Streikhauptstadt Frankreichs: Studierende und Arbeiter*innen kämpfen gemeinsam in Le Havre

08.06.2016, Lesezeit 8 Min.
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Le Havre ist das Herz der Streiks in Frankreich gegen die Regierung Hollande. Wir interviewen Sarah Carah, die gemeinsam mit Pariser Studierenden dorthin gereist ist, um einen intensiven Tag des Klassenkampfes zu erleben.

Im Morgengrauen des 26. Mai fuhr eine Gruppe Pariser Studierender in zwei Autos fast 200 km bis nach Le Havre, der maritimen Stadt im Nordwesten Frankreichs. Ein Weg, der sie zur „Streikhauptstadt“ der französischen Arbeiter*innenklasse brachte, wo die Hafenarbeiter*innen an vorderster Front stehen.

Sarah studiert Politikwissenschaften an der Universität Paris 8 und erzählt uns mit großer Emotion, wie die Idee zur Fahrt entstand. „In Paris sind die Universitäten wegen des Semesterendes geschlossen, aber alle Studierenden, die sich in den letzten Monaten mobilisiert haben, suchen nach Wegen, mit der Mobilisierung weiterzumachen und die Streiks der Arbeiter*innen zu unterstützen. Deshalb haben wir diese Fahrt nach Le Havre vorgeschlagen, eine sehr proletarische Stadt, die die Streikhauptstadt der Bewegung ist.“

Mit dem Ziel der Koordinierung zwischen verschiedenen Städten, verschiedenen Sektoren im Kampf, zwischen Studierenden und Arbeiter*innen, haben die Pariser Studierenden in einer Versammlung die Notwendigkeit diskutiert, in diese nordfranzösische Stadt zu fahren.

„Genau in diesem Moment gab es Treibstoffknappheit durch den Streik in den Raffinerien, deshalb war das kompliziert, aber – Sarah lacht – das war eine positive Komplikation.“ Die Delegation bestand aus neun Studierenden verschiedener Universitäten und einem Mitglied der „Generalstreik-Kommission“ von Nuit Debout, um koordiniert zu agieren.

„Wir fuhren aus Paris los und kamen um 5 Uhr früh an, um an dem einheitlichen Treffen aller Sektoren im Kampf in Le Havre teilzunehmen. Sie hatten einen Treffpunkt auf einem Platz ausgemacht, um die Schritte zu debattieren, die sie während des Streiktages durchführen wollen. Wir haben uns beteiligt und die Arbeiter*innen im Kampf bei den verschiedenen Aktivitäten den ganzen Tag über begleitet“, erinnert sich Sarah.

Eine Stadt wird vom Streik bewegt

Le Havre ist eine Stadt, die diejenigen beeindruckt, die sie zum ersten Mal besuchen. Vollständig durch Bombardements im Zweiten Weltkrieg zerstört, wurde sie danach wiederaufgebaut. Unter der Leitung von Architekt Auguste Perret wurde das Stadtzentrum neu errichtet, welches vor einem Jahrzehnt zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Die Stadt beherbergt den zweitgrößten Hafen von Frankreich, ganz in der Nähe der Normandiebrücke. Drei Jahrzehnte lang wurde sie von der Kommunistischen Partei Frankreichs regiert und behielt eine tiefgründige proletarische Tradition bei, die sich in diesen Tagen der Streiks und Mobilisierungen neu erfindet.

„Zum Beginn des Streiktages haben wir mit den Arbeiter*innen die Normandiebrücke direkt neben dem Hafen blockiert, eine riesige Brücke mit viel Auto- und Lastwagenverkehr. Interessant war, dass an dieser Blockade viele Arbeiter*innen verschiedener Sektoren teilgenommen haben: die Arbeiter*innen der Raffinerien, des Gesundheitssektores, die Jugend von Le Havre, die Arbeiter*innen einer Tabakfabrik und viele andere. Die Hafenarbeiter*innen haben zeitgleich den Hafen blockiert.“

Für Sarah war das Beeindruckendste, wie natürlich diese Verbindung der Kämpfe zwischen den verschiedenen Sektoren stattfand. „In Paris sind wir bisher noch nicht auf diesem Niveau angekommen“, erklärt sie. „In Paris gibt es den Streik der Briefträger*innen, der Eisenbahner*innen und anderer Sektoren, aber es gibt bisher noch nicht viele Situationen, wo sich die Arbeiter*innen verschiedener Sektoren treffen und alle gemeinsam diskutieren, was sie an einem Streiktag machen wollen.“

Die Kraft der Arbeiter*innenklasse

Die Demonstration begann an diesem Tag mit der Ankunft der verschiedenen Sektoren von Arbeiter*innen und Jugendlichen, aber alle warteten darauf, dass der Block der „Docker“, der Hafenarbeiter*innen, ankommen würde.

„Das war ein großartiges Gefühl, das war etwas sehr starkes. Sie kamen mit ihren roten CGT-Westen, trommelten, marschierten organisiert in einem großen Arbeiter*innenblock. Was uns beeindruckte, war, dass die Hafenarbeiter*innen auf ihrem Weg Lärmgranaten zündeten, aber um sie herum gab es überhaupt keine Polizei. Und wir aus Paris waren davon sehr überrascht und fragten uns: ‚Was passiert hier?‘ Denn in Paris ist die Polizei bei den Demonstrationen einfach überall.“ Sarah ergänzt, dass die Kraft und Organisation der Hafenarbeiter*innen zum großen Teil verhindert, dass die Polizei so agiert wie in Paris.

Der bewegendste Moment kam ein wenig später. Als die Demonstration den Hauptplatz vor dem Rathaus erreichte, passierte etwas Unerwartetes. Ein Mitglieder CGT übergab ihnen das Mikrofon, damit sie vor den zehntausenden Hafenarbeiter*innen, Raffineriearbeiter*innen und Arbeiter*innen anderer Sektoren etwas sagen.

„Meiner Meinung passierte das deshalb, weil in Le Havre, aber auch in anderen Orten in Frankreich, ein Willen zur Koordination und zum Erfahren, was in anderen Städten passiert, existiert. Es gibt eine Sensibilität in der französischen Arbeiter*innenklasse, die es wichtig findet, dass die Jugend, die Studierenden dabei sind und dass es Koordinierung gibt. Diese Sensibilität existiert und ich glaube, dass sie uns deshalb das Mikrofon gegeben haben, damit wir etwas sagen. Unsere Intervention wurde sehr bejubelt.

„Danach luden uns die Arbeiter*innen zu einer Vollversammlung aller Sektoren der Stadt ein, wo etwa 150 Personen debattierten, wie der Streik fortgeführt werden und wie die Koordinierung vorangetrieben werden kann.“

Der Streiktag endete mit dem Austausch von Telefonnummern, um den Austausch aufrechtzuerhalten, und der Rückkehr nach Paris, um dort die Erfahrung an den Rest der Studierenden weiterzugeben.

„Das war sehr bewegend. Das, was ich in dort gesagt habe, habe ich auch gefühlt: die Kraft der Arbeiter*innenklasse. Wir sind Studierende, wir können zu Demonstrationen gehen, besetzen, schreien – aber das wirklich Beeindruckende ist die Kraft der Arbeiter*innen im Streik. In den Universitäten gibt es eine theoretische Diskussion: Es gibt Leute, die sagen, dass die Arbeiter*innenklasse tot ist, dass die Streiks für nichts mehr gut seien. Und wir haben ein Gegenbeispiel, einen großen Beweis, dass dieser Diskurs falsch ist.“

Die Freude des Zusammenseins

Wir sprachen mit Sarah am 7. Juni. Währenddessen geht in Paris die Bewegung weiter: Die Streiks der Eisenbahner*innen gehen schon eine Woche und auf jedem Bahnhof gibt es Vollversammlungen der Eisenbahner*innen. An verschiedenen Orten sind Streikkomitees zur Organisierung entstanden.

Die Studierenden von Paris 8 befinden sich in der Nähe einer Maschinenwerkstatt der Eisenbahner*innen und begleiten die aktivsten Arbeiter*innen bei ihren Aktionen. Sie waren in der Vorwoche bei einer Raffinerie und helfen bei der Organisierung einer Streikkasse zur Aufrechterhaltung des Kampfes. Sie haben gemeinsam, Arbeiter*innen und Studierende, an verschiedenen Demonstrationen, Gleisblockaden und Mobilisierungen teilgenommen. Auch die Arbeiter*innen der U-Bahn und die Müllarbeiter*innen sind im Streik. Zwei Mülldepots in den Vororten von Paris sind blockiert. Das kann für die Regierung kurz vor der Fußball-Europameisterschaft sehr gefährlich werden. Am Freitag werden auch die Pilot*innen von Air France dazustoßen.

Die Regierung antwortet der Bewegung mit Drohungen, mit einer Hetzkampagne und mit viel Repression. „In diesen Tagen werden Gerichtsprozesse gegen viele Aktivist*innen durchgeführt, jeden Tag gibt es so einen Prozess und jeden Tag gibt es ein*en Genoss*in, die Gefahr laufen, im Knast zu landen.“

Aber die Bewegung verlangsamt sich nicht: Die Eisenbahner*innen, die U-Bahner*innen, die Pilot*innen, die Müllarbeiter*innen, die Studierenden – sie alle reden vom Beginn der EM und der Idee, der Regierung die Party zu vermasseln.

Denn die Angst der Regierung ist die Freude der Demonstrant*innen. Als das Interview fast zu Ende ist, teilt Sarah mit, was sie am selben Morgen fühlte, als sie an einer gemeinsamen Aktion mit den Eisenbahner*innen teilnahm:

„Das Beeindruckendste war die Freude, die wir spürten, weil wir alle zusammen waren, weil es Arbeiter*innen verschiedener Bahnhöfe gab, die sich nicht untereinander kannten und trotzdem in einer gemeinsamen Aktion waren, etwas sehr Starkes. Ein Gefühl, dass wir zusammen sind, dass wir viele sind, und dass wir gewinnen werden.“

Am Freitag um 18:30 Uhr findet in der Hermannstraße 48 in Berlin eine Podiumsdiskussion über die Streikbewegung in Frankreich statt, bei der Sarah Carah per Videobotschaft teilnehmen wird.

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