Nein, wir müssen nicht mit Bullen reden

13.11.2023, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Ayrin Giorgia / Klasse gegen Klasse

Organisierte Vernachlässigung, immer mehr Kürzungen, immer mehr Cops. Das war das Thema eines abolitionistischen Podiums in Berlin, Neukölln. Ein Bericht.

Ende Oktober, veranstaltete die Initiative Ihr seid keine Sicherheit (ISKS) einen „abolitionistischen Barabend“ in der Neuköllner B-Lage. Der Raum war voll. Denn Hintergrund der Diskussion war, dass „Projekten, die tatsächlich Sicherheit schaffen könnten, die Gelder gestrichen“ (ISKS) werden. Gemeint ist: die Soziale Arbeit. Deshalb auf dem Podium: Drei Sozialarbeiterinnen und ein Aktivist von Migrantifa Berlin. Eine Jugendsozialarbeiterin vom Solidaritätstreff Soziale Arbeit in Neukölln, welche ebenfalls Ende Oktober eine Demonstration unter dem Motto „Soziale Arbeit am Limit“ organisiert hatte. Eine Sozialarbeiterin, die politisch bei Feministische Projekte sichern (femprojektesichern) aktiv ist, und ich. Ich habe bis Juli als Sozialarbeiterin an einer Oberschule in Neukölln gearbeitet. Dann wurde mir fristlos gekündigt, weil ich die anstehenden Kürzungen im Bezirk kritisiert hatte.

Wir arbeiten vielleicht im selben Bereich und machen uns über ähnliche Themen Gedanken. Doch verfolgen wir politisch sehr unterschiedliche Ansätze. Die Aktivistin von femprojektesichern positionierte sich zu Beginn der Diskussion als überzeugte Sozialarbeiterin. Sie schätze den Sozialstaat und Reformen und wisse beim besten Willen nicht, was sie denn anderes tun solle, wenn eine ihrer Klientinnen – sie arbeitet mit von patriarchaler Gewalt betroffenen Frauen – ihre Sachen von ihrem gewalttätigen Ex-Mann abholen muss, als mit ihr die Polizei zu schicken.

Ich bin von Sozialer Arbeit als Symptombekämpfung nicht überzeugt. In der Disziplin wird auch kontrovers diskutiert, ob Soziale Arbeit nicht die „Polizei light“ ist. Eine berechtigte Fragestellung. Denn natürlich ist es ein Teil des Jobs, Menschen erstmals oder wieder auf den Arbeitsmarkt zu kriegen und zum Teil auch zu bestrafen. Wer das nicht macht, kriegt unter Umständen auf den Deckel. Silvia Staub-Bernasconi hat das sogenannte Triple-Mandat begründet, demzufolge Sozialarbeiter:innen immer drei Mandate haben: 1. vom Staat – in letzter Instanz immer unser Arbeitgeber -, 2. der „Klient:innen“ und 3. von der „Menschenrechtsprofession“. Oft wird dabei verkannt, dass die letzten zwei natürlich auch vom Kapitalismus geprägt sind: „Empfänger:innen Sozialer Arbeit“ – ich finde beide Begriffe schrecklich – die aufgrund von Erfahrungen mit verräterischen Sozialarbeiter:innen in der Vergangenheit die sogenannte „Hilfe zur Selbsthilfe“ ablehnen, geben uns ja einen anderen „Auftrag“ als es uns weis gemacht wurde. Nämlich keinen.

Aber ich bin gerne Sozialarbeiterin. Denn natürlich gibt es Handlungsspielräume. Wir können Menschen dabei unterstützen, mit Ausbeutung, Unterdrückung, Armut, Hunger, Obdachlosigkeit, Sucht und vielem mehr anders umzugehen als bisher und somit entweder „nur“ zu einer Verringerung ihres Leidensdrucks beitragen oder sie auch darüber aufklären, dass sie sich gegen die Wurzel dieser Ungerechtigkeiten auflehnen können und dürfen. Aus sozialistischer Perspektive hat Soziale Arbeit deshalb einen Doppelcharakter. Gerade die, die wir mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, können (auch) als Aufklärer:innen der Zukunft der Gesellschaft agieren.

Keine multiprofessionellen Teams mit Cops

Nachdem die Dortmunder Polizei im August letzten Jahres den 16-jährigen Mouhamed Dramé erschossen hat, ist dem Migrantifa-Aktivisten die Idee gekommen: Polizist:innen müssten mit meterlangen Stäben ausgestattet werden, auf die ein riesigen Wattebausch gesteckt wird. So könnten sie die vermeintlich spitzen Gegenstände in der Hand anderer, aufgrund derer sie ihnen in „Notwehr“ das Leben nehmen, wegschlagen können.

Außerdem müsse mit Polizist:innen geredet werden. Schließlich würden sie in die mitunter schwierigsten Situationen geschickt, die Menschen in dieser Gesellschaft zu sehen und zu erleben haben, wie beispielsweise Obdachlose zu verdrängen. Und am Ende des Tages ginge es ihnen nicht gut. Dies biete die Grundlage dafür, sie davon zu überzeugen, auszusteigen. Dabei muss niemand Bulle sein.

Zudem müssten wir als Gesellschaft weg von der Erwartungshaltung, dass Cops heute Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen, Rechtsberater:innen und vieles mehr sein müssen. Schließlich müsse jede:r Einzelne von ihnen all das sein – eine Unmöglichkeit. Stattdessen brauche es multiprofessionelle Teams, in denen tatsächliche Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen und Jurist:innen mit Polizist:innen zusammenkommen. Eigentlich müssen sie sogar gemeinsam von der auf (postkoloniale) Rassismusforschung spezialisierten Prof. Dr. Iman Attia an der Alice Salomon Hochschule ausgebildet werden.

Positionen, die viele im Publikum überraschten. Wenn eine Organisation aber nicht auf der Grundlage eines gemeinsamen Programms und einer gemeinsamen Strategie aufgebaut wird, kann es dazu kommen, dass deren Mitglieder Meinungen vertreten, die sich widersprechen.

Meiner Meinung nach – und das ist auch die meiner Organisation – sollte unsere Losung heute weder lediglich defund the police noch refund social work sein. Defund the police wurde vor allem im Rahmen der Massenproteste nach dem Polizeimord an George Floyd gefordert. 2014 hatten große Teile der Black Lives Matter-Bewegung noch die Forderung nach Antirassismustrainings für Polizist:innen aufgestellt. Doch sechs Jahre und etliche Fälle von Polizeigewalt später war den Massen klar: Die Polizei ist nicht reformierbar.

Die Polizei ist der bewaffnete Arm des bürgerlichen Staats. Sie schützt Privateigentum und reprimiert, wer sich auflehnt, so zum Beispiel streikende Hafenarbeiter:innen aus Hamburg. Doch macht sie auch vor der Kriminalisierung anderer Proteste nicht halt und schreckt gerade beispielsweise nicht davor zurück, auf der Berliner Sonnenallee Neunjährige festzunehmen. Es ist sogar so: Je mehr sich die kapitalistische Krise verschärft, desto mehr law and order-Politik werden wir sehen. Und daher auch Budgeterhöhungen für die Polizei. Die Berliner CDU hatte es schon im Wahlkampf angekündigt. Jetzt werden 1.000 neue Dienstkräfte und Unmengen Material wie Taser, Hubschrauber, Bodycams, Stahlboote, Drohnen und vieles mehr bereitgestellt. Für genau die Polizei, die Sammy, Mouhamed, Danny und so viele andere ermordet hat, die also erwiesenermaßen kein Freund und Helfer ist.

Trotzdem konnte die Losung defund the police vorerst von Politiker:innen wie Joe Biden, Nancy Pelosi und Alexandria Ocasio-Cortez kooptiert werden. Und dass die New Yorker Polizei 16 Prozent weniger Gelder erhält, verunmöglicht ihr wahrscheinlich, weitere Beamt:innen anzustellen und zusätzliches Equipment anzuschaffen. Doch wird es sie nicht davon abhalten, weiter zu zwangsräumen, abzuschieben und sogar zu töten. Deshalb müssen wir weitergehen und defund the police to zero, ergo abolish the police fordern. Und weil die Institution nicht abgeschafft werden kann, ohne dass es der Kapitalismus auch wird:
abolish the system. Das mag für viele utopisch klingen, kann aber Realität werden – wenn wir uns im Kampf gegen die Polizei weder auf Bullen noch auf den Sozialstaat, sondern auf uns selbst verlassen.

Dazu ist es notwendig, dass wir uns selbst organisieren, wie es beispielsweise im Solidaritätskomitee „Justice for Mouhamed“ oder „OEZ Erinnern“ passiert. Die anfängliche Koordinierung von Betroffenen, Verwandten, Freund:innen und Aktivist:innen gegen Polizeigewalt und rechten Terror gibt Hoffnung.

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