie noch über weite Teile ihrer Partei besitzt. Erst nach der Sitzung des Koalitionsausschusses aus CDU/CSU und SPD in Berlin am Samstag trat Kemmerich endgültig zurück. Zuvor ging es tagelang hin und her. Der „Ostbeauftragte“ der Bundesregierung, Christian Hirte, der eher dem rechten Parteiflügel der CDU zugerechnet werden kann und der beispielsweise Abtreibungsgegner ist, hatte öffentlich die Wahl von Kemmerich gelobt. Um ihre Durchsetzungsfähigkeit zu beweisen, zwang Merkel Hirte ebenfalls noch am Samstag zum Rücktritt.

Nach dem Rücktritt Kemmerichs ist nun das wahrscheinlichste Szenario, dass Bodo Ramelow bei einer neuen Abstimmung im Thüringer Parlament in der kommenden Woche mit Stimmen von Linkspartei, SPD und Grünen bei Enthaltung von CDU und FDP zum Ministerpräsidenten gewählt. Daraufhin könnte er zu Neuwahlen aufrufen und währenddessen als geschäftsführender Ministerpräsident regieren. Dies fordert zumindest die Bundesregierung, um den Gesichtsverlust einzuschränken und die Legitimität zu stärken. Bisher weigerte sich jedoch die Landes-CDU, Neuwahlen mitzutragen, um den herben Stimmenverlust zu vermeiden, der ihnen drohen würde. Auch die FDP würde bei Neuwahlen ihre parlamentarische Repräsentation verlieren. Die Linkspartei hingegen würde von dem Zuwachs an Unterstützung in der vergangenen Woche stark profitieren und möglicherweise erneut eine absolute Mehrheit für Rot-rot-grün erzielen.

Zugleich hatte Ramelow am Vortag jedoch deutlich gemacht, dass seine absolute Priorität in der Herstellung und Sicherung der Regierungsfähigkeit liegt. In einem Interview mit dem MDR hatte er sich gegen sofortige Neuwahlen ausgesprochen, da es verantwortungslos sei, keine Landesregierung zu haben.

Dabei ist es genau diese Politik des „Verantwortungsbewusstseins“, die Ramelow seit Jahr und Tag heraufbeschwört hat, die den Aufstieg der AfD erst ermöglicht haben. Sie selbst sind durch ihre sozialliberale Politik im Interesse der Konzerne dafür verantwortlich, die absolute Mehrheit verpasst zu haben und damit den Manövern der rechten Parteien ausgeliefert gewesen zu sein.

Die Widersprüche in den traditionellen Parteien und besonders in der CDU sind ein Ausdruck der sich verschärfenden Widersprüche zwischen der Bundespolitik und der ostdeutschen Landespolitik und damit auch eine Krise des bundesrepublikanischen Föderalismus. Die Konsequenzen der kapitalistischen Restauration in Ostdeutschland drücken sich 30 Jahre nach der Wende in einer frappierenden sozialen Ungleichheit, Strukturschwäche und Chancenmangel aus, die den Nährboden für die Zunahme faschistischer Tendenzen bildet, die sich in rassistischen und antisemitischen Anschlägen wie in Halle und im Aufstieg der AfD widerspiegeln.

Während der Neoliberalismus im Osten (wie im Westen) die Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung massiv verschlechterte, verhalf er dem deutschen Kapital zu riesigen Gewinnen. Diese muss der deutsche Imperialismus in Folge seiner durch Wiedervereinigung und EU-Osterweiterung neu gewonnenen Stellung durch eine aggressivere Politik nach außen in Verbindung mit einer Veränderung des Produktionsschemas verteidigen, wie es CDU und Grüne in unterschiedlichen Varianten versprechen. Diese auseinanderklaffenden Bedingungen von ostdeutscher Landespolitik und Bundespolitik drücken sich in den Flügelkämpfen innerhalb der wichtigsten Partei der deutschen Bourgeoisie aus, deren Spielraum für Manöver zwischen Grünen und AfD sich immer weiter verkleinert. Im Falle von Thüringen scheiterte der Versuch, auf die AfD zuzugehen, angesichts diametral entgegengesetzter Machtverhältnisse im Bund. Doch wenn der Spielraum für eine Zusammenarbeit mit der AfD aktuell begrenzt ist, bedeutet das nicht, dass die Auseinandersetzungen darüber vorbei sind. Im Gegenteil kann der fortbestehende staatliche Rechtsruck sowie die neoliberale Politik einer möglichen schwarz-grünen Regierung die Existenzbedingungen der AfD weiter stärken.

Es ist daher von grundsätzlicher Bedeutung für die Arbeiter*innen, Jugendlichen, Frauen, LGBTI und Migrant*innen, nicht auf die bestehenden Institutionen und Parteien angesichts des Rechtsrucks zu vertrauen. Die Ereignisse der vergangenen Tage in Thüringen haben bewiesen, dass „R2G wählen“ kein Garant dafür ist, den Aufstieg der AfD zu verhindern. Und auch wenn Neuwahlen die Linkspartei auf Wahlebene wahrscheinlich stärken werden, was sogar eine rot-rot-grüne Perspektive bundesweit wahrscheinlicher machen könnte, stellt das keine progressive Perspektive dar, sondern dient einzig und allein einer Restabilisierung und Erneuerung gerade desjenigen Regimes, dass die AfD überhaupt erst hervorgebracht hat.

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