Psychische Erkrankungen – Symptom eines schädlichen Systems

09.12.2021, Lesezeit 7 Min.
Gastbeitrag

Psychische Erkrankungen rücken immer stärker in den gesellschaftlichen Fokus. Die Schlüsse, die aus dem Thema gezogen werden, kratzen jedoch häufig nur an der Oberfläche und kritisieren selten das System, welches den Menschen viel zu wenig Unterstützung bietet oder überhaupt erst krank macht.

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Foto: TZIDO SUN/Shutterstock.com

In Deutschland haben nach Schätzungen von Fachverbänden rund 30 Prozent (wobei die Dunkelziffer anhand verschiedener Studien auf eher 50 Prozent geschätzt werden kann) der Bevölkerung mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen, während davon nur etwa 19 Prozent Kontakt zu Leistungserbringern aufnehmen.
Dass bereits für diese Tatsache neoliberale Gesellschaftsbilder verantwortlich sind, findet sehr selten Gehör in der öffentlichen Wahrnehmung. Denn wo die individuelle (Gestaltungs- und Entfaltungs-) Freiheit eines jeden Menschen das höchste Gut ist, ist im Umkehrschluss natürlich auch klar, dass jedes Individuum schließlich auch selbst die Hauptverantwortung dafür trägt, wenn es ihm oder ihr psychisch nicht gut geht. Frei nach dem Motto „Jede:r ist seines/ ihres eigenen Glückes Schmied.“ Die Auswüchse und völlige Zuspitzung eines Wertesystems, das die vermeintliche Freiheit des Individuums, gegen jeglichen Kollektivgedanken zum Zentrum und Grundwesen unserer Gesellschaft verfestigt, sind nicht von der Hand zu weisen und dürfen bei der Thematisierung von psychischen Krankheiten nicht außer acht gelassen werden.

Meist wird ein Bild der Schuldfrage gezeichnet und auch wenn dies nicht so benannt wird, hat sich das bis in die tiefste Bewusstseinsebene vieler Betroffener eingebrannt. Die gesellschaftlichen Stigmata, die eine psychische Erkrankung mit sich bringen, sind für viele Menschen kaum zu ertragen und mit sehr viel Scham verbunden. Ganz zu schweigen von drohenden weitreichenden Einschnitten in den beruflichen Alltag von Menschen. Auch wenn die Gefälle und die Ungleichbehandlungen, die durch das Prinzip der Verbeamtungen entstehen abgeschafft gehören, sollte bei dieser Thematik trotzdem auf den extremen Umgang mit Verbeamteten hingewiesen werden. Beispielsweise werdende Lehrer:innen möchten sich – aus Angst ihre Verbeamtung aufs Spiel zu setzen – keine psychologischen Gutachten, Diagnosen oder Therapien stellen lassen bzw. beginnen. Auch in anderen Tätigkeitsfeldern ist die Angst so groß, Nachteile durch ein Bekanntwerden psychischer Überbelastung oder Erkrankung zu erfahren, so dass die darunter leidenden Menschen lieber mit ihrem Kampf für sich bleiben. Die Folgen, die daraus resultieren sind häufig dramatisch.

Im zweiten Schritt lässt sich gut erkennen, wie ambivalent sich der Bereich der psychischen Erkrankungen darstellen lässt. Häufig ist es so, dass Menschen, die sich für bspw. für eine Therapie entschieden haben und mit viel Glück und Geduld einen Therapieplatz gefunden haben, dort mit der einzigen Logik konfrontiert werden, der viele Therapeut:innen unterliegen. Es wird ihnen zwar vermittelt, dass es sicher diverse Schlüsselmomente in ihrer Vergangenheit gab, die bspw. zu den Traumata geführt haben, sie nun aber selbst eine Antwort und den Weg aus der psychischen Erkrankung finden müssen.
Dabei muss man den Therapeut:innen zu Gute halten, dass diese natürlich auch niemandem versprechen können, die systematischen Ungerechtigkeiten mit denen sich die Patient:innen täglich und von Geburt an konfrontiert sehen zu beenden. Daran ist gut zu erkennen, dass der Kreislauf ohne eine Grundlegende und systematische Veränderung nicht dauerhaft unterbrochen werden kann. Das soll nicht heißen, dass es nicht auch Therapeut:innen gibt, die in ihrer Arbeit durchaus systemkritische Ansätze verfolgen, doch das Grundproblem bleibt bestehen. Sie können das System, dass den psychischen Druck ausgelöst hat und auslöst für ihre Klient:innen in der akuten Situation nicht verändern. Daraus resultiert ein Karussell für viele Menschen, aus dem sie nicht mehr aussteigen können. Ihr Leben ist demnach nur noch mit dauerhafter Begleitung und einer gewissen Abhängigkeit von Psycholog:innen, Psychiater:innen oder abseits der Gesellschaft, bspw. durch häufige Psychiatrieaufenthalte möglich. Daran ist selbstverständlich rein gar nichts verwerflich. Im Gegenteil, es ist absolut nachvollziehbar. Doch dieser Zustand müsste nicht so sein.

Doch nicht nur die Behandlungsweise muss kritisiert und überdacht werden. Auch lohnt es sich einen Blick auf die Zugänglichkeit zur häufig sehr akut benötigten Hilfe zu werfen.
Es ist kein Geheimnis, dass mehrere Monate Wartezeit für einen Therapieplatz zur Norm gehören, was besonders bei sehr gefährdeten Menschen fatal ist. Doch selbst wenn ein:e Klient:in den Therapieplatz einmal hat, ist es für viele Menschen- grade für Arbeiter:innen- eine echte Herausforderung die Zeit neben dem stressigen Job und der Freizeit zu finden. Schichtdienste, körperlich anstrengende Berufe und lange Fahrtwege lassen kaum Zeit, sich um die psychische Gesundheit zu kümmern.
Dies führt dazu, dass einige die Arbeitszeiten verkürzen müssen, andere eine Zeit lang frei machen und wieder andere ihrem Beruf ganz den Rücken kehren. Dies können sich bei weitem nicht alle leisten. Außerdem bedeutet die Arbeit nicht für alle einen reinen Stressfaktor, sondern kann auch als erfüllend und stabilisierend wahrgenommen werden. Das Problem sind die Arbeitszeiten und der häufig durch zu wenig Personal und Entlohnung erzeugte Stress.

Wir finden in der Kinder- und Jugendhilfe die selben Mechanismen und Problematiken, ebenso wie in unserem gesamten Bildungssystem. Menschen werden von klein auf an ihren „Defiziten“ gemessen und diese entscheiden dann über die gesamte Zukunft eines Menschen. Wenn du als Schüler:in in einem Zeugnis viermal die Note 1 und viermal die Note 5 findest, sind die Zukunftsentscheidenten Noten nicht die „guten“. Die „schlechten Noten” werden entscheiden, wozu dir der Zugang verschlossen bleiben wird.
Auch hier spielt es quasi keine Rolle, was für äußere und systematische Umstände bspw. im Elternhaus oder in der frühen Kindheit dazu geführt haben. Stattdessen werden diese gesellschaftlichen Zwänge, denen bereits die Eltern unterlagen, ungefiltert an Kinder und Jugendliche weitertransportiert werden.

Es sollte kurz gesondert erwähnt werden, dass besonders von Armut und Existenzängsten betroffene, oder von der Gesellschaft ausgegrenzte Menschen unter psychischen Erkrankungen leiden. In der Coronapandemie zeigt sich das, was schon in den vergangenen Jahrzehnten absehbar war: Eine dramatische und besorgniserregende Zunahme an psychischen Erkrankungen, vor allem bei Kindern und Jugendlichen.
Die Zwänge der kapitalistischen Produktion bleiben im Prinzip unangetastet bestehen, während Menschen auf jeglichen freizeitliche Aktivitäten verzichten sollen. Was es braucht sind von Fachkräften durchgeführte Impf-/ und Aufklärungskampagnen, die Freigabe von Patente und großflächigen wirtschaftlichen Lockdowns mit solidarischem Ausgleich.

Was machen wir nun mit diesen Erkenntnissen? Alleine die Abkehr vom Neoliberalismus, der nur als pervertierte Gestalt innerhalb des Kapitalismus anzusehen ist und die Überwindung des kapitalistischen Systems, kann all diese zerstörerischen Auswüchse beenden. Alles andere ist unsachlich und führt dazu, dass Arbeitsfelder wie Psychologie im therapeutischen Sinne, psychiatrische Arbeit, Kinder und Jugendhilfe und auch die humanitäre Hilfe, ausschließlich weitere „Geschäftszweige“ bleiben und nicht dazu dienen, nachhaltige Veränderungen herbeizuführen. Sie können mit ihrer Arbeit nur an der Oberfläche kratzen. In Gesellschaftsstrukturen wie den unsrigen kann es häufig dazu kommen, dass sich Individuen psychisch an den Rand gedrängt fühlen und ausgeschlossen werden, obwohl es die Gesellschaft ist, die erkrankt ist.

Bleibt solidarisch, seid füreinander da und lasst uns gemeinsam dafür kämpfen, dass dieses System irgendwann überwunden werden kann.

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