Jungle World möchte keine linken Juden*Jüdinnen in Berlin haben

18.02.2017, Lesezeit 6 Min.
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Eine selbsternannte linke Zeitung stellt klar: Sie mag den Staat Israel, aber hasst linke Israelis.

Die israelische Community in Berlin wächst seit Jahren – inzwischen leben 30.000 oder mehr Israelis in der deutschen Hauptstadt. Innerhalb dieser Community ist das gesamte politische Spektrum Israels vertreten (bis auf die rechtsextreme Siedler*innenbewegung). Doch verständlicherweise sind die Berliner Israelis tendenziell etwas linker und liberaler als in Israel selbst. Manche wandern aus, weil sie vom unaufhaltsamen Rechtsruck der israelischen Politik und Gesellschaft angeekelt sind – andere verstehen sich als „unpolitisch“, aber wollen den explodierenden Lebenshaltungskosten entkommen. Unter den Auswanderer*innen ist die radikale Linke Israels ist gut vertreten: Anarchist*innen, Trotzkist*innen, Pazifist*innen, Linksliberale, Queer-Aktivist*innen… Alles dabei.

Wir als Linke freuen uns riesig über israelische Mitstreiter*innen. Die israelische Demonstration gegen den Gaza-Krieg im Juli 2014 war ein vorbildliches Zeichen der internationalen Solidarität gegen Krieg.

Aber nicht alle freuen sich auf die neuen jüdischen Nachbar*innen. Die Wochenzeitung „Jungle World“, die sich einst als links verstanden hat, und jetzt vor allem als israelfreundlich, mag diese jungen Israelis gar nicht in Deutschland sehen. Im Artikel „Die Irren von Zion“ aus der neuen Ausgabe werden linke Juden*Jüdinnen als „meschuggene“ und „Irre“ diffamiert. Um diesen Eindruck zu vermitteln, schreckt der Autor nicht einmal vor der Verbreitung nachweisbarer Lügen über die linke israelische Szene in der Stadt zurück. Deshalb wurde von einigen Israelis schon eine Beschwerde beim Presserat eingereicht.

Der Autor Ralf Balke zitiert einen befreundeten Journalisten, Frederik Schindler. Jene Israelis, die ihre rechte bis rechtsextreme Koalitionsregierung nicht mögen, werden als verrückt und geltungssüchtig dargestellt. Die beiden Kartoffel-Autoren mögen lieber „normale Israelis“. Aber was verstehen sie unter „normal“? Das erfahren wir leider nicht.

Pikant: Als Zielscheibe ihrer Hetze hat die Jungle World mit Yossi Bartal und Liad Hussein Kantorowicz zwei prominente Queer-Aktivist*innen ausgesucht. Sie sind eben nicht „normal“.

Also, liebe Jungle World-Leuten, erklärt uns doch bitte, wie sich „normale“ Juden*Jüdinnen in Deutschland zu verhalten haben. Sie müssen anscheinend hetero sein? „Ihr“ Land, „ihre“ Armee und „ihre“ Regierung lieben? Das heißt, sie sollten lieber gar nicht erst nach Berlin kommen? Müssen sie Likud wählen, oder geht zur Not die Zionistische Union auch? Und nur unter der Bedingung werdet ihr ihre politische Meinungen ernst nehmen?

Die einzelnen vagen Vorwürfe – etwa über gewaltsame Übergriffe, die nie stattgefunden haben – haben die Betroffenen selbst gut entkräftet (siehe unten).

In diesem kurzen Artikel sehen wir die ganze Heuchelei der „Israelsolidarität“ des deutschen Establishments. In bester antisemitischer Tradition will man die Juden*Jüdinnen als homogenes, zentral gesteuertes Kollektiv vorstellen. Früher dachte man an die Weisen von Zion – heute heißt es, alle Juden*Jüdinnen müssen hinter dem Staat Israel stehen. Und wer es wagt, anti-nationalistisch, internationalistisch oder links zu sein, wird als psychisch krank abgestempelt.

Das geht inzwischen so weit, dass Antisemitismus umdefiniert wird – er richte sich nicht mehr gegen Juden*Jüdinnen, sondern gegen jegliche Freunde des Staates Israel. So kann eine deutsche Adelige behaupten, „antisemitisch verhetzt“ worden zu sein, und zwar von Juden*Jüdinnen. Ein linker Raum in Neukölln kann deklarieren, dass gar keine linken Israelis erwünscht sind – ein Politiker der Linkspartei kann auf linke Israelis einschlagen – und sowas im Namen des Kampfes gegen Antisemitismus!

Wir möchten linke Israelis – genauso wie Palästinenser*innen – eine Plattform bieten, um von ihren Kämpfen und ihren Ideen zu erzählen. Wir finden es eine unglaubliche Bereicherung für die Berliner Linke, dass so viele Aktivist*innen aus der Region hier leben, und wir möchten so viel Austausch wie möglich. Auch wenn wir dafür gegen die BILD-Zeitung und die Jungle World kämpfen müssen.

Einer der Betroffenen veröffentlichte bereits eine Richtigstellung auf Facebook:

Kurz zusammengefasst – alle nachweisbaren Lügen im Jungle-World Artikel über die verrückten linken Juden von Berlin:

1) „Die Kritik an Pinkwashing behauptet: ;­Israel schütze die Rechte von Schwulen, Lesben und anderen LGBTI-Menschen nur, um vom eigenen Fehlverhalten in den sogenannter besetzten Gebieten abzulenken.'“

Diesen Vorwurf gibt es nicht. Der Vorwurf des Pinkwashing lautet, dass der Kampf zur Erreichung solcher Rechte missachtet und durch den Staat vereinnahmt wird, er lautet nicht, dass der Staat Israel bewusst und in verschwörerischer Absicht solche Rechte verankert.

2) „Eine Gruppe ‚Pinkwashing-Aktivisten‘, (…) beleidigte Referent und Publikum als ‚alte, schwule und weiße Männer‘“

Selbst laut einem fragwürdigen Bericht, der diesen Satz angeblich dokumentierte, geschah dieses Kommentar in einem Gespräch nach Ende der Veranstaltung. Wie überhaupt hätte der 23-jährige Referent als alt beschimpft werden können?

3) „Antizionistische linke Israelis verhängen ‚Sprechverbote'“

Wo ist ein solches Verbot verhängt worden? Wann? Und mehrmals?

4) „Diskussionen über Inhalte finden nicht statt und werden durch Aktionen wie beispielsweise das mitunter gewaltsame Stören von LGBTI-Stadtfesten ersetzt, sobald sich Vertreter*innen Israels angekündigt haben.“

Während des Stadtfestes im Motzstraßenkiez im vergangenen Jahr hat es keinerlei Einsatz von Gewalt gegeben. Im Gegenteil handelte es sich um einen demokratisch legitimen, friedlichen Protest vor dem Stand der israelischen Botschaft in Form einer Die-In-Aktion, in deren Verlauf sich Menschen symbolhaft auf die Straße legten. Während des CSD-Umzugs wurden die Aktivist_innen wegen ihres friedlichen Protests ihrerseits tätlich angegriffen. Einige der anti-palästinensischen Angreifer wurden sogar von der Polizei kurz festgenommen.

5) „‚Pinkwashing-Aktivisten‘ packen in der U-Bahn auch schon mal Brotmesser sowie Scheren aus und fuchteln damit vor anderen Fahrgästen rum. Auf diese Weise will man, wie es auf dem Facebook-Profil von Kantorowicz zu lesen ist, ‚weiße Privilegien‘ herausfordern.“

Diese Behauptung ist verleumderisch. Der Schreiber bezieht sich hier auf einen Post von Liads Facebook-Profil, in dem sie beschreibt, wie sie in einem Waggon der U-Bahn mit einem Messer Requisiten für eine Performance zubereitet hat. Es gibt keine Erwähnung von Herumfuchteln vor anderen Fahrgästen oder der Herausforderung weißer Privilegien, im Gegenteil beschreibt sie, zu welchem Maß sie ihr eigenes weißes Privileg auslebt, indem sie ohne Angst vor Repression mit einem Messer in der Öffentlichkeit arbeiten kann.

6) „Sie hätten der israelischen Gesellschaft, die sich nach den Worten des BDS-Propagandisten Yossi Bartal sowieso ‚am Rande der Apokalypse bewegt‘, den Rücken gekehrt.“

Dieses Zitat aus dem RLS-Bericht wurde nicht in Bezug auf die israelische Gesellschaft geäußert, sondern in Bezug auf die politische Situation in Israel-Palästina.

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