Linkspartei stimmt für offene Grenzen, Wagenknecht interessiert es nicht

13.06.2018, Lesezeit 6 Min.
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10.06.2018, Leipzig (Sachsen): Sahra Wagenknecht, die Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Bundestag, spricht beim Bundesparteitag der Partei Die Linke. Foto: Britta Pedersen/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Beim Bundesparteitag der Linkspartei in Leipzig stimmten die Delegierten am vergangenen Wochenende mit großer Mehrheit für den Leitantrag, der sich für offene Grenzen ausspricht. Sahra Wagenknecht aber beharrt auf ihrem offenen Sozialchauvinismus.

Seinem Motto konnte der Parteitag der Partei Die Linke nicht wirklich gerecht werden. „Gemeinsam mehr werden. Gerechtigkeit ist machbar“ stand in Leipzig da in großen weißen Lettern über den Redner*innen. Doch spätestens bei der Frage der Migrationspolitik war es mit der trauten Gemeinsamkeit zu Ende. Der seit langer Zeit schwelende Konflikt zwischen dem Parteivorstand um Katja Kipping und Bernd Riexinger auf der einen und Sahra Wagenknecht als Fraktionsvorsitzende im Bundestag auf der anderen Seite trat offen zutage. Der Streit um Fragen von Migration und Grenzpolitik ist natürlich alles andere als neu. Besonders Wagenknecht hatte den bisherigen Kurs der Partei als realitätsfremd kritisiert. Immer wieder soll dies zu Zerwürfnissen bei Fraktionssitzungen geführt haben. Besonders die Parteiführung um Katja Kipping und Bernd Riexinger hatte sich vehement für offene Grenzen ausgesprochen. Wagenknecht hingegen stellt Arbeitsmigration stets der Flucht vor Krieg und Verfolgung entgegen. Wenn sie davon spricht, dass nicht jeder nach Deutschland kommen und Anspruch auf alle Sozialleistungen haben könne, hallen vergangene Sprüche wie: „Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht dann eben auch verwirkt.“

Nun verabschiedete der Parteitag mit großer Mehrheit einen Leitantrag, in dem zwar offene Grenzen gefordert werden. Anders als im Grundsatzprogramm ist aber nicht von offenen Grenzen für alle die Rede. Wörtlich heißt es nun: „Wir wollen das Sterben im Mittelmeer und an den europäischen Außengrenzen beenden. Dafür brauchen wir sichere, legale Fluchtwege, offene Grenzen und ein menschenwürdiges, faires System der Aufnahme von Geflüchteten und einen Lastenausgleich in Europa.“ Wagenknecht genügt die etwas vage Formulierung des Antrags, um die zitierte Passage in ihrem Sinne zu interpretieren. Für sie ist es ein gutes Zeichen dass die Forderung nach „offenen Grenzen für alle“ sich in diesem Wortlaut nicht mehr findet.

Für die Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei im Bundestag ist eine Reglementierung der Migration mit dem Leitantrag vereinbar. So sagte sie in einem Interview beim Parteitag bezüglich des Leitantrags: „Es sind natürlich Streitfragen ausgeklammert. Es steht weder drin, dass wir Arbeitsmigration limitieren wollen, noch steht drin, dass jeder kommen kann. Insoweit ist die weitere Debatte damit nicht ausgeschlossen, aber ich halte es auch für absurd zu glauben, dass man eine Debatte mit einem 40/60-Beschluss auf einem Parteitag beenden kann.“

Gleichzeitig mussten Katja Kipping und Bernd Riexinger eine Schlappe erfahren. Bei der Wahl der Parteivorsitzenden erlangte Katja Kipping 64,5 Prozent der Stimmen. Zwei Jahre zuvor erhielt die Parteivorsitzende noch 74 Prozent. Bernd Riexinger wurde mit 73,8 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Bei der letzten Wahl erlangte er fast 90 Prozent. Doch Kipping bekam auch Rückenwind von wichtigen Figuren der Partei. So sprach sich Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow für ihre Wiederwahl und somit für eine offenere Migrationspolitik aus. Bei Twitter verkündete er: „Katja und Bernd machen als Vorsitzende unserer Partei eine gute Arbeit. Unser Parteitag sollte das auch mit einem guten Wahlergebnis zum Ausdruck bringen!“

Auch der stellvertretende Oberbürgermeister und Kultursenator von Berlin, Klaus Lederer, positionierte sich öffentlich gegen den migrationsfeindlichen Diskurs von Sahra Wagenknecht: „Wer meint, eine nationale Arbeiter*innenschaft abgrenzen zu müssen, der betreibt die Spaltung.“

Doch das macht den Verlust der Stimmen für die beiden Parteivorsitzenden nicht wett. Kippings und Riexingers Stellung in der Partei ist also keineswegs unumstritten. Das Lager um Wagenknecht und Oskar Lafontaine, einem der Verantwortlichen für die Verstümmelung des Asylrechts Anfang der 1990er, mag zwar einen großen Teil ihres Zuspruchs von außerhalb der Partei bekommen. Doch das bedeutet nicht, dass es innerhalb der Linkspartei keine Unterstützung für ihre sozialchauvinistische Position gäbe.

Der Streit innerhalb der Linkspartei über die Migration wird also weitergehen. Grund dafür sind nicht bloß Formulierungen im Leitantrag, die Spielraum für Auslegungen bieten. Denn zudem beteiligt sich die Linkspartei weiterhin an Regierungen und strebt dies auch weiterhin an. Deswegen trägt sie selbst Verantwortung für die Abschiebungen, Kürzungen und Räumungen. So gab es im Jahr 2017 unter Beteiligung der Linkspartei 1.645 Abschiebungen in Berlin, 657 in Thüringen und 490 in Brandenburg. Dieser reale Widerspruch lässt sich nicht durch den Beschluss eines Leitantrags aufheben – und auch nicht durch Aufrufe zum internen Zusammenhalt. Diese gab es beim Bundesparteitag in Leipzig reichlich. So nutzte auch Dietmar Bartsch, Co-Vorsitzender der Bundestagsfraktion, die Bühne, um die Partei dazu aufzurufen, sich nicht länger gegenseitig als „Rassist, Nationalist oder neoliberalen Naivling“ zu beschimpfen. Doch solange die Linkspartei sich nicht aus den Regierungen zurückzieht, bleibt der Widerspruch bestehen und der Streit um Anspruch und Wirklichkeit wird fortgeführt werden.

Als Teil bürgerlicher Regierungen ist die Linkspartei auch auf anderen Feldern mit diesem Widerspruch ständig konfrontiert. Sie ist geradezu gezwungen, sich gegen die Interessen von Beschäftigten zu stellen, unabhängig von deren Nationalität. Wie in Berlin, wo sie gemeinsam mit der SPD für die Gründung von Tochterunternehmen in öffentlichen Unternehmen verantwortlich war. Diese Unternehmen wurden allein mit dem Ziel geschaffen, bestehende Tarifverträge zu unterlaufen. So ist es in Berlin möglich, dass Beschäftigte mehrere hundert Euro weniger verdienen als ihre Kolleg*innen, auch wenn sie die gleiche Arbeit leisten. Obwohl im neuen Koalitionsvertrag mit der SPD und den Grünen vereinbart wurde, diese Tarifflucht zu beenden und gleiche Löhne für gleiche Arbeit zu zahlen, ist dies bisher nicht geschehen. Stattdessen versucht der Berliner Senat aktuell mit Beteiligung der Linkspartei wichtige Schulinfrastruktur zu privatisieren.

Doch trotz dieser Widersprüche scheint sich die Linkspartei nicht in einer akuten Krise zu befinden. In Berlin liegt sie in den Umfragen sogar vorne. Laut einer Umfrage von Infratest Dimap im Auftrag von RBB und Berliner Morgenpost würden ihr 22 Prozent der Befragten ihre Stimme geben. Bundesweit bekäme sie zehn bis elf Prozent der Stimmen, wie schon in den Jahren davor. Über die inneren Widersprüche der Partei können aber auch diese Werte nicht hinwegtäuschen. Antworten auf die drängendsten Fragen, von denen die Migration eine ist, liefern dabei weder Kipping und Riexinger noch Wagenknecht und Lafontaine.

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