LMU: Veranstaltung zur Care-Krise am Soziologie-Institut

05.05.2023, Lesezeit 7 Min.
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Foto: Privat

Am Institut für Soziologie der LMU München veranstaltete das Solikomitee für den Erhalt des Neuperlacher Kreißsaals gemeinsam mit der Soziologie Fachschaft gestern die Diskussionsveranstaltung "Wie gegen die Care Krise kämpfen? Der Kampf um den Neuperlacher Kreißsaal".

Am Vorabend zur Petitionsübergabe der Kolleg:innen aus Neuperlach für den Erhalt ihrer Station haben wir mit unserer marxistischen Hochschulgruppe „Waffen der Kritik“ als Teil des Solidaritätskomitees „Kreißsaal bleibt“, gemeinsam mit der Fachschaft Soziologie eine Diskussionsveranstaltung zur Care-Krise organisiert. Etwa 15 Studierende und wissenschaftliche Mitarbeiter:innen diskutierten gemeinsam mit Leonie Lieb,die als Hebamme in Neuperlach arbeitet,über die großen Probleme im Gesundheitssektor auf der einen Seite und das Beispiel der Kolleg:innen aus Neuperlach als Vorbild für einen selbstorganisierten Protest für eine bedürfnisorientierte Gesundheitsversorgung auf der Anderen.

Beginnend mit einer kurzen Rahmung zum Care-Begriff und den Formen bezahlter und nicht-bezahlter Reproduktionsarbeit, die in Seminaren des Instituts häufig Thema sind, gingen wir zu den Lösungsansätzen für die sich verschärfende Care-Krise über. Dafür war Leonies Input über den Hebammenberuf, eindrücklicher Einblick für uns Studierende: Sie berichtete, dass die letzten Jahrzehnte geprägt sind von hunderten Stationsschließungen auf Bundesebene, einer Tendenz zur Freiberuflichkeit, sowie einer Akademisierung. Gleichermaßen war ihre Erörterung des Kampfes um den Erhalt ihrer Station, die als Teilerfolg bis 2028 bleiben soll ein guter Kickstart für die Diskussion, über breitere gesellschaftliche Fragen der Care-Arbeit und dem Protest gegen ihre Abwertung, der in diesem Kampf sinnbildlich zu sehen sind.

Erstens zeigte sich in der Diskussion, wie trotz einer prominenten Rolle der Care-Arbeit in sozialwissenschaftlichen Studien, weiterhin der politische und wirtschaftliche Umgang mit ihr eine materielle Bremse für ihre reale Anerkennung ist. Hunderte Publikationen zur Frage der Reproduktionsarbeit haben seit Jahrzehnten gezeigt, wie feminisiert dieser Bereich ist und dass ihre entlohnte Form strukturell abgewertet wird. Dazu sind es Berufe, die maßgeblich Fragen der Selbstbestimmung aufwerfen, wie zum Beispiel über die (Un-)Vereinbarkeit von Lohnarbeit, unbezahlte Carearbeit und Familie

In diesem Sinne der Selbstbestimmung und angesichts des maroden Zustandes des Gesundheitssystems, wurde die Parallelität zwischen der Frage von geburtshilflicher Versorgung und dem Zugang zu Schwangerschaftabbrüchen aufgeworfen:
Es wurde in der Diskussion sichtbar, dass Forderungen zu körperlicher Selbstbestimmung, die die feministische Bewegung (stark geprägt durch Sozialwissenschaftler:innen) seit Jahren aufstellt von der sogenannten „Fortschrittskoalition“ nur in symbolischen Formen umgesetzt wurden. Ein Beispiel dafür: Die Streichung von §219a StGB (Werben von Schwangerschaftsabbrüche), während §218, also dasgrundsätzliche Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen weiterhin unberührt bleibt.

In der Geburtshilfe gab es im Jahr 1991 noch 1186 Kliniken, in denen Geburten möglich waren. 2018 waren es nur noch 655 Kliniken mit Geburtshilfe. Immer mehr Frauen müssen immer weitere Wege auf sich nehmen, um zum nächsten, womöglich überfüllten Kreißsaal zu gelangen. Das steht in Kontinuität zu einer ökonomisch begründeten Spar- und Zentralisierungspolitik in der Gesundheitsversorgung insgesamt. Bei Einrichtungen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen sieht es interessanterweise sehr ähnlich aus: im Jahr 2003 gab es noch 2.030 ärztliche Einrichtungen, die Abtreibungen vorgenommen und gemeldet haben. Im dritten Quartal 2022 waren es nur noch 1.106.

Beide Bereiche, die zentrale Bestandteile einer grundlegenden medizinischen Versorgung insbesondere von Frauen darstellen, mussten also in den letzten Jahrzehnten fast die Hälfte ihrer Einrichtungen schließen.

Diese Fragen der körperlichen Selbstbestimmung wurden somit eng mit den Versorgungsbedingungen diskutiert, die ihrerseits prägend für jedwede Entscheidung sind. Dies zeigt, dass rechtliche Fortschritte, angesichts einer rückläufigen Versorgungsstruktur, die Bedingungen am Ende nicht ausreichend verbessern können.

Allerdings zeigte die Diskussion auch, dass die großen Probleme durch die Care-Krise, also beispielsweise der Fachkräftemangel und die Überarbeitung des Personals und die damit einhergehenden Folgen für die Qualität der Versorgung keinesfalls zufällige Entschiedungen sind. Sie sind das Ergebnis einer profitorientierten Gesundheitsversorgung unter dem sogenannten DRG-/Fallpauschalensystem. Fernab des Mythos der Alleinschuld der FDP wurde auch die Rolle der SPD und Grünen in der Einführung des Fallpauschalensystems und heute in der Vertiefung dieses Modells deutlich.

Um jedoch nicht in der Analyse zu bleiben, nutzten wir die Anwesenheit von Leonie, um über die Erfahrungen des Kampfes für den Erhalt des Kreißsaals auch in den Gewerkschaften zu sprechen. Diese haben nämlich im letzten Jahr eine historisch neue Dynamik eingeschlagen: Nach jahrelangem Mitgliederverlust konnte die Dienstleistungsgewerkschaft verdi in zwei Monaten den größten Zuwachs seit ihrer Gründung im Jahr 2001 verzeichnet. Ebenso fanddie Tarifausseinandersetzung im öffentlichen Dienst mit über 500.000 Beschäftigten auf der Straße statt und auch in München gab es den größten Streiktag im ÖD seit 30 Jahren.

Diese Tendenz ist vor allem durch die historische Inflation zu erklären und weniger durch eine Veränderung des Kampfgeistes der gewerkschaftlichen Führung. Diese zeigte ihre bremsende Rolle nicht nur in ihrem Willen, das Schlichtungsergebnis hinzunehmen, statt den Erzwingungsstreik vorzubereiten, sondern spielte eine ähnliche Rolle im Kreißsaalkampf. So wurde beispielsweise keine öffentliche Stellungnahme für den Erhalt veröffentlicht. Beim Kampf gegen die Abmahnung, die Leonie aufgrund eines Interviews erteilt wurde, bekam sie auf dem großen TVÖD-Streik hunderte Unterschriften auf die Petition für die Rücknahme von Kolleg:innen aus Sektoren wie der Erziehung, Straßenreinigung, Kunstschaffende und weitere. Diese Aufgabe der Verteidigung einer aktiven Kollegin steht für die lokale Gewerkschaftsführung noch aus.

Diese Elemente zeigen, dass Gewerkschaften keine homogene Organisationen sind, sondern in ihrer heutigen Form eine große Trennung zwischen der Führung und der Basis der Arbeiter:innenorganisationen existieren. Erklären lässt sich dies über zwei Faktoren, zum einen, da es viele Funktionäre gibt die gleichzeitig SPD-Mitglieder sind -und somit ihrer eigenen Regierung nicht mehr Probleme verursachen wollen- andererseits dadurch, dass ihr Einbezug in den Aufsichtsräten der Unternehmen, wie zum Beispiel der München Klinik von der Neuperlach Teil ist- sie dazu verleitet „im Sinne des Unternehmens“ zu argumentieren.

Zuletzt diskutierten wir die Konsequenzen dieser Lehren im Zusammenhang mit den bevorstehenden Kämpfen im Gesundheitssystem, die sich maßgeblich durch die Zentralisierungspolitik verschärfen werden. Dabei haben wir über unsere Rolle als Studierende im Solikomitee gesprochen. Darin konnten wir nicht nur Kolleg:innen in den einzelnen Schritten begleiten, wie bei den Interventionen am SPD-Dreikönigstag oder dem Grünen Parteitag und der Organisierung von 2 Kundgebundgen, die einen starken Druck auf die Parteien bezweckten. Im Wesentlichen konnten wir auch eine moralische und politische Unterstützung anbieten, die sich in gemeinsamen Auftritten mit einem Teil des Teams an Demonstrationen, wie dem Tag gegen Gewalt an Frauen oder dem 8. März äußerte.

Schlussendlich nutzten wir den gemeinsamen Austausch auch dazu, unsere Kommiliton:innen dazu einzuladen, an der Petitionsübergabe und weiter am Solikomitee teilzunehmen.

Diese 1. Veranstaltung an unserem Institut soll der Beginn einer Reihe an inhaltlichen Veranstaltungen sein, die nicht zur „Auklärung“, sondern vor allem zum Austausch und zur politischen Organisierung dienen sollen. Mit der marxistischen Hochschulgruppe „Waffen der Kritik“, wollen wir eine Kraft an den Universitäten aufbauen, die die Verwirklichung langjähriger Forderungen im Kampf gegen die Klimakrise, dem Militarismus und der Prekarisierung an der Seite der Arbeiter:innenklasse erkämpft.

Weitere Veranstaltungen:
zum Klassenkampf in Europa (am 18.05- Termin noch nicht fest), zu Klima – Marxismus und Ökologie (01.06), sowie Imperialismus und Rassismus (am 15.06).

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