Lauterbachs „Revolution“: Erst die Tragödie, nun die Farce

08.12.2022, Lesezeit 7 Min.
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Fallpauschalen abschaffen? Fehlanzeige! Lauterbachs Versprechen, das Gesundheitssystem zu reformieren, bleibt nicht viel mehr als Augenwischerei. Er und die SPD führten das profitorientierte Gesundheitssystem ein und halten daran fest.

„Eine Revolution im Krankenhaussektor, eine Revolution, die wir unbedingt benötigen“, so eröffnete Gesundheitsminister Lauterbach am Dienstag die Pressekonferenz, in der er das neue Reformkonzept für das Gesundheitswesen vorstellte. Entwickelt wurde es von der „Regierungskomission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung„. Eins steht nun fest: Lauterbach hält trotz „radikaler“ Rhetorik und dem Versprechen, die Fallpauschalen abzuschaffen, an dem Mythos fest, Profite würden Anreize für bessere Gesundheitsversorgung schaffen. Um dieses Argument zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Einführung und Folgen des Fallpauschalen-Systems

Woher kommt das DRG-System?

Auf Geheiß der rot-grünen Bundesregierung wurde zum 1. Januar 2004 das Fallpauschalen-System, auch DRG-System (Diagnosis Related Groups) genannt, verpflichtend in der gesamten BRD eingeführt. Zusammen mit der Agenda 2010 war diese „Reform“ des Gesundheitswesens ein massiver Angriff auf soziale Errungenschaften, den wir bis heute spüren.

Lauterbach war zur Zeit der Einführung 2001 bereits SPD-Mitglied und Direktor des Instituts für Gesundheitsökonomie der Universität Köln. Er sprach damals wohlwollend über die Einführung der DRGs:

Und wenn nun DRGs eingeführt werden, dann haben die Krankenhäuser den Anreiz, so kurz wie möglich den Aufenthalt zu gestalten. Sie konzentrieren sich, was sie gewinnbringend leisten können, ich konzentriere mich darauf, was ich gewinnbringend leisten kann. Und so steigt die Gesamteffizienz des Systems.

Grundlegend ging es der Regierung darum, Kosten zu sparen und angebliche „Misswirtschaft“ der Krankenhäuser zu verhindern. Diese erhielten zuvor Festbeträge pro Patient:in und Tag, öffentliche Kliniken mussten keine Profite erwirtschaften. Doch der internationale Trend der Angriffe auf die öffentliche Daseinsvorsorge setzte sich unter Schröder verstärkt auch in Deutschland durch. Krankenkassen und Regierung warnten vor „Kostenexplosionen“ im Gesundheitswesen, weswegen Krankenhausaufenthalte so kurz wie möglich gemacht werden sollten.

Ein vorgeschobener Grund war eine dadurch angeblich bessere und effizientere Behandlung der Patient:innen. Seitdem werden Patient:innen in verschiedene „Hauptdiagnosen“ eingeteilt, für die es unterschiedliche Finanzierung gibt. Die Krankenhäuser sollten schwarze Zahlen schreiben und miteinander in den Wettbewerb treten. Wie Michael Simon im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung feststellte, handelte es sich „vor allem um ein System zur Deckelung der Gesamtausgaben“. Die DRGs waren lediglich ein Vorwand für eine Umverteilung, „überdurchschnittliche Kosten aufgrund überdurchschnittlicher Qualität“ wurden finanziell bestraft.

Das Ergebnis war eine absolute Katastrophe. Die Überlastung des Personals stieg ins Unermessliche, Abbruchquoten bei Azubis liegen im Krankenhaus weit über dem Durchschnitt, viele Beschäftigte plagen Burnout, chronische Schmerzen und Depression.

In den letzten 30 Jahren wurden in Deutschland ein Viertel aller Krankenhäuser geschlossen. In bestimmten Bereichen, wie der Pädiatrie, die derzeit akut in den Schlagzeilen steht, beträgt die Zahl der Schließungen ebenfalls etwas mehr als ein Fünftel. Die Geburtshilfe befindet sich in einer noch drastischeren Situation: Über 50 Prozent der Kreißsäle wurden seit 1990 geschlossen, obwohl sich die Beschäftigten dagegen wehren, wie derzeit im Klinikum Neuperlach in München.

Lauterbach und die SPD wissen das alles. Die Fakten liegen vor, Beschäftigte wie die Krankenhausbewegungen machen seit Jahren darauf aufmerksam. Doch sie wissen auch, wie groß der Unmut ist, gerade seit der Corona-Pandemie, und dass sie etwas tun müssen, um ihr Gesicht zu wahren.

Verbesserungen trotz Fallpauschalen?

Was schlägt die SPD also vor, wie soll Lauterbachs „Revolution“ aussehen? Die Analyse der Regierungskommission lautet, Fallpauschalen und Ökonomisierung seien das Problem der gegenwärtigen Krise des Gesundheitssystems. Trotz derartiger Diagnose erklärt Lauterbach mit dem Reformvorschlag, dass die „Überwindung der Fallpauschalen“, die Lauterbach noch im Oktober versprochen hatte, vom Tisch ist.

Die Reform beinhaltet eine neue Einteilung der unterschiedlichen Bereiche der Gesundheitsversorgung. Das Pflegebudget, das die Krankenhäuser selbst für ihre Personalkosten verantwortlich macht, bleibt bestehen. Die Kliniken sollen im Wesentlichen in drei Level eingestuft werden: Grundversorgung, Regel- und Schwerpunktversorgung und Maximalversorgung. Die medizinischen Fachbereiche sollen in diesem Rahmen in Leistungsgruppen unterteilt werden. Die neue Kategorisierung soll nun mit einer Vorhaltefinanzierung einhergehen. Das bedeutet, dass die Krankenhäuser unabhängig von den tatsächlich geleisteten Behandlungen Gelder erhalten, um etwa Personal und Medizintechnik bereitzustellen, also vorzuhalten. In der Regel sind nun 40 Prozent der Finanzierung für Vorhaltekosten vorgesehen. In bestimmten Bereichen wie der Intensivmedizin oder der Geburtshilfe sollen es 60 Prozent sein.

Das unausgesprochene Ziel der Reform ist es, durch „Zentralisierung“ weitere Krankenhäuser schließen zu können. Indem nun nicht mehr nur Geld fließen soll, wenn eine stationäre Behandlung stattfindet, soll der Anreiz erhöht werden, Patient:innen wenn möglich nur mehr ambulant zu behandeln. Die Krankenhausbewegung NRW nennt die erwähnten Leistungsgruppen und Ambulantisierung „Euphemismen für Krankenhausschließungen“. Sie dienten der Konzentration der Gesundheitsversorgung auf wenige große Häuser.

Gesundheitsminister Lauterbach, ein Mann seiner Klasse

Manche könnte überraschen, dass Lauterbachs „Revolution“ am Ende nur ein halbherziger Vorstoß ist. Schließlich ist der SPD-Mann im Gegensatz zu seinem Vorgänger Spahn kein Pharmalobbyist sondern Arzt. Doch er und die Ampel sind nicht angetreten, um uns vom Neoliberalismus und dem Sozialabbau zu erlösen. Vor 20 Jahren initiierte Lauterbachs SPD die Tragödie der Fallpauschalen schließlich selbst. Karl Lauterbach ist selbst eine treibende Figur in der Zerstörung unseres Gesundheitswesens. Zuerst brach er ihm die Arme und nun bietet er ein Pflaster an.

Bezeichnend ist dabei, dass Lauterbach zur Zeit der Agenda 2010, die DRGs als linkes Projekt bezeichnete. Lauterbachs Verachtung für den Zugang ärmerer Menschen zu guter Gesundheitsversorgung zeigte sich ebenfalls in seiner Unterstützung der bis 2013 geltenden Praxisgebühren. So weit, wie es sich manche erhoffen, ist er wohl doch nicht von Jens Spahn entfernt.

Mit der Krankenhausreform wiederholt sich nun dasselbe Spiel wie erst kürzlich bei Hartz IV und dem Bürgergeld. Erst sorgt die SPD für eine massive Verschlechterung, verspricht viele Jahre später, es besser zu machen und legt am Ende doch nur eine Mini-Reform vor – und will sich dafür auch noch feiern lassen.

Unabhängig Kämpfen für gute Arbeit und Versorgung

Fakt ist also: Um ein bedürfnisorientiertes Gesundheitssystem mit guten Arbeitsbedingungen zu bekommen, können wir nicht auf die Ampel und Lauterbach setzen. Die Kolleg:innen in den Krankenhausbewegungen in Berlin und Nordrhein-Westfalen machen seit langer Zeit vor, wie es geht, für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen – und damit auch für bessere Patient:innenversorgung. Auch der Widerstand der Hebammen im Klinikum Neuperlach im Münchner Osten gegen die Schließung ihres Kreißsaals ist ein Beispiel dafür, dass die Politik der Schließungen nicht alternativlos ist.

Es ist höchste Zeit, dass das Fallpauschalensystem endlich restlos abgeschafft wird. Doch auch dieser Schritt ist nur einer von vielen auf dem Weg hin zu einem Gesundheitssystem ohne Profite, das demokratisch geplant und verwaltet ist, und in dem die Bedürfnisse von Beschäftigten und Patient:innen im Mittelpunkt stehen. Das werden wir nur gegen die SPD erkämpfen können.

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