„Sozialismus oder Barbarei“ ist keine Diagnose, sondern eine Aufforderung zum Handeln

23.03.2020, Lesezeit 15 Min.
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In diesen unheilvollen Tagen, während die Hyper-Information das Denken trübt und die Regierungserklärungen mit astronomischen, kaum zu verarbeitenden Zahlen gespickt sind, gibt es viele - nicht nur medizinische - Diagnosen über diesen von einem Virus angegriffenen Weltkörper. Aber was ist die empfohlene Behandlung? Ein Kommentar aus Barcelona von unserer Korrespondentin Andrea D'Atri.

Vor einigen Tagen – in Zeiten einer Pandemie eine Ewigkeit – betitelte der Journalist und Gründer von Podemos, Juan Carlos Monedero, seine Kolumne in der Zeitung Público mit der berühmten Losung der Revolutionärin Rosa Luxemburg: „Coronavirus: Sozialismus oder Barbarei“. Niemals zuvor war dieses Zitat angebrachter als in diesen Zeiten. Mehr als 10.000 Tote und 240.000 (bestätigte) Infizierte weltweit sind dunkle Zahlen, mit denen die Staaten außerordentliche Maßnahmen begründen, während der Bevölkerung das Recht auf Selbstbestimmung vorenthalten und sie aufgefordert wird, ohne zu Hinterfragen zu gehorchen – unter der Androhung, von ihren verängstigten Mitmenschen praktisch gelyncht zu werden, eine Geldstrafe zu zahlen oder eingesperrt zu werden.

Mit der unerhörten Perfektion, die die neuen Technologien des 21. Jahrhunderts erlauben, werden mittelalterliche Maßnahmen wie massive und wahllose Einsperrungen ergriffen, die ohne Gegenstimmen vereinbart werden, nachdem eine massive Propaganda der Angst verbreitet wurde. Die gleiche Methode des 14. Jahrhunderts wird mit gestreamten Videokonferenzen erträglicher. Aber es ist unvorstellbar, dass wissenschaftliche und technologische Fortschritte nicht mit derselben Geschwindigkeit angewandt werden, um die Bevölkerung umfassend zu testen und – als Teil eines kohärenten integralen Plans – rationale Isolierungsmaßnahmen zu ergreifen, die verhindern würden, dass ein größeres Chaos als das bereits provozierte entsteht.

Es wird uns gesagt, dass so etwas unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht möglich sei. Das gesundheitliche, soziale und wirtschaftliche Chaos, das bereits entstanden ist, beginnt dort. Es hat sich gezeigt, dass der „Patient Null“ dieser Pandemie kein unverantwortlicher Tourist dieser oder jener Nationalität ist, sondern die Demontage der öffentlichen Gesundheitssysteme, die – wie so viele andere Bereiche – von den Kürzungen nach der Krise von 2008 betroffen waren, sowohl in Spanien als auch in anderen Ländern der Welt.

Der Patient Null ist der Kapitalismus

Aber ich schreibe unter Ausgangssperre von einer Wohnung in Barcelona aus. Lasst mich also zunächst darauf hinweisen, dass in einem Jahrzehnt der Kürzungen seit jener Krise, als der kapitalistische Staat für die Rettung der Banken und des Großkapitals sorgte – im Tausch gegen den Sturz von Millionen Menschen ins Elend –, die Investitionen im Gesundheitswesen um 21 Milliarden Euro und die Zahl der Ärzt*innen um 9.000 Fachkräfte verringert wurden; 5.000 Betten wurden abgebaut und 80.000 Pflegekräften und Arzt*innen wurde den Gang zur Arbeitsagentur gezeigt.

Die private Gesundheitsversorgung macht jährlich 30 Milliarden Euro Umsatz. Um nur die Gruppe Quirón Salud zu erwähnen: Sie betreiben 43 Krankenhäuser, 39 Tageszentren, haben ein Personal von 35.000 Mitarbeiter*innen und bauen zur Zeit ein hochmodernes 40 Millionen Euro teures Protonentherapie-Onkologiezentrum. Dasselbe können wir uns im internationalen Maßstab vorstellen.

In Spanien wurde bereits der sofortige staatliche Eingriff in den gesamten privaten Sektor, um koordiniert mit dem öffentlichen Sektor zu handeln, von der Koalitionsregierung aus PSOE und Unidas-Podemos angeordnet. Aber das reicht nicht aus, denn das Gesundheitspersonal ist erschöpft; es wird das Fehlen von Grundelementen zur Verhinderung einer Ansteckung und zur Betreuung der Patient*innen angeprangert; die Vorräte und die Herstellung von Kitteln, Masken, Laken, Handschuhen reichen nicht aus.

Rechnen wir das, was hier passiert, auf die reichsten Ländern der Welt hoch, in denen etwas Ähnliches geschieht. Fügen wir hinzu, dass sich das Virus in den kommenden Wochen und Monaten in armen Ländern auszubreiten droht.

Entweder sie oder wir

Aus diesem Grund beginnen die großen Automobilkonzerne in einigen Ländern mit der Umstellung ihrer Produktion, wie es im Zweiten Weltkrieg geschehen ist. Einige Regierungen bitten darum, andere setzen es durch. Im Spanischen Staat droht der Multimilliardär Amancio Ortega – der Eigentümer von Zara und anderen Marken – mit Entlassung und Suspendierung der Beschäftigten seiner Unternehmen und bietet gleichzeitig an, seine Produktionslinien für Bekleidung zu ändern, um Hygienematerial herzustellen, das er inmitten der allgemeinen Verzweiflung an den Staat verkaufen will.

Aber es besteht auch ein Bedarf an künstlichen Beatmungsgeräten und anderen komplexen medizinischen Instrumenten, Chemikalien, Möbeln, Catering und vielen anderen Dingen, die heute knapp sind, während einige Fabriken weiterhin Waren produzieren, die für den Notfall unnötig sind und ohne sich um die Sicherheitsbedingungen ihrer Belegschaft zu kümmern. Andere wiederum schließen ihre Tore, wobei sie die Beschäftigte mit Suspendierungen und Entlassungen nach Hause schicken, in die Quarantäne.

Um nur die wichtigsten Unternehmen in Spanien zu erwähnen, die den Börsenindex Ibex35 bilden: Sie verzeichneten allein im vergangenen Jahr 47 Milliarden Euro Gewinn. Neben Telefónica, Banco Santander und anderen gehört dazu auch das Emporium von Amancio Ortega. Monedero stellt in seinem Artikel fest, nachdem er die zu bekämpfende Barbarei beschrieben hat, dass „die Unternehmen […] nicht der Feind“ sind. Allein mit der Erinnerung an das Jahr 2008 würden Millionen von Menschen sagen: Wenn sie nicht der Feind sind, sehen sie ihm doch recht ähnlich. Ist es vielleicht irrational vorzuschlagen, dass sie verzichten sollten, und sei es auch nur auf einen Teil ihrer Gewinne, wenn die Bevölkerung unerhörten Schlägen ausgesetzt ist?

Multiplizieren wir diese minimale Notfallmaßnahme mit allen großen Unternehmen auf dem Weltmarkt. Wenn wir in den Krieg ziehen, sollten wir besser ausgerüstet sein. Niemand hat je eine Schlacht gewonnen, indem er zu Hause blieb und nichts tat.

Auch die Betten reichen nicht aus, die Räume, die für die Isolation der Patient*innen geeignet sind. Jedoch haben die großen und millionenschweren spanischen Hotelketten, sobald sie ihre Reservierungen reduziert gesehen haben, entweder ihre Mitarbeiter*innen entlassen oder sie unter Ausnutzung der Quarantäne nach Hause geschickt, wobei der Staat 70 Prozent ihres Gehalts zu übernehmen hat.

Doch auch wenn sie nun wegen der durch das Coronavirus verursachten Verluste jammern und vom Staat ihre Rettung fordern, haben die 6.000 spanischen Hotelgesellschaften laut einem Bericht vom September 2019 allein im Jahr 2017 einen Umsatz von fast 20 Milliarden Euro erzielt. Es ist an der Zeit, dass sie der spanischen Bevölkerung einen Teil dessen zurückgeben, was sie im letzten Jahrzehnt der touristischen Ausbeutung verdient haben, indem sie sich der schönen Landschaften, des angenehmen Klimas und der Kultur des Landes bedient haben.

Ist es nicht an der Zeit, dass diese Räume – ohne Bezahlung – geöffnet werden, um die betroffenen Menschen zu organisieren und ihre Bedürfnisse entsprechend dem Grad des Risikos, das sie darstellen, zu berücksichtigen? Ist es nicht dringend notwendig, die Hotels in Übergangsunterkünfte für die 40.000 Obdachlosen in ganz Spanien umzuwandeln?

Sie können es hier und in der übrigen Welt tun. Aber die spanische Regierung hat versprochen, 117 Milliarden Euro zur Bewältigung dieser Krise auszugeben, und der größte Teil dieses Geldes wird direkt oder indirekt in die Taschen der Bosse fließen. Denn die Regierung stützt die von den Bossen suspendierten Belegschaften mit Subventionen, während die üblichen Gewinner*innen noch reicher werden. Und dasselbe geschieht in den übrigen von der Pandemie betroffenen Ländern.

Entweder wir attackieren jetzt ihre Interessen, oder wir kommen aus dieser Krise, wie aus den vorherigen, mit Reichen, die noch reicher sind, und noch ärmeren Armen und vielleicht Millionen von Toten heraus.

Der Virus hat keinen Pass

Angesichts dieser ganzen Katastrophe, die im Fernsehen ausgestrahlt und in sozialen Netzwerken geteilt wird, beweisen die Grenzen mehr denn je, dass sie eher Teil des Problems sind. Die Pandemie breitet sich trotz geschlossenen Grenzen und gestrichenen Flügen aus, sie kennt keine Zölle oder Einfuhrsteuern. Das Coronavirus hat keinen Reisepass. Jeder Nationalstaat löst seine inneren Angelegenheiten, bringt mehr Chaos in das Chaos und behindert die Planung.

Wie in einer Alptraumschleife sehen wir in der Europäischen Union in jedem Land die gleichen Ereignisse, nur wenige Tage voneinander entfernt. Und nun sehen wir, wie die Länder Lateinamerikas in diese makabre Spirale eintreten: Was wird auf diesem Kontinent geschehen, wo Millionen von Menschen in extremer Armut leben, deren Immunsystem durch Unterernährung und prekäre Lebensbedingungen geschwächt ist? Wie lange wird es dauern, bis sich dieser Alptraum in Afrika wiederholt, wo mehr als 25 Millionen Menschen mit HIV leben und damit eine gefährdete Bevölkerung darstellen? Diese Bevölkerungsgruppen werden vom Coronavirus betroffen sein, ohne sich um ihr Alter zu scheren, und die Sterblichkeitsrate könnte in die Höhe schießen.

Für Millionen von Lateinamerikaner*innen und Afrikaner*innen könnte ein Aufenthalt zu Hause die Situation verschlimmern oder im besten Fall angesichts der extremen Risikobedingungen, unter denen sie täglich leben, überhaupt keine Bedeutung haben.

Die Arbeiter*innenklasse kann das von den Kapitalist*innen geschaffene Chaos lösen

Wie man sieht, gibt es viele verschiedene Aufgaben im Umgang mit der Pandemie. Aber eines haben sie gemeinsam: Die Herstellung von Coronavirus-Tests, Masken, Krankenhausbetten, Beatmungsgeräten oder der Bau neuer Krankenhäuser erfordert Arbeitskräfte, die nicht zu Hause bleiben, genauso wie auch heute im Gesundheitswesen und in anderen wichtigen Bereichen die Menschen nicht zu Hause bleiben.

In dieser Phase der Krise sind alle Sektoren von wesentlicher Bedeutung, wenn sie unter der Kontrolle ihrer Arbeiter*innen umstrukturiert werden. Die Arbeiter*innen werden es selbst verstehen, auf demokratische Weise ein System zu schaffen, dass die 100-prozentige bezahlte Freistellung für diejenigen, die sie benötigen, garantiert, mit reduzierter Arbeitszeit, Schichtrotation und Maßnahmen zugunsten von Gesundheit und Sicherheit, um für sich selbst zu sorgen. Die Kapitalist*innen hingegen zeigen nur Anzeichen dafür, dass sie ihre Profitgier über die kollektiven Bedürfnisse stellen. Die Regierungen ihrerseits verteidigen die Interessen der Kapitalist*innen, indem sie Unternehmen mit öffentlichen Mitteln vor dem Bankrott retten oder verlangen, dass sie das Notwendige produzieren, es aber mit Geld zurückkaufen, das dann der Bevölkerung durch Leistungskürzungen und Anpassungen entzogen wird.

Was wir in diesen Tagen sehen, zeigt, dass angesichts einer Krise wie der gegenwärtigen die wahllose Einsperrung der Bevölkerung noch mehr Chaos in die Situation bringt. Viele Millionen Arbeiter*innen halten während dieser Pandemie weiterhin das prekäre Funktionieren der Welt aufrecht: in der Lebensmittel- und Pharmaindustrie, im Gesundheitswesen, in der Müllabfuhr, in der Reinigung, im Transport usw. Viele andere Millionen sind in ihren Häusern eingesperrt, obwohl sie in der Lage wären, diese außergewöhnliche und enorme Maschinerie der Chemie-, Automobil-, Bergbau- und Textilindustrie und so vieler anderer in Gang zu setzen, die umgestellt und so im Kampf gegen die Pandemie eingesetzt werden könnte.

Sie trainieren ihre bewaffneten Hunde für den Umgang mit Rebellionen

Die verallgemeinerte Einsperrung, plötzlich verhängt, ohne in einen Plan integriert zu sein, der andere Maßnahmen vorsieht, und ohne die soziale Situation von Millionen von Menschen zu berücksichtigen, löst das Problem an sich nicht. Für viele Arbeiterinnen*inne hat es bedeutet, dass ihr einziger Ausweg aus diesem Chaos darin besteht, die Heimschickung zu fordern, auch wenn dies bedeutet, dass sie sich damit abfinden müssen, staatliche Beihilfen zu erhalten, die unterhalb ihres Lohns liegen.

Dem Staat ist es bereits gelungen, den gesellschaftlichen Konsens so weit zu stärken, dass die Repressionskräfte gegen diejenigen vorgehen können, die sich gegen die Einsperrung auflehnen, selbst wenn sie nur mit ihrem Hund spazieren gehen. Jetzt, wo sich abzeichnet, dass Millionen von Menschen arbeiten müssten, um die Ausbreitung der Pandemie zu mildern und schnelle Fortschritte bei der Pflege und Heilung der Kranken zu erzielen, kann der Staat so widersprüchlicherweise auf die volle Kraft seines Straf- und Repressionsapparates setzen, um uns gegebenenfalls mit vorgehaltener Waffe an die Arbeit zu schicken.

Es heißt also entweder sie oder wir, und zwar jetzt. Wenn es in ihren Händen bleibt, können wir keine Lösung für unsere Leiden erwarten, sondern ganz im Gegenteil. Und wir sprechen nicht einmal darüber, was uns in Zukunft erwarten würde, wenn es uns nicht gelingt, den schurkischen Generälen, die auf ihre heutigen Profite bestehen, das Kommando über das Leben von Millionen von Menschen zu entziehen, die Gefahr laufen, sich mit Coronaviren zu infizieren. Denn sie sind dieselben, die morgen die Folgen ihrer bankrotten Unternehmen auf Millionen von Hunger und Elend verurteilten Arbeitslosen und Obdachlosen abladen werden.

Die gegenwärtige Stärkung der strafenden Aspekte des Staates ist die unerlässliche Vorbereitung der Kapitalist*innen auf die möglichen Rebellionen, die durch den Krieg, den sie uns erklärt haben, ausgelöst werden. Denn der Kapitalismus ist mehr oder weniger barbarisch in gesunden Zeiten, aber offen barbarisch, wenn wirtschaftliche, soziale und politische Krisen durch den Bankrott eines globalen Finanzdienstleistungsunternehmens wie 2008 oder das Auftreten eines Coronavirus wie 2020 beschleunigt werden.

Das Schicksal in die eigene Hand nehmen

Dass Progressive und linke Reformist*innen diese Realität resigniert akzeptieren und Linderungsmittel wie Hygienepakete zur Verteilung an Obdachlose, die Aussetzung von Zwangsräumungen während der Krise oder ein allgemeines Mindestüberlebenseinkommen vorschlagen, ist reine, erbärmliche Demagogie. Wenn die Wahl, vor der wir stehen, wie Monedero in seinem Artikel sagt, „Sozialismus oder Barbarei“ ist, scheinen die Rezepte ziemlich weit von der Diagnose entfernt zu sein. Als ob sie uns eine unheilbare Krankheit ankündigen und dagegen ein Schmerzmittel verschreiben würden.

Die Verkettung der Ereignisse führt schnell zu einem Scheideweg auf internationaler Ebene: Die Regierungen werden weiterhin der Rettung der Kapitalist*innen auf Kosten unseres Lebens Priorität einräumen, oder die arbeitenden Massen werden ihr Programm durchsetzen, das notwendigerweise die Profite und Vorteile der Unternehmen angreift, um die Menschheit vor diesen Verwüstungen zu retten. Die utopischen Reformer*innen des Kapitals, die weiterhin mit lauten Reden und ohnmächtigen Aktionen das Tempo bestimmen, werden am Ende von den Massen, die es leid sind, so viel unerhörtes Unrecht zu erleiden, aus der Geschichte gefegt werden. Unser Leben ist mehr wert als ihre Profite.

Sozialismus oder Barbarei, das ist nicht nur eine Diagnose. Heute ist es mehr denn je eine Aufforderung zum Handeln.

Dieser Artikel erschien zuerst am 20. März bei IzquierdaDiario.es.

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