Kapitalismus produziert immer Rassismus

09.06.2020, Lesezeit 15 Min.
Gastbeitrag
Übersetzung:

Eine neue Welle antirassistischer Aktivist*innen protestiert auf den Straßen und stellt sich gegen Polizeigewalt. Dies unterstreicht die Bedeutung theoretischer Perspektiven, die Rassismus als integralen Bestandteil des Kapitalismus verstehen. Diese Perspektiven müssen über eine Identitätspolitik hinausgehen, welche die Rolle der Klassenunterschiede bei der Aufrechterhaltung des Rassismus nicht anerkennt. Ein Gastbeitrag von Sam Miller.

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Menschen auf der ganzen Welt erheben sich, um gegen den unverhohlenen, rassistischen Mord an George Floyd durch den (inzwischen ehemaligen) Polizisten Derek Chauvin zu protestieren. Von Minneapolis bis Neuseeland brechen Abertausende von Menschen die Quarantäne, um sich zusammenzuschließen und Veränderungen zu fordern. Viele sind auf den Straßen mit Schildern zu sehen, auf denen steht: „Das System muss sich ändern!“ oder „Das gesamte System ist rassistisch!“. Da so viele ihre Empörung über „das System“ zum Ausdruck bringen, ist es wichtig zu verstehen, was dieses System ist und welche Rolle es bei der Schaffung, Reproduktion und Aufrechterhaltung von Rassismus und Polizeigewalt gegen Schwarze und Braune spielt. Dieses System ist Kapitalismus.

Rassismus hat in der Klassengesellschaft schon immer existiert, aber nicht immer in der gleichen Form. Er ist integraler Bestandteil der Geschichte des Kapitalismus und kann nicht von seiner Entwicklung getrennt werden. Rassismus war – und ist immer noch – eine ideologische Rechtfertigung für Kolonialkrieg und Eroberung. Tatsächlich war die Institution der Sklaverei die notwendige Voraussetzung für die Entwicklung der modernen Industrie. Wie Marx in „Das Elend der Philosophie“ darlegte:

Die Sklaverei ist eine ökonomische Kategorie wie eine andere. […] Wohlverstanden, es handelt sich hier nur um die direkte Sklaverei, um die Sklaverei der Schwarzen in Surinam, in Brasilien, in den Südstaaten Nordamerikas. Die direkte Sklaverei ist der Angelpunkt der bürgerlichen Industrie, ebenso wie die Maschinen etc. Ohne Sklaverei keine Baumwolle; ohne Baumwolle keine moderne Industrie. Nur die Sklaverei hat den Kolonien ihren Wert gegeben; die Kolonien haben den Welthandel geschaffen; und der Welthandel ist die Bedingung der Großindustrie. So ist die Sklaverei eine ökonomische Kategorie von der höchsten Wichtigkeit.

Aus der Sicht von Marx wären die Voraussetzungen der kapitalistischen Entwicklung ohne die Existenz des Sklavenhandels unverständlich; daher ist es anti-historisch, die Ausbreitung des Kapitalismus von Sklaverei und Rassismus zu trennen. Aber Rassismus ist nicht nur Teil der Vorgeschichte oder Vergangenheit des Kapitalismus, sondern auch Teil seiner gegenwärtigen Realität. Die herrschende Klasse ist vom Rassismus abhängig, um ihre Herrschaft und Macht zu sichern.

Damit der Kapitalismus funktionieren kann, muss es eine herrschende Klasse und eine Arbeiter*innenklasse geben – die Bourgeoisie und das Proletariat. Die Bourgeoisie sind diejenigen, die die Produktionsmittel besitzen, und sie trifft Entscheidungen, die alle betreffen. Die Arbeiter*innenklasse produziert gesellschaftlichen Reichtum, aber der Kapitalismus trennt sie davon. Das ist, was Marx Entfremdung nennt: ein Prozess, der die Arbeiter*innen von den Produkten ihrer Arbeit trennt und sie im Akt des Produzierens selbst unterdrückt. Der von den Arbeiter*innen geschaffene Wert wird nicht für menschliche Bedürfnisse produziert, sondern für den Profit.

Der Kapitalismus schafft Spaltungen innerhalb der Arbeiter*innenklasse – denn die größte Bedrohung für die Macht der herrschenden Klasse wäre die globale Einheit des multiethnischen Proletariats. Marx und Engels erklärten im Kommunistischen Manifest, dass die Arbeiter*innen außer ihren Ketten nichts zu verlieren hätten und dass die Arbeiter*innen der Welt sich vereinigen müssten. Um jedoch eine künstliche Spaltung zu schaffen, versucht die herrschende Klasse, weiße Arbeiter*innen gegen Schwarze und Braune Arbeiter*innen auszuspielen. Der Kapitalismus stellt auch weiße Arbeiter*innen gegen asiatische Niedriglohnarbeiter*innen (d.h. bei der Auslagerung der Produktion). Die herrschende Klasse versucht die weißen Arbeiter*innen davon zu überzeugen, dass es in ihrem besten Interesse liegt, Minderheiten zu fürchten und zu verachten und sich hinter die Interessen ihrer Bosse zu stellen. Indem sich die weißen Arbeiter*innen mit der Bourgeoisie identifizieren, können sie hoffen, ihrem Zustand zu entkommen und sozusagen „auf der Karriereleiter nach oben zu steigen“. Natürlich kann die weiße Arbeiter*innenklasse als Ganzes nicht in die Reihen der Bourgeoisie aufsteigen. Das rassistisch begründete Privileg erlaubt es jedoch einigen – typischerweise denen, die den Interessen der Eliten am loyalsten gegenüberstehen –, leichter aufzusteigen als Schwarzen und Braunen Arbeiter*innen. Geht es also um die Unternehmenswelt, überwiegen weiße Männer in Management- und Führungspositionen.

Selbst in Bezug auf Positionen ohne Führungsaufgaben erklärt Keeanga-Yamahtta Taylor folgendes:

Weiße Männer mit Vorstrafen werden mit gleicher Wahrscheinlichkeit eingestellt wie Männer ohne Vorstrafen… Man kann sich nur vorstellen, wie gering die Aussichten auf legitime Arbeit für Schwarze Männer sind, die aus dem Gefängnis kommen. Das gesamte Strafrechtssystem funktioniert auf Kosten der afroamerikanischen Gemeinschaften und der Gesellschaft als Ganzes.

Es wäre blanker Idealismus zu glauben, dass weiße Arbeiter*innen selbst nicht rassistisch sein können oder nicht materiell vom Rassismus profitieren. Rassismus ist nicht nur eine Reihe von schlechten Ideen, die abstrakt gelehrt und vermittelt werden, sondern hat eine materielle Realität, die weiße Arbeiter*innen dazu bringt, ihn zu akzeptieren. Im Vergleich zu Schwarzen und Braunen Arbeiter*innen haben daher viele weiße Arbeiter*innen Zugang zu besseren Arbeitsplätzen, besseren Häusern, besseren Schulen für ihre Kinder und leben in weniger verschmutzten Vierteln. Wenn es darum geht in der Nähe von umweltschädlichen Gebieten zu leben, ist die Ethnie der größte Indikator dafür, wer darunter zu leiden hat.

Zu diesen konkreten Beispielen für Privilegien gehört auch der tägliche psychologische und emotionale Komfort, den Weiße erfahren, während Schwarze um ihr Leben fürchten. Weiße Arbeiter*innen werden nicht so stark von der Polizei oder den repressiven Sicherheitskräften ins Visier genommen, auch wenn arme Weiße viel häufiger Opfer der Polizei werden als die weiße Mittelschicht. Solche materiellen und rassischen Ungleichheiten halten die Arbeiter*innen voneinander entfremdet und hindern sie daran, sich in einem multiethnischen Kampf zum Sturz des Kapitalismus zusammenzuschließen.

Die Arbeiter*innenklasse ist keine homogene Einheit. Sie enthält eine Vielfalt ethnischer Identitäten sowie unterschiedliche Niveaus der Arbeitsplatzsicherheit und des Einkommens. Diese Unterschiede müssen anerkannt und verarbeitet werden, bevor die Einheit erreicht werden kann. Unabhängig von ihrer Ethnie, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung haben die Arbeiter*innen jedoch niemals dieselben materiellen Interessen wie diejenigen, die sie ausbeuten, nämlich die Bourgeoisie.

Im Großen und Ganzen genießen weiße Arbeiter*innen einen besseren Lebensstandard als ihre Schwarzen und Braunen Kolleg*innen, aber ökonomisch haben sie viel mehr mit ihnen gemeinsam als mit Jeff Bezos, Bill Gates und Mark Zuckerberg. Ähnlich haben in Bezug auf Klasse Schwarze und Braune Arbeiter*innen mehr mit weißen Arbeiter*innen gemeinsam als mit den Schwarzen Eliten. Wie Taylor hervorhebt: „Tatsächlich ist die Kluft zwischen Arm und Reich bei Schwarzen noch ausgeprägter als bei Weißen. Die reichsten Weißen sind 74 Mal reicher als die durchschnittliche weiße Familie. Aber unter den Afroamerikaner*innen verfügen die reichsten Familien über einen schwindelerregenden 200 Mal höheren Reichtum als die durchschnittliche Schwarze Familie“. Diese Gemeinsamkeit in Bezug auf Klasse sollte die vereinigende Kraft zwischen Arbeiter*innen aller Ethnien sein, gegen ihre Unterdrückung zu kämpfen.

Die Einheit der Arbeiter*innenklasse ist nicht die Botschaft der neoliberalen Identitätspolitik. Diese Politik argumentiert, dass soziale Probleme ohne die Dimension der Klasse auf „Rasse“ oder Geschlecht reduziert werden können. Stattdessen geht diese Art von Liberalismus davon aus, dass der Kapitalismus eine dauerhafte Realität ist und dass der beste Ansatz zur Unterdrückung des Rassismus darin besteht, dass die Weißen „ihre Privilegien überprüfen“. Aber die bloße Kritik oder Überprüfung von Privilegien trägt nicht dazu bei, die realen Bedingungen abzuschaffen, die durch rassistische Unterschiede geschaffen werden. Wir wollen die Privilegien nicht einfach nur „überprüfen“, genauso wenig wie wir wollen, dass Donald Trump nachdenklicher oder netter darüber ist, wie er mit denen umgeht, die er unterdrückt. Das ändert nichts an der sozialen Realität des Kapitalismus oder Rassismus.

Weiße Arbeiter*innen können vom Rassismus profitieren und tun es auch. Nichtsdestotrotz liegt es in ihrem klaren Interesse, das kapitalistische System zu stürzen, anstatt sich mit den Krümeln zu begnügen, die ihnen vom Tisch der herrschenden Klasse zugeworfen werden. Diese Abfälle werden von Jahr zu Jahr kleiner. Die miteinander verbundenen Drohungen mit Sparmaßnahmen, Arbeitslosigkeit und Umweltkrisen setzen den Bestechungsgeldern, die die herrschende Klasse den weißen Arbeiter*innen anbieten kann, harte Grenzen.

Im Gegensatz zu dem, was viele Liberale sagen, ist Rassismus nicht angeboren. Er ist keine Erbsünde. Stattdessen brauchen wir ein historisch-materialistisches Verständnis von Rassismus als etwas, das am Punkt der Produktion entsteht. Die Produktionsweise, in der wir leben, ist der Kapitalismus: Alle Aspekte des Lebens sind in seine Logik eingetaucht. Das ist es, was Marx mit dem „gesellschaftlichen Sein“ meinte, welches das „gesellschaftliche Bewusstsein“ bestimmt. Da Rassismus ein notwendiges Produkt der Klassengesellschaft ist, reproduziert er sich überall, von zu Hause über die Schule bis zur Arbeit. Er wird benutzt, um Arbeiter*innen daran zu hindern, den Status quo in Frage zu stellen. Der Liberalismus, mit seiner Verleugnung der Realitäten der Klassengesellschaft, verfehlt den Punkt (der Produktion); die Liberalen verstärken die Klassenrealität, die Rassismus produziert, entweder unbeabsichtigt oder als willige Kompliz*innen der Bourgeoisie. Diejenigen, die sich über Rassismus äußern, können es sich nicht leisten, über den Kapitalismus zu schweigen. Wie Malcolm X ergreifend feststellte, „kann es keinen Rassismus ohne Kapitalismus geben“.

Als Marxist*innen verstehen wir, dass keine herrschende Klasse in der Geschichte jemals bereitwillig ihre Macht aufgegeben hat. „Kein Teufel hat jemals freiwillig seine Krallen beschnitten.“ Wir müssen erkennen, dass diejenigen an der Spitze alles tun werden, um ihre Macht zu schützen, einschließlich der völligen Missachtung des Lebens von Schwarzen und Braunen durch die Polizei.

Alle Polizist*innen sind bürgerlich

Es gibt Agent*innen der herrschenden Klasse, deren Aufgabe der Schutz des Privateigentums und die Bewahrung des Kapitalismus und damit des Rassismus ist, darunter auch die Polizei. Bei der Bewahrung des gegenwärtigen Zustandes hält die Polizei notwendigerweise die rassistischen Unterschiede aufrecht. Daher ist es keine Überraschung, dass es in den Vereinigten Staaten eine lange Geschichte der Polizeibrutalität gegen die Schwarze Gemeinschaft gibt.

Polizeigewalt ist nicht neu, und um ihre Auswirkungen zu verstehen, muss man in die Vergangenheit blicken. Im 19. Jahrhundert nahm die Polizeibrutalität dramatisch zu. Dies war eine Reaktion auf die Bemühungen der „Radikalen Republikaner“ und befreiter Schwarzer. Zu dieser Zeit in der US-amerikanischen Geschichte bedeutete Radikaler Republikanismus natürlich etwas ganz anderes als Donald Trump und Steve Bannon. Die Radikalen Republikaner, angeführt von Thaddeus Stevens, waren eine Gruppe von Politiker*innen, die sich vor dem Bürger*innenkrieg zusammenfanden, um für ein Ende der Sklaverei zu kämpfen und die demokratischen Rechte der befreiten Schwarzen zu stärken. Nach dem Bürger*innenkrieg verfügten die Radikalen Republikaner über eine Mehrheit im Kongress und setzten sich vehement für Gleichberechtigung ein. Sie kämpften für die Amtsenthebung von Präsident Andrew Johnson, scheiterten jedoch bei der Abstimmung im Senat, ihn im anschließenden Prozess zu verurteilen.

1865 unterstützte Präsident Johnson die neu verabschiedeten „Black Codes“. Diese Gesetze regelten und kontrollierten das Verhalten der Schwarzen in hohem Maße, schränkten ihre Freiheiten ein und zwangen sie, für niedrige Löhne zu arbeiten. Nach diesen Gesetzbüchern hatten weiße Bosse das Recht, Schwarze Arbeiter*innen körperlich zu schlagen und zu bestrafen, während es für Schwarze illegal war, Waffen zu tragen. 1872 schloss sich Präsident Johnson den rassistischen weißen Südstaatlern an und schloss das „Freedmen’s Bureau“, eine Organisation, die den Schwarzen half, wirtschaftliche Ressourcen, Bildung und politische Freiheit zu erlangen. Mit diesen Maßnahmen sorgte Johnson dafür, dass das Wahlrecht der freigelassenen männlichen Sklaven hinfällig wurde. Die Polizei des Südens setzte zusammen mit dem Ku-Klux-Klan Gewalt ein, um ehemalige Sklav*innen an der Ausübung ihrer Rechte zu hindern. Ebenso weigerte sich Präsident Johnson, zum Schutz der Schwarzen und zur Durchsetzung des Gesetzes einzugreifen.

In den 1870er Jahren legten die Demokratische Partei, rechtsgerichtete Republikaner zusammen mit rassistischen Polizeikräften und dem Ku-Klux-Klan, die Grundlagen für die Jim-Crow-Gesetze. Diese Gesetze institutionalisierten die rassistische Segregation und setzten Schwarze exzessiver Gewalt und Brutalität aus, darunter auch Lynchmorde. Dadurch wurden Schwarze ihrer grundlegendsten Menschenrechte beraubt. Polizeibrutalität ist heute lediglich eine Fortsetzung der rassistischen, gewalttätigen Politik, die seit Hunderten von Jahren besteht.

Bis heute verlässt sich die herrschende Klasse auf die Polizei, um den Status quo der Klassengesellschaft aufrechtzuerhalten und die Schwarzen und Braunen weiter zu entmenschlichen. Der Philosoph Jean-Paul Sartre fasste das Wesen der Polizei wie folgt zusammen: „Polizisten werden niemals zum Schutz von Leben geschickt. Ihre Aufgabe ist es, Eigentum zu schützen und den Status quo zu verteidigen, daher sind sie ihrem Wesen nach gewalttätig“.

Diese Einschätzung ist unabhängig von den Einstellungen oder Absichten individueller Polizist*innen oder mit der Tatsache, dass einige Polizist*innen ethnischen Minderheiten angehören. In den frühen 1930er Jahren argumentierten deutsche Sozialdemokraten, dass die Polizei Teil der Arbeiter*innenklasse sei, weil Arbeiter*innen zur Polizei gingen. Trotzki wies schnell auf das Gegenteil hin:

Der Umstand, daß die Polizisten in bedeutender Zahl unter sozialdemokratischen Arbeitern rekrutiert wurden, will ganz und gar nichts besagen. Auch hier wird das Denken vom Sein bestimmt. Die Arbeiter, die Polizisten im Dienst des kapitalistischen Staates geworden sind, sind bürgerliche Polizisten und nicht Arbeiter.

Hin zur multiethnischen Einheit der Klasse

Nur unter dem Sozialismus werden die Schwarzen und Braunen – und alle Minderheiten – die vollständige Befreiung erreichen. Eine sozialistische Gesellschaft würde von der großen Mehrheit der Menschen demokratisch geführt werden und nicht für den Profit und die Macht einiger weniger. Ohne die Existenz der Bourgeoisie würden Arbeiter*innen aller Ethnien kollektiv Industrien, Bauernhöfe und Büros betreiben. Anstatt die Arbeit auf die Maximierung des Profits auszurichten, würde die Arbeit auf den Wohlstand und das Wohlergehen aller ausgerichtet sein.

Hunderte von Jahren Rassismus werden nicht sofort über Nacht verschwinden, auch nicht nach einer sozialistischen Revolution. Marx sagte, dass die Arbeiter*innen in der ersten Phase der neuen Gesellschaft noch mit den „Muttermalen der alten Gesellschaft“ behaftet sein werden. Das bezieht sich auf verinnerlichte Vorurteile, die vom Kapitalismus geerbt wurden. Die materiellen Bedingungen für Rassismus würden jedoch beseitigt werden. Wirtschaftliche Ungleichheit, Ungleichheiten in der Bildung, Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten, Mangel an angemessener medizinischer Versorgung und schlechte Lebensbedingungen würden verringert und schließlich beseitigt, wodurch die Grundlagen für Rassismus beseitigt würden.

Erwähnenswert ist, dass George Floyd ursprünglich verhaftet wurde, weil er während einer Pandemie angeblich einen gefälschten 20-Dollar-Schein zum Einkaufen von Lebensmitteln verwendet haben soll – und dann dafür brutal hingerichtet wurde. Ohne die materiellen Bedingungen, die den Rassismus schüren, würde ein solcher Akt der Ungerechtigkeit nicht geschehen.

Niemand wird leugnen, dass Rassismus unter weißen Arbeiter*innen im täglichen Leben existiert. Makro- und Mikroaggressionen gegen Schwarze und Braune sind real, und sie müssen bewusst bekämpft werden. Weiße Arbeiter*innen leiden unter dem, was Gramsci „gemischtes“ oder „widersprüchliches Bewusstsein“ nannte: Dieses Bewusstsein enthält progressive und reaktionäre Elemente. Einerseits kann ein weißer Arbeiter progressive Ideen wie den Schuldenerlass und eine bessere Gesundheitsversorgung unterstützen. Andererseits kann ein und derselbe Arbeiter rassistische Einstellungen beherbergen und nach ihnen agieren, sich mit reaktionären Politikern wie Donald Trump identifizieren und Minderheiten für soziale Probleme zum Sündenbock machen. Gramsci begriff, dass man ein solch widersprüchliches Bewusstsein nur durch Bildung und politischen Kampf überwinden kann. Das beste Mittel für weiße Arbeiter*innen, um ihr widersprüchliches Bewusstsein und ihre Vorurteile zu überwinden, besteht nicht nur darin, sich ihrer rassistischen Einstellungen und Handlungen bewusst zu sein, sondern auch darin, sich ihren nicht-weißen Kolleg*innen im Klassenkampf anzuschließen.

Für uns Marxist*innen gibt es zwei Arten von Idealismus, die wir vermeiden müssen: Die erste ist der Klassenreduktionismus. Dieser erkennt nicht die Art und Weise an, in der weiße Arbeiter*innen materiell mehr Vorteile haben als andere. Er behandelt die Arbeiter*innenklasse als eine homogene Einheit ohne interne Unterschiede. Die zweite Art von Idealismus ist die der liberalen Identitätspolitik. Sie begeht den entgegengesetzten Fehler, indem sie sich ausschließlich auf rassistische Unterschiede konzentriert und Klasse vernachlässigt und vorgibt, dass erstere nicht (letztlich) durch letztere verursacht werden.

Wenn liberale Identitätspolitik richtig ist, dann liegt Marx falsch. Wenn Rassismus niemals durch die Anerkennung unserer gemeinsamen, materiellen Interessen überwunden werden kann, dann gibt es keinen Grund für die Arbeiter*innen, sich jemals zu vereinigen. Pervers hierbei ist, dass dies die Logik eines unvermeidlichen „Rassenkrieges“ darstellt. Ironischerweise geraten die weißen Liberalen durch ihren eigenen Pessimismus in eine reaktionäre Falle und verdinglichen den „Rassen“-Antagonismus. Hier hat ihr Diskurs unheimliche Ähnlichkeiten mit der alt-right, die „Rasse“ als eine echte biologische oder metaphysische Kraft beschreiben. Entgegen sowohl liberalen als auch reaktionären Behauptungen kostet das rassische Privileg die weißen Arbeiter*innen mehr, als es ihnen nützt. Ausgebeutet zu werden und unter dem Felsen des Kapitalismus festzusitzen, kostet mehr ihr Leben und ihr Wohlergehen, als sich mit einem rassistischen Klassensystem zu identifizieren.

Zwar werden nicht alle Arbeiter*innen in gleichem Maße unterdrückt, aber die gesamte internationale Arbeiter*innenklasse hat das gleiche Verhältnis zu den Produktionsmitteln, unabhängig von ihrer Ethnie, ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Religion oder ihrer Sprache, die sie sprechen. Klasse ist die wirkliche materielle Grundlage der Einheit der Arbeiter*innenklasse, einschließlich der multiethnischen Einheit. Ohne die multiethnische Einheit werden wir die Unterdrückten nicht befreien.

Was wir jetzt auf den Straßen sehen, ist multiethnische Einheit im Kampf gegen Ungerechtigkeit. Das ist nur der Beginn einer neuen Phase des Klassenkampfes in den USA und darüber hinaus. Lasst die herrschenden Klassen in Angst zusehen. Die Proletarier*innen aller Ethnien haben nichts zu verlieren außer ihren Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch bei Left Voice.

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