Stonewall was a Riot: Aus Krawallen werden Bewegungen

29.06.2020, Lesezeit 8 Min.
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Als „Pride Month“ ist der Juni dem Gedenken an den Stonewall-Aufstand gewidmet. 51 Jahre nach Stonewall brechen erneut im Juni Krawalle aus. Kritisiert werden sie ausgerechnet von queeren Vertreter*innen der Oberschicht – dabei beweisen gerade Stonewall und die LGBTQI+-Bewegung, welche befreiende Macht der Aufstand den Unterdrückten verleiht.

Bild: Sylvia Rivera und Marsha P. Johnson, Anführer*innen des Stonewall-Aufstands

Da war dieses kollektive Gefühl: Wir hatten die Schnauze voll von dieser Scheiße. Es war nichts Greifbares; nichts, was man abgesprochen hatte. Es war mehr so, als ob alles, was die vergangenen Jahre passiert war, sich an diesem bestimmten Abend, an diesem bestimmten Ort, kristallisierte. Es gab keine organisierte Demonstration, wir wollten keinen gemütlichen Abendspaziergang, der den Cops nur eine weitere Chance geboten hätte uns zu drangsalieren – statt dessen haben wir ihnen die Stirn geboten, zum ersten Mal auf eine kämpferische Weise. Und das war unser Überraschungsmoment. Die Cops haben damit nicht gerechnet. Es lag etwas in der Luft – eine längst überfällige Freiheit, die wir entschlossen waren zu verteidigen. Es nahm verschiedene Formen an, doch wir hatten einen unausgesprochenen Konsens: Diesmal lassen wir uns nicht vertreiben. Und wir ließen uns nicht vertreiben. (Michael Fader, ein Stonewall-Veteran)

Diese Worte könnten genau so auch von den Schwarzen Jugendlichen gesagt, gemeint und gefühlt werden, die Gerechtigkeit für George Floyd und ein Ende der Polizeigewalt fordern, in Minneapolis und in den ganzen USA.

Während wir diese Zeilen schreiben, widersetzen sich Menschen im ganzen Land den Ausgangssperren, angeführt von jungen Schwarzen.

Sie trotzen Polizei und Nationalgarde, zerbrechen Vitrinen und Ladentüren. All das geschieht vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie, die überdurchschnittlich vielen Schwarzen das Leben kostet. Im ganzen Land stellen sich Menschen Tränengas, Polizeiknüppeln und rechten Demonstrant*innen entgegen. Im ganzen Land sagen sie damit: „Wir haben die Schnauze voll!“

Der Monat Juni ist als „Pride Month“ dem Gedenken an den Stonewall-Aufstand im Juni 1969 gewidmet – der Geburtsstunde der LGBTQI+-Bewegung.

Die gut situierten, weißen LGBTQI-Personen, die sich gegenwärtig für ein Ende der „Gewalt“ aussprechen, haben daran wohl zu knabbern: der Grundstein für den Kampf um ihre Rechte wurde in einer Straßenschlacht gelegt.

Das Wort „Straßenschlacht“ mag polemisch sein. Es klingt nach hirnlosen Massen, die wahllos alles um sich zerstören. Es klingt nach weißen Hooligans nach dem Spiel (die übrigens vergleichsweise wenige Repressionen durch die Polizei befürchten müssen).

Das ist nicht zu vergleichen mit einem eigenmächtigen Aufstand von queeren oder nicht-weißen Menschen, die besonders unter kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung zu leiden haben. Der Aufstand ist ein Schrei der jahrelang aufgestauten Scham, Wut und Furcht. Er ist die Explosion des Leids aus Jahrhunderten der Unterdrückung.

Toni Morrison fand folgende Worte: „Was mich am meisten an den Aufständischen überrascht hat war die lange Zeit, die sie damit gewartet hatten. Ihre Zurückhaltung. Nicht ihre Spontaneität, sondern ihre Zurückhaltung. Sie haben so lange auf Gerechtigkeit gewartet, und es kam nichts. Niemandem scheint das auch nur aufgefallen zu sein.“

Ähnliches formulierte CLR James: „Wenn Geschichte so geschrieben wird, wie sie es sollte, wird es die Mäßigung und lange Geduld der Massen sein, über die sich die kommenden Generationen wundern werden – und nicht etwa das Aufbegehren selbst.“

Menschen wie Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera haben Stonewall mit entfacht: nicht-weiße trans Frauen und Sexarbeiter*innen, die in permanenter Angst vor der Polizei leben mussten. Sie haben sich lange genug ducken müssen. In einem zeitgenössischen Artikel wurde Stonewall wie folgt beschrieben: „Schwule und Lesben, Prostituierte, Kinder, die Ausbeutung und Gewalt von Mafia und Polizei erfahren haben – ihre Rache richtet sich gegen die Quelle der Unterdrückung.“ Sie warfen Steine auf die Polizei, zündeten Mülleimer an und kämpften gegen die Cops, um Festgenommene zu befreien.

Ein Stonewall-Veteran, Mark Segal, erinnert sich:

Wir waren in dieser Nacht so glücklich, zurück zu schlagen. Das haben wir nie zuvor getan… Wir hatten beschlossen, alle Ketten der Repression abzuwerfen. In dieser Nacht war die Polizei ein Symbol für die Unterdrückung durch die Religion, die Familie, die Kirche – für jeden einzelnen Teil der Gesellschaft, der uns hasste.

Über sechs Tage zogen sich in den Straßen Manhattans die Schlachten zwischen Polizei und LGBTQI+. Linke Gruppen, unter anderem Sektoren der Black Panther Party, die Young Lords und viele andere kamen und unterstützten.

Aus den Stonewall-Aufständen ging die Gay Liberation Front (GLF) hervor – eine Bewegung gegen Polizei, staatliche Bevormundung, Kirche und patriarchale Familie.

Nach Stonewall schienen die Queers verändert. Der Dichter Alan Ginsberg schrieb: „Die Leute dort waren so schön – sie haben diese verwundete Ausstrahlung abgelegt, die sie vor zehn Jahren noch hatten.“

Der GLF hat nicht nur für die Rechte von Homosexuellen gekämpft. In der GLF-Zeitung „The Rat“ (die Ratte) wurde der Geist der Bewegung zusammengefasst: „Wir sind eine revolutionäre Gruppe von Homosexuellen, die aus folgender Erkenntnis heraus gegründet wurde: Eine vollständige sexuelle Befreiung für alle Menschen kann nicht ohne die Abschaffung bestehender sozialer Institutionen zustande kommen. […] Wir identifizieren uns mit allen Unterdrückten: Vietnam und der Dritten Welt, den Schwarzen, den Lohnabhängigen … all denen, die von dieser abscheulichen kapitalistischen Ordnung unterdrückt werden.“ Und das war vielleicht eines der mächtigsten Dinge, die Stonewall hervor brachte – eine umfassende Kritik des gesamten Gesellschaftskonstrukts und der Wunsch, alle Leidtragenden gegen die Polizei und den kapitalistischen Moloch namens Vereinigte Staaten zu vereinen.

51 Jahre sind seit Stonewall vergangen. Und obwohl bereits ein schwuler Mann Präsidentschaftskandidat werden konnte, attackiert und tötet die Polizei noch immer queere Menschen. Erst im vergangenen Monat wurde Tony McDade getötet, ein schwarzer trans Mann.

Auf der anderen Seite sponsern große Konzerne Pride-Paraden, Menschenrechtskampagnen veranstaltet Galas für viele Tausende Dollar. Schwule weiße Männer aus wohlhabenden Verhältnissen steigen auf in die höchsten Sphären der Macht und zelebrieren scheinheilig ihren „Pride“. Sie verraten das kämpferische Erbe der Bewegung, wenn sie gegen die Aufstände wettern, deren Zeugen wir sind.

Der Großteil der queeren Menschen jedoch, insbesondere die nicht-weißen unter ihnen, leidet verstärkt unter der Corona-Krise: Wir sind häufiger von Obdachlosigkeit und prekären Arbeitsbedingungen betroffen und haben zugleich weniger Zugang zu medizinischer Versorgung – ein tödlicher Teufelskreis in Zeiten der Corona-Krise.

Trans Personen ohne Papiere haben ein statistisch höheres Sterberisiko in Auffanglagern. Nicht-weiße queere Personen sind nachweislich häufiger von Polizeigewalt betroffen. Wir müssen alle, die jetzt auf die Straßen gehen, als Verbündete im Kampf gegen das selbe System sehen.

51 Jahre nach Stonewall erleben wir neue Schlachten – „Schlachten“ im besten Sinne des Wortes. Die Bewegung richtet sich gegen die Brutalität der Polizei, angeführt von Schwarzen Jugendlichen, die, genau wie die Stonewall-Veteran*innen, beschlossen haben, die Fesseln der Unterdrückung abzuschütteln. Die Gerechtigkeit für George Floyd hat symbolischen Charakter in diesem rassistischen, ungerechten System.

Eine ganze Generation lehnt sich auf – eine Generation, die arbeitslos und unterbezahlt ist, im Studium Schuldenberge anhäufen musste – während Jeff Bezos kurz davor ist, der erste Billionär der Welt zu werden. Diese Generation hat Wells Fargo, Target und die Polizei ins Visier genommen. Wir wissen, dass unsere Leben mehr wert sind als ihre Profite. Wir wissen, dass die wirkliche Gewalt von diesem rassistischen, kapitalistischen Staat ausgeht – ausgerufen auf geraubtem Land, nach einem Genozid an den Indigenen; aufgebaut mit blutiger Sklavenarbeit. Wir wissen, wer die wirklichen Plünderer sind: Imperialist*innen, die Staatsstreiche organisieren um ihre Profite zu sichern; Bosse, die unsere Arbeitskraft ausbeuten, um Millionen anzuhäufen.

Und jetzt erfährt die junge Generation eben dieses kollektive Gefühl: Sie erlebt, wie es ist, der Polizei entgegen zu schreien: „Wir haben die Schnauze voll!“. Sie lernt ihr zu trotzen, die Straßen zu übernehmen und Barrikaden zu bauen. Unsere Generation weiß, dass ihr Aufstand berechtigt ist.

Stonewall hat es bewiesen: Ein solcher Aufstand gegen Polizeigewalt kann die Geschichte verändern. Und ich bin überzeugt, dass auch die aktuellen Schlachten ihre Spuren in der Geschichte hinterlassen werden. Aber ein Aufstand ist keine Revolution und vereinzelte Aufstände sind keine Lösung. Die arbeitende Klasse und alle Unterdrückten müssen ihre Kräfte vereinen, um diesem System etwas entgegen setzen zu können. Gemeinsam haben sie die Macht, die Maschinerie der ausbeuterischen Produktion still zu legen. Ein System, das uns durch Armut und Ungleichheit, Rassismus und die Klimakatastrophe tötet, verdient selbst den Tod. Wir haben ein Recht darauf, uns im Aufstand gegen den Kapitalismus zu verteidigen; wir sind es uns wert, uns von ihm zu befreien.

Dieser Artikel erschien im Orginal auf Englisch bei Left Voice.

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