Leo Trotzki: Nachruf an Lenin (1924)

21.01.2016, Lesezeit 4 Min.
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Heute jährt sich der Todestag von Wladimir Iljitsch Lenin, dem Anführer der Oktoberrevolution von 1917, zum 92. Mal. Leo Trotzki erhielt die Nachricht vom Tod Lenins auf dem Bahnhof in Tiflis. Daraufhin schrieb er die folgenden Zeilen:

Lenin ist nicht mehr. Er weilt nicht mehr unter uns. Dunkle Gesetze, die die Tätigkeit der Blutgefäße bestimmen, haben dieses Leben abgebrochen. Die Medizin erwies sich als machtlos, zu vollbringen, was Millionen Menschenherzen von ihr erwarteten und mit Inbrunst forderten.

Wie viele gibt es unter ihnen, die ohne Bedenken ihr eigenes Blut bis zum letzten Tropfen geopfert hätten, wenn dadurch die Tätigkeit der Blutgefäße des großen Anführers Lenin-Iljitsch, des Einzigen, Unwiederholbaren belebt, wiederhergestellt werden könnte? Aber ein Wunder geschah nicht, wo die Wissenschaft sich als machtlos erwies. Und so ist Lenin nicht mehr. Die Worte sausen auf das Bewusstsein nieder, wie ein mächtiger Fels ins Meer stürzt. Kann man es glauben, ist es denkbar, kann man es anerkennen?

Das Bewusstsein der Werktätigen der ganzen Welt wird diese Tatsache nicht aufnehmen wollen, weil der Feind noch furchtbar stark, der Weg lang, das große Werk – das größte in der Geschichte – noch nicht abgeschlossen ist; weil die Arbeiterklasse der Welt Lenin nötig braucht, wie vielleicht niemals irgend jemanden in der menschlichen Geschichte.

Mehr als zehn Monate dauerte der zweite Anfall der Krankheit, der schwerer war als der erste. Die Blutgefäße „spielten“, wie der bittere Ausdruck der Ärzte lautete. Das war ein schreckliches Spiel mit dem Leben von Iljitsch. Man konnte eine Besserung, eine fast völlige Wiederherstellung, aber auch eine Katastrophe erwarten. Wir alle erwarteten die Genesung, aber die Katastrophe kam. Die Atmungszentrale im Gehirn hörte auf, ihren Dienst zu verrichten – und löschte die Zentrale des genialsten Denkens.

Und nun ist Iljitsch nicht mehr. Die Partei ist verwaist. Verwaist ist die Arbeiterklasse. Gerade dieses Gefühl vor allem ruft die Nachricht vom Tode des Lehrers, des Anführers wach.

Wie werden wir vorwärts gehen? Werden wir den Weg finden, werden wir uns nicht verirren? Denn Lenin, Genossen, ist nicht mehr unter uns!

Lenin ist nicht mehr, aber der Leninismus besteht. Das Unsterbliche in Lenin – seine Lehre, seine Arbeit, seine Methode, sein Beispiel –, sie leben in uns, in der Partei, die er schuf, in dem ersten Arbeiterstaat, dessen Haupt und Anführer er gewesen ist.

Unsere Herzen sind deshalb von maßloser Trauer ergriffen, weil wir alle durch die große Gunst der Geschichte als Zeitgenossen Lenins geboren wurden, neben ihm gearbeitet, bei ihm gelernt haben. Unsere Partei ist der Leninismus in der Aktion, unsere Partei ist der kollektive Anführer der Werktätigen. In jedem von uns lebt ein Teilchen von Lenin; es stellt den besten Teil eines jeden von uns dar.

Wie werden wir vorwärts gehen? – Mit der Leuchte des Leninismus in den Händen. Werden wir den Weg finden? – Wir werden ihn finden durch das kollektive Denken, durch den kollektiven Willen der Partei.

Und morgen und übermorgen, nach einer Woche und nach einem Monat werden wir uns fragen: Ist denn Lenin wirklich nicht mehr? Denn als unwahrscheinliche, unmögliche, ungeheuerliche Willkür der Natur wird uns sein Tod noch lange erscheinen.

Möge jener Nadelstich, den wir empfinden, den unser Herz jedes Mal fühlt bei dem Gedanken, dass Lenin nicht mehr ist, zur Mahnung werden, zu der Warnung, zu dem Ruf: Deine Verantwortung ist größer geworden. Sei des Anführers würdig, der dich erzogen hat.

In Betrübnis, in Trauer und Gram schließen wir unsere Reihen und unsere Herzen, schließen sie enger zusammen für neue Kämpfe.

Genossen, Lenin ist nicht mehr unter uns. Leb wohl, Iljitsch! Leb wohl, Anführer!

Tiflis, Bahnhof, am 22. Januar 1924.

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