„Der größte Streiktag seit 30 Jahren“: Über 6.000 beim TVöD-Großstreik in München

21.03.2023, Lesezeit 6 Min.
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Bild: KGK

Kitas, Kliniken, Bäder, Stadtverwaltung: Für höhere Löhne legten die Beschäftigten in München heute den öffentlichen Dienst lahm – so viele wie seit 1992 nicht mehr. Jetzt muss der Erzwingungsstreik vorbereitet werden.

„Das ist der größte Streiktag der letzten 30 Jahre in München!“, rief Heinrich Birner, der Geschäftsführer von ver.di München, den vielen tausend Kolleg:innen auf dem Münchner Marienplatz zu. Beschäftigte aus dem Sozial- und Erziehungsdienst, der städtischen Verwaltung, dem Abfallwirtschaftsbetrieb, der Stadtwerke, der städtischen Bäder, der München Klinik (MüK), der Stadtsparkasse, der Agentur für Arbeit und vielen weiteren Betrieben waren von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zum Streik aufgerufen worden.

Am Ende vermeldete ver.di über 6.000 Streikende, die dem Aufruf gefolgt waren und vor dem Neuen Rathaus immer wieder lautstark skandierten: „Heute ist kein Arbeitstag, heute ist Streiktag!“ Die Münchner GEW sprach von weiteren 750 streikenden Kolleg:innen, die mit einer eigenen Demonstration zum Marienplatz gezogen waren.

Die prominenteste Stimme auf der Kundgebung war die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Yasmin Fahimi. „Ihr alle seid systemrelevant“, rief sie den Streikenden zu, untermalt von „Anticapitalista“-Sprechchören. Das Angebot der „Arbeitgeber“ bezeichnete sie als Provokation. Zur Seite der „Arbeitgeber“ gehört aber auch der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter. Nicht nur er gehört zur SPD, auch Fahimi ist Mitglied im Parteivorstand der Sozialdemokrat:innen. Die Rolle der SPD war vielen Streikenden auch zuvor schon nicht entgangen. „Bei der Rüstung sind sie fix, für die Bildung tun sie nichts!“ skandierten sie, als die Demonstration der GEW an der Zentrale der Münchner SPD am Oberanger vorbeizog.

Der Streik zeigte deutliche Wirkung. Nach Angaben des städtischen Bildungsreferats blieben von den 450 städtischen Kitas 271 komplett geschlossen, weitere 38 waren nur teilweise geöffnet. Auch die Wertstoffhöfe und mehrere Bäder öffneten heute ihre Türen nicht. Der Betrieb an mehreren Standorten der München Klinik war stark eingeschränkt. Der Müll wurde in vielen Münchner Haushalten nicht abgeholt.

Breite Solidarität gegen Union Busting

Von der Bühne sprach nicht nur die DGB-Vorsitzende. Auch kämpferische Kolleg:innen kamen zu Wort. So gaben die Vertreter:innen der ver.di-Jugend einen Teil ihrer Redezeit an Leonie Lieb ab. Die bei ver.di organisierte Hebamme aus dem Neuperlacher Klinikum kämpft derzeit gemeinsam mit ihrem Team für den Erhalt ihrer Geburtshilfeabteilung. Weil sie in der Tageszeitung junge Welt ein Interview über ihr Engagement gegeben hatte, wurde sie von der Geschäftsführung der MüK abgemahnt.

„Meine Kolleginnen und ich wollen, dass diese Abmahnung zurückgenommen wird“, erklärte Leonie unter den zustimmenden Rufen der Zuhörer:innen. „Deswegen sammeln wir hier heute Unterschriften von sehr vielen Kolleginnen – von euch – die solidarisch sind.“ 380 Streikende zeigten sich solidarisch und unterschrieben ohne zu zögern. Und nicht nur sie: auch die DGB-Vorsitzende Fahimi zeigte sich solidarisch.

Jetzt den Erzwingungsstreik vorbereiten!

Für die Beschäftigten im TVöD, die heute in München zusammengekommen sind, war klar: Wenn wir unsere Forderungen durchsetzen wollen, müssen wir weiterstreiken. So fand das Flugblatt der Münchner Gewerkschaftslinken/Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (MGL/VKG) guten Anklang unter den Anwesenden. Darin erklärt die MGL/VKG, dass das schlechte Verhandlungsergebnis bei der Deutschen Post nicht zur Grundlage für den TVöD-Abschluss werden darf. Obwohl die Post-Kolleg:innen in einer Urabstimmung für einen Erzwingungsstreik votiert hatten, einigte sich die ver.di-Tarifkommission mit dem Unternehmen. Auf das Ergebnis mit langer Laufzeit und Einmalzahlungen statt richtiger Lohnerhöhung könne es nur eine Antwort geben: „Nein zum Verhandlungsergebnis bei der Post!“

Der Erzwingungsstreik ist sowohl bei der Post als auch im öffentlichen Dienst die notwendige Perspektive. Zwar waren heute zahlreiche Sektoren des öffentlichen Dienstes zum Streik aufgerufen. Alle Kräfte warfen die Gewerkschaftsführungen jedoch nicht in die Waagschale. So waren die Kolleg:innen der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) heute nicht zum Streik aufgerufen, obwohl sie derzeit ebenfalls für einen Tarifvertrag kämpfen. Ein Kollege von der Münchner Straßenreinigung brachte es auf den Punkt: „Schade, dass die MVG nicht hier ist. Wenn wir wirklich unsere Forderungen durchsetzen wollen, dann müssen wir an einem Tag alles stilllegen.“

Wie es aussieht, wenn die Arbeiter:innen alles stilllegen, zeigt ein Blick nach Frankreich. Dort kämpfen Millionen mit Streiks und Massendemonstrationen gegen die Anhebung des Rentenalters. „Streiken wie in Frankreich“ und „Notre 49.3 c’est la grève génerale“ (Unser 49.3 ist der Generalstreik) stand auf den Schildern von solidarischen Studierenden von Klasse Gegen Klasse. Der zweite Satz nimmt auf den Verfassungsartikel Bezug, mit dem Präsident Emmanuel Macron die Rentenreform ohne eigene Mehrheit im Parlament und gegen den Willen der Mehrheit der Französ:innen durchgepeitscht hat.

Vom 27. bis zum 29. März steht nun die dritte Verhandlungsrunde im öffentlichen Dienst an. Eine einfache Einigung darf es dort nicht geben. Sollten die Verhandlungen dort scheitern, droht ein Schlichtungsverfahren. Für die Durchsetzung der Forderungen nach 10,5 Prozent und mindestens 500 Euro mehr Lohn kann das jedoch keine Perspektive sein. Stattdessen braucht es einen gemeinsamen Kampfplan aller Branchen, die sich in Tarifverhandlungen befinden. Wie es weitergeht, muss in sektorübergreifenden Versammlungen diskutiert und beschlossen werden – damit dieser eine große Streiktag nicht der letzte bleibt.

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