Interview mit einem französischen Genossen: Was passiert gerade in Frankreich?

05.07.2023, Lesezeit 25 Min.
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Foto: PVNF/Shutterstock

Seit der Hinrichtung von Nahel rebelliert die Jugend in den Arbeiter:innenvierteln in Frankreich. Die Regierung, die sich unter anderem durch die Proteste der vergangenen Wochen in einer tiefen Krise befindet, reagiert mit massiver Repression. Aber wie sieht die Situation vor Ort konkret aus?

Wir veröffentlichen hier die verschriftlichte Version eines Interviews mit Thomas von Révolution Permanente über die aktuelle Lage. (Verschriftlichung ist nicht wörtlich und an einigen Stellen gekürzt) Das ganze Interview im Videoformat findet ihr auf unserem YouTube-Kanal.

Marius (KGK): Was ist in Frankreich los? Letzte Woche hat die Polizei einen jungen Mann, Nahel M., ermordet. Seither erleben wir Gewalt und Aufstände in Frankreich. Ich spreche hier online über Zoom mit Thomas aus Paris, unserem Genossen von Révolution Permanente. Mein Name ist Marius von Klasse Gegen Klasse. Thomas, ich möchte dich fragen, was da bei euch passiert ist? Was war die Reaktion der Regierung? Macron sagte, er finde die Gewalt der Polizei unerklärlich. Aber in Wirklichkeit haben wir die Gewalt schon vorher gesehen. Was also geschieht dort?

Thomas (Révolution Permanente): Wie du sagst, wurde ein 17-jähriger junger Mann von der Polizei in Nanterre getötet. Und wie du auch meintest, versucht Macron aktuell die Leute zu beruhigen. Er hat also zugegeben, dass die Polizisten auf eine verbotene Art und Weise gehandelt haben. Aber er hat es so ausgedrückt, dass es nur dieser eine Einzelfall ist, der eine Ausnahme darstellt, und nicht die gesamte Polizeiarbeit in Frankreich, was absolut falsch ist, denn mehrere Dinge zeigen, dass es sich nicht um einen Unfall handelt, der eigentlich erklärbar ist.

Erstens gibt es eine Menge Rassismus in den Polizeieinrichtungen in Frankreich, wobei Menschen aus den Projekten, z.B. in dem Viertel, in dem auch Nahel lebte, täglich Rassismus erfahren müssen. Es kommt jeden Tag zu Verhaftungen durch die Polizei, wobei willkürlich Identitätskontrollen durchgeführt werden. Es kommt oft vor, dass man von den Polizisten geschlagen wird, wenn man sich einer solchen Durchsuchung widersetzt. Es gibt also diese tägliche Gewalt gegen Jugendliche aus diesem Viertel. Und die Sache ist die, diese Gewalt, die wir in den Projekten sehen: es ist die Gewalt, die wir auch in den französischen Kolonien sehen können, wie in Guadeloupe, in Mayotte, da gab es eine Operation, die begann vor etwa zwei Monaten in Mayotte, bei der es darum ging, Migrant:innen von den Handelsinseln zu jagen, und sie schickten Spezialeinheiten, um Häuser zu zerstören, um Leute zu verprügeln, um Leute zu verjagen, und diese Art von Polizeiarbeit wird immer zuerst an den Leuten ausprobiert, die aus anderen Ländern kommen.

Und dann wird es auch auf die sozialen Bewegungen angewandt und wir haben das bei den Gelbwesten gesehen, wo Leute ein Auge verloren haben wegen Granaten. Diese Gewalt ist also nicht neu. Und es ist ein Teil der Polizeiarbeit in Frankreich.

Was ich auch sagen möchte ist, dass die Gewalt von Seiten der Polizei durch die Tatsache begünstigt wird, dass es eine Menge Straffreiheit für Polizeibeamte gibt und so eine Kultur innerhalb der Polizeikontrolle geschaffen wird, in der man auf einen unbewaffneten jungen Mann schießen kann und keine Konsequenzen für das, was man getan hat, zu spüren bekommt.

Der Verteidiger des Mandanten, also des Polizeibeamten, sagte diesbezüglich, dass er in 31 Jahren noch nie erlebt hat, dass ein Polizeibeamter angeklagt wurde, weil er jemanden erschossen hat. Und für ihn, für den Anwalt, war das ein Schock. Er sagte: „Wie können Sie es wagen, diesen Polizisten anzuklagen?“ Und wenn wir das hören, dann zählen wir in 31 Jahren in Frankreich einige Menschen, die von der Polizei auf die gleiche Weise getötet wurden, und niemand wurde jemals dafür belangt.

Du siehst also, dass es diese Straflosigkeit schon lange gibt. Aber sie wurde 2017 von der Regierung und Hollande verstärkt.  Macron war Teil dieser Regierung als Wirtschaftsminister. Sie schufen ein neues Gesetz, das besagt, dass ein Polizist seine Waffe nicht nur zur Selbstverteidigung benutzen kann, sondern auch auf jemanden schießen kann, wenn er sich weigert, den Anweisungen zu folgen, und so entstand diese Kultur, die darin besteht, die Waffe zu ziehen und ungestraft auf junge Menschen zu schießen.

Was wir bei Nahel M. und ähnlichen Fällen sehen, ist, dass die Polizisten über das, was passiert ist, gelogen haben. Sie sagen, er habe versucht, sie mit dem Auto zu überfahren, sie hätten versucht, sich nur zu schützen. Und nur weil das Video veröffentlicht wurde, sahen die Leute, dass es tatsächlich eine Hinrichtung war und dass sie nicht in Gefahr waren.

Und deshalb wurde so wichtig im politischen Bewusstsein der Franzosen. Das ist auch der Grund, warum Macron am Anfang versucht hat, sich bei der Familie zu entschuldigen und sein Beileid aussprach. „Es hätte nicht passieren dürfen. Das war nur das schlechte Verhalten eines individuellen Polizeibeamten.“ Aber wir wissen, dass es das nicht ist. Es handelt sich um systemische Gewalt und systemischen Rassismus.

Marius: Ja, genau. Wir haben auch die Gewalt der Polizei bei den letzten Reformen gegen die Rente gesehen. Also vielleicht kannst du auch deine Erfahrungen dazu teilen.

Thomas: Während des Streiks für die Renten gab es eine Menge Polizeigewalt, z.B. während der Demonstrationen mit Tränengas und auch als Arbeiter:innen an Streikposten waren. Als sie die Wirtschaft blockierten, die Arbeit blockierten, schickte die Regierung die Polizei, um sie wieder zur Arbeit aufzufordern, bei Weigerung auch mit Gewalt. Die Leute, die gestreikt haben, wurden also von der Regierung mit legalen Mitteln angewiesen, wieder zur Arbeit zu gehen, und wenn sie sich weigerten, kam die Polizei und holte sie zu Hause ab, legte ihnen Handschellen an und schleppte sie zur Arbeit, als wären sie Kriminelle. Es gab also eine Menge Gewalt.

Und es ist wichtig zu sehen, dass die Gewalt, die wir bei den Gelbwesten oder bei der Bewegungen gegen die Rentenreform sahen, eine Gewalt ist, mit der vorher schon experimentiert wurde. Sie wurde in den Projekten gegen rassifizierte Menschen ausprobiert, als sie zum Beispiel mit Gummigeschossen auf Menschen schossen. Es ist eine Sache, die sie 2005 während der Unruhen schon gemacht haben, und dann wurde es Jahre später weiter verbreitet, besonders während der Gelbwesten-Bewegung. Was wir heute sehen sind aber auch neue Mittel der Repression. Wir müssen aber jetzt dagegen kämpfen. Wir dürfen nicht einfach warten, bis es vorbei ist, wie es viele linke Organisationen und Gewerkschaften im Moment tun.

Marius: Und wenn wir uns diese Proteste anschauen, woher kommt diese Wut und diese Kraft und wer sind die Menschen auf der Straße, wie sind die Lebensbedingungen, was wollen sie?

Thomas: Ich denke, wir müssen verstehen, dass der Tod von Nahel ein Schock war. Versteht ihr?  Er hatte einen großen Einfluss, aber er berührte etwas Tieferes als nur die Reaktion auf den Tod eines jungen Mannes. Ich denke, die Menschen, die randalieren, randalieren auch, weil sie an Orten leben, wo es keine wirtschaftlichen Möglichkeiten für sie gibt. Sie haben keinen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, wie andere Menschen in Frankreich. Sie sind Opfer von systematischem Rassismus, und all das zusammen ist der Grund, warum wir jetzt an einem Siedepunkt sind.

Wir können außerdem sehen, dass diese bestimmten Viertel während der Pandemie nicht gleich behandelt wurden, da gab es viel Polizeipräsenz und Polizeigewalt, um die Leute in ihren Wohnungen zu halten. Nun, sie leben in sehr kleinen und alten Wohnungen, die nie renoviert wurden. Und da sie ihnen jetzt auch noch Ausgangssperren verhängen und ihnen ihre Mobilität wegnehmen, kocht die Wut über bei vielen. Es gibt also hier viele Probleme, für die sich die herrschende politische Klasse Frankreichs einfach nicht interessiert.

Was die Demonstrant:innen angeht: die meisten von ihnen, nicht alle, aber die meisten von ihnen sind junge Leute, die Eltern haben, die aus anderen Ländern stammen, wie aus Marokko, Algerien, Leute aus der ganzen Welt wirklich und Leute, junge Leute, die als Bürger:innen zweiter Klasse behandelt werden.

Die Haltung der Gewerkschaften und Linken

Marius: Und dann würde ich gerne noch ein bisschen weiter gehen, was die politische Linke und die Gewerkschaften machen. Wir sind mit unserer Organisation Révolution Permanente ja anwesend, vielleicht kannst du ein wenig erklären, was unsere Politik im Moment ist.

Thomas: Also Revolution Permanente, was wir in dieser Bewegung zu tun versuchen, ist zu einem Streik aufzurufen. Die Arbeiter:innen sollen in den Streik treten, um den Kampf der Jugend gegen Polizeigewalt und gegen die soziale Ungleichheit zu unterstützen. Ich denke, unsere Hauptstrategie ist im Moment, zu versuchen, eine Streikdynamik zu schaffen, um die Protestierenden nicht einfach allein im Kampf zu lassen. Viele andere linke Organisationen und die Gewerkschaftsführungen machen genau das, lassen den Protest allein, um dann später daraus Kapital zu schlagen.

Wir versuchen auch, mit anderen Organisationen zu diskutieren. Zum Beispiel mit dem Adama-Komitee. Das ist ein Komitee mit Assa Traoré (der Schwester von Adama) und auch mit Leuten, die versuchen, Gerechtigkeit für Adama Traoré zu bekommen. Das ist ein junger schwarzer Mann, der 2016 von der Polizei getötet wurde.

Er wurde von der Polizei zu Tode gewürgt. Sie sind also wirklich wichtig für den politischen Kampf in Frankreich und es wird nächsten Samstag zur jährlichen Kundgebung aufgerufen. Wir versuchen also, andere politische Organisationen und Gewerkschaften davon zu überzeugen, die Leute dazu aufzurufen, dorthin zu gehen und als Arbeiter:innen zu gehen, nicht nur individuell, sondern in organisierter Form, um zu versuchen, Verbindungen mit der Jugend zu schaffen, die gerade revoltiert und um unsere Hauptwaffe im Kampf, den Streik, zu popularisieren.

Marius: Die Gewerkschaften haben bereits einige Erklärungen abgegeben, einige sind besser, andere nicht so gut. Vielleicht könntest du ein wenig darüber sprechen.

Thomas: Die Erklärungen der beiden größten Gewerkschaften, also CGT und CFDT, sind sehr ähnlich. Sie verurteilen die Ermordung von Nahel, setzen aber die Gewalt der Polizei mit der Gewalt der revoltierenden Jugend gleich.

Laut ihnen sollten beide gestoppt werden, womit wir natürlich nicht einverstanden sind, weil die Gewaltanwendung der Polizei die Gewalt des Staates ist. Das ist natürlich nicht dasselbe, und was wir jetzt sehen, ist, dass sie die Leute zur Ruhe auffordern, dass sie zur Ruhe zurückkehren, und dass sie fordern, dass die Gewalt aufhört und die Unruhen aufhören, aber sie bieten nichts an. Sie sagen nur, hört auf, Sachen zu verbrennen. Hört auf zu protestieren. Aber sie haben nicht einmal einen Tag der Mobilisierung vorgeschlagen. Und selbst wenn sie das machen würden, mit welcher Strategie? Wenn es nur darum geht, einen Tag auf die Straße zu gehen. Was soll das bringen? Weisst du, sie müssen zumindest ein paar Vorschläge machen.

Ich denke, deshalb schlagen wir einen Weg der Mobilisierungen und der Streiks vor beziehungsweise wir schlagen vor, einen Solidaritätsstreik durchzuführen.

Marius: Auf der anderen Seite gibt es das Netzwerk für einen Generalstreik, das während der Proteste gegen die Rentenreform gegründet wurde und in dem auch Révolution Permanent eine Rolle spielt. Vielleicht kannst du ein wenig erklären, was die Strategie und Taktik dieses Netzwerks ist?

Thomas: Letzten Donnerstag gab es eine Demonstration, zu der unter anderem Nahels Mutter aufgerufen hat, ein sogenannter „weißer Marsch“ für Nahel. Dort nahmen Eisenbahner:innen an der Demonstration teil, unter ihnen Anasse Kazib, einer unserer Genossen und ein Eisenbahner. Sie sind als Arbeiter:innen hingegangen, weißt du, um im Streik, ihre Unterstützung zu geben und um andere aufzurufen, sich dieser Bewegung anzuschließen, sich dieser Bewegung als Arbeiter:in anzuschließen und zu streiken. Ich denke, es ist wichtig, nicht nur als Einzelner dorthin zu gehen, weißt du.

Weil was mit Nahel passiert ist, hat viele Menschen schockiert und man kann trauern und als Einzelperson hingehen, das ist in Ordnung, aber ich denke, es ist auch wichtig, kollektiv zu gehen und mit der Stärke, ein:e Arbeiter:in zu sein und in der Lage zu sein, auf diese Weise zu kämpfen, weißt du. Und was das Reseau la Grêve Géneral (Netzwerk für den Generalstreik) (RGG) betrifft, so ist unsere Strategie, zu versuchen, mit anderen Organisationen zusammenzukommen und wie gesagt, die Leute dazu aufzurufen, als Arbeiter:in zur großen Demonstration am Samstag zu gehen und zu versuchen, einen gemeinsamen offenen Brief mit anderen Organisationen und mit Menschen aus der sozialen Bewegung zu verfassen, indem wir zur Solidarität aufrufen und dazu aufrufen sich der Demonstration anzuschließen, und ich denke, das ist das Wichtigste, was wir im Moment mit den Genoss:innen des RGG tun.

Marius: Und was denken die Arbeiter:innen den Betrieben, insbesondere diejenigen, die an den Protesten gegen die Rentenreformen teilgenommen haben, und insbesondere auch diejenigen, die selbst unter Repressionen bei diesen Protesten gelitten haben?

Thomas: Ich denke, dass die Menschen, die Arbeiter:innen nicht überrascht waren von dem, was passiert ist, weil sie die Polizei während der Demonstrationen leider kennengelernt haben […], also gibt es eine Menge an Unterstützung für Nahels Familie. Die Grenzen sind vielleicht, dass es eine große mediale Offensive gibt von der Regierung und von der Bourgeoisie und den Medien.

Und so versuchen sie mit Videos den Leuten Angst zu machen, weißt du, sie versuchen einfach, den Leuten Angst zu machen und zu sagen, es ist gefährlich. Die extreme Rechte sagt, dass dies der Beginn eines Bürgerkriegs sei, was überhaupt nicht der Fall ist. Aber sie versuchen, die Leute zu verängstigen und die Arbeiter:innen und die Jugend der Arbeiter:innenviertel zu spalten, und ja, vielleicht haben einige Leute, wenn sie das den ganzen Tag sehen, Angst um ihr Hab und Gut, und das kann einen Effekt haben, auf bestimmte Arbeiter:innen.

Aber ich denke, dass die meisten Arbeiter:innen inzwischen verstehen, was die Polizei als Institution ist, und daher denke ich, dass die meisten Arbeiter:innen die Revolten unterstützen.

Marius: Und wie ist die Stimmung in der Jugendbewegung, insbesondere unter den Studierenden und Schüler:innen, die selbst auch an den Protesten gegen die Rentenreformen beteiligt waren?

Thomas: Also in der Jugend, denke ich, ist es klarer, dass die Leute den Kampf gegen Polizeigewalt und Polizeibrutalität unterstützen. Die Sache ist, im Moment hat sich das noch nicht wirklich materialisiert, weißt du, weil sie keine Orte haben, wo sie sich treffen und gemeinsam kämpfen können.

Aber ich denke, dass die Leute deshalb viel von den großen Protesten für Adama erwarten, also dass sie ein Ort der Annäherung für die Jugend sein werden, und dass sie die Jugend, die gerade kämpft, unterstützen können. Aber vielleicht ist die Verbindung noch nicht da.

Marius: Was machen die anderen linken Organisationen wie La France Insoumise und Mélenchon oder La Nouveau Partie Anticapitaliste (NPA)?

Thomas: Nun, die Politik von La France Insoumise bestand anfangs darin, zu sagen: „Wir rufen nicht zur Beschwichtigung auf, wir rufen zur Gerechtigkeit auf.“ Das war besser als das, was die Linke im Jahr 2005 tat. Aber gleichzeitig waren sie darauf bedacht, nicht den Anschein zu erwecken, die Proteste, die wir sehen, zu unterstützen, denn das würde ihnen bei den Wahlen schaden.

Sie versuchen also, eine Linie zu fahren, die eher opportunistisch ist als eine echte politische Linie.

Marius: Ich habe auch gesehen, dass Mélenchon eine Neuorganisierung der Polizei gefordert hat.

Thomas: Er forderte eine Neuformierung der Polizei, damit sie über „bessere Mittel“ verfügt, um ihre Arbeit zu machen, damit sie gut ausgebildet ist, weil er denkt, dass die Polizei in Ordnung gebracht werden kann, wenn es nur ein bisschen mehr Ausbildung und ein bisschen Bezahlung gibt. Und wir wissen, dass das nicht möglich ist.

Weisst du, die Polizei ist ein Werkzeug des Staates, um politische Reformen durchzusetzen und um Reformen durchzusetzen, die wirklich unpopulär waren. Und die Polizei in Frankreich ist zutiefst rassistisch. Die meisten Polizist:innen in Frankreich haben zum Beispiel für Marine Le Pen oder [unverständlich] gestimmt.

Man kann die Polizei nicht reformieren. Man muss die Polizei abschaffen. Weißt du, Mélenchon versucht wie immer, radikal zu wirken, aber das ist nur eine Fassade.

Das Regime von Macron in der Krise

Marius: Ich möchte zum letzten Teil dieses Gesprächs kommen, um die aktuelle politische Situation einzuordnen. Was denkt ihr? Erschüttert dieser Aufstand die Regierung, die nach den Protesten gegen die Rentenreformen bereits geschwächt war?

Thomas: Ja, ich denke, die Regierung macht das durch, was wir eine Regimekrise nennen bzw. eine Legitimationskrise.

Deshalb mussten sie sich so sehr auf die Polizei verlassen, und deshalb haben sie der Polizei und der Polizeigewerkschaft so viel Macht gegeben, und etwas, das ich heute gesehen habe, und das mir ziemlich bedeutsam erschien, war, dass ein Mann von der Polizeigewerkschaft sagte, dass „wenn die Regierung sich nicht darum kümmert, werden wir es selbst tun.“

Ich denke, das zeigt, wie schwach die Regierung im Moment ist, denn die Polizeigewerkschaft sagt einige Dinge wie diese, die fast putschistisch sind, wenn sie sagen, dass sie die Dinge selbst in die Hand nehmen werden, die Gewalt des Staates.

Wir können sehen, dass Macron und seine Regierung ein so geschwächtes Regime sind, dass es die Idee gibt innerhalb der Polizeigewerkschaft, dass sie autonom handeln kann, ohne Befehle von der politischen Macht, was nie ein gutes Zeichen für das Regime ist, weißt du, und ja, ich denke, es verliert eine Menge Legitimität auf der rechten Seite, weil sie nicht in der Lage sind, eine republikanische Ordnung aufrechtzuerhalten, und so verlieren sie auf der Rechten eine Menge Glaubwürdigkeit und es zeigt sich, dass sie nicht in der Lage sind, diese [unverständlich] und all die systemischen Probleme anzugehen, die ich vorhin erwähnt habe, sie haben sie nie angegangen und jetzt kommt es zu ihnen zurück und natürlich lässt es sie schlecht aussehen, wirklich schlecht, weißt du. Am Anfang haben sie versucht, gegenüber den Familien sympathisch zu wirken, sie haben versucht, zu zeigen, dass es wegen dieses Polizisten war und jetzt haben sie ihre Strategie geändert. Jetzt ist es Gewalt und Repression, zum Beispiel, gab es während der Bewegungen gegen die Rentenreform, etwa ein 12.000 oder ein bisschen mehr Polizist:innen, die mobilisiert wurden, um die Unruhen und den Protest zu kontrollieren.

Und jetzt sind es fast 40.000 Polizist:innen, die im Einsatz sind. Und so viele Polizisten sind von Spezialeinheiten. Sie sind eingesetzt in Paris, in Marseille usw.  Und das letzte Mal als wir gesehen haben, wie diese Einheiten eingesetzt wurden, um diese Art von Polizeiarbeit zu leisten und die Ordnung aufrechtzuerhalten, war in den französischen Überseegebieten. Das war, das war in Mayotte, das war in Guadeloupe, also im kolonialen Frankreich. Das zeigt, was die Regierung den Demonstrant:innen entgegenzusetzen hat: nur polizeiliche Repression und mehr Polizeigewalt.

Marius: Du sprachst von der extremen Rechten. Was sagen Politiker wie Zemmour oder Marine Le Pen? Oder auch die Republikaner?

Thomas: Die Rechtsextremen behaupten natürlich, die Polizei habe nichts falsch gemacht. Dass es keinen systematischen Rassismus in Frankreich gibt, dass diese Leute keinen Grund haben, zu revoltieren.

Weißt du, sie rufen zu noch mehr Polizeigewalt auf. Es gibt Leute, die sagen, es sollte die Armee gerufen werden. Also etwas, das noch extremer ist, als das, was Macron bereits tut und was bereits ziemlich gewalttätig ist. Das ist die Position der extremen Rechten, sie haben auch persönliche Angriffe auf Nahels Mutter gemacht, zum Beispiel, indem sie sagten, dass sie nicht wirklich trauert, weil sie beim „Weißen Marsch“ dabei war, weißt du.

Und dass sie nur versucht, berühmt zu werden, und das ist wirklich verrückt. Und das wurde von Leuten aus der extremen Rechten gesagt, aber auch von vielen Leuten in den Medien.

Denn viele Medien in Frankreich gehören Geschäftsleuten und Leuten aus dem rechtsextremen Spektrum, die sie als Plattform nutzen, um ihren Hass zu verbreiten, und so sind einige Dinge, die nur am Rande vorkommen, im medialen Diskurs sehr oft zu hören. Zum Beispiel, dass „wir die Demonstrant:innen einfach erschießen sollten und alle einsperren sollten“, was sie ja schon tun. Sogar der Justizminister sagt, dass jeder, der [unverständlich] ist, ins Gefängnis gehen sollte und dass der Prozess der Justiz geändert werden sollte. Es gibt also eine Menge Ähnlichkeiten zwischen dem, was die Rechtsextremen und die Regierung Macron tun und sagen.

Der Unterschied besteht also darin, dass die extreme Rechte krasser und extremer auftritt. Aber der Gedanke ist derselbe, dass man diese Bewegung ersticken muss, dass man diese Revolte niederschlagen muss. Und es gibt keine Alternative.

Marius: Ich vermute, dass sie auch viele rassistische Verleumdungen gegen die Menschen in den Arbeiter:innenvierteln betreiben. Kannst du darauf eingehen?

Thomas: Der antimuslimische Rassismus ist einer der Hauptgründe – für sie ist es kein Rassismus, weisst du, sie sagen, dass Islamophobie nicht existiert. Sie sagen, dass die Gewalt und die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, von radikalen Muslim:innen verursacht werden, die versuchen, die französische Gesellschaft und die französische Kultur zu zerstören.

Sie benutzen also die Wut der Protestierenden als Beispiel für die „Dekulturalisierung“, die Zerstörung der Kultur, der Institutionen der Zivilisation. Und die Sache ist die, es ist etwas, das wir auf der extremen Rechten haben, aber vor ein paar Monaten hat Macron auch über diese Anschuldigung gesprochen, also die Zerstörung der Zivilisation, und dann ist Macron natürlich subtiler, also erwähnt er nicht direkt die Muslime, aber jeder weiß, worauf er sich bezieht, und es ist normalerweise auf muslimische Menschen.

Sie werden von der Rechten im Allgemeinen als Sündenböcke benutzt, wenn etwas schlecht ist. „Ja, aber seht, seht, seht euch die Muslime an, seht euch die muslimische Bevölkerung an, die unterdrückten Frauen. Weil sie den Hijab tragen müssen und es gibt kein Problem mit sexueller Gewalt in Frankreich, das Problem sind muslimische Frauen, die den Hijab tragen.“ Es ist also immer ein Spiel, das sie spielen und das dazu führt, dass sich viele Muslime in unserem Land wie Bürger:innen zweiter Klasse fühlen, weil sie ständig verdächtigt werden oder so. Weißt du, sie müssen immer beweisen, dass sie normale Bürger:innen sind. Und das ist etwas, was wir im Moment auch sehr oft sehen

Marius: Vielleicht kannst du – du hast ja auch vorhin die Aufstände von 2005 erwähnt – ein wenig die Unterschiede und Ähnlichkeiten zu dem, was jetzt passiert, erklären.

Thomas: Ja, die Unruhen von 2005 wurden durch die Tötung zweier junger Männer durch die Polizei ausgelöst. Ich denke, die Unruhen selbst sind ähnlich, auch wenn es einen Unterschied gibt, vielleicht sind z.B. diesmal viele Symbole des Staates das Angriffsziel wie z.B. das Rathaus oder Polizeistationen, manchmal auch die Schule, weil die Schule auch für die Unterdrückung durch den Staat und die falschen Versprechungen der sozialen Gleichheit steht. Aber der Unterschied liegt eher in der politischen Reaktion. 2005 lehnten alle politischen Parteien der extremen Linken die Gewalt ab oder sagten nichts.

Zum Beispiel war Lutte Ouvriere 2005 gegen das, was passierte, weil sie sagten, die Randalierer verbrennen „Arbeiter Autos, also sind wir dagegen“. Das ist verrückt, so etwas zu sagen, während ein politischer Kampf im Gange ist. Aber ich denke, was sich jetzt ändert, ist, dass es, wenn auch zaghaft, eine Menge Unterstützung von der Linken gibt, für das, was passiert, und für den Kampf der Jugend, und ich denke, die Leute erkennen mehr, was täglich passiert. Vielleicht hat sich das seit 2005 geändert, aber die Reaktion der Rechten ist die gleiche, und die Maßnahmen der Regierung sind ebenfalls gewalttätig…

Marius: Und ich habe noch eine letzte Frage. Vor ein paar Jahren wurde in den Vereinigten Staaten George Floyd ermordet. woraufhin es einen großen Aufstand, auch wegen Polizeigewalt, Alltagsrassismus usw. gab. Wo siehst du Parallelen oder Unterschiede zu dem, was jetzt gerade passiert?

Thomas: Ich denke, es gibt viele Parallelen. Die erste ist, dass diese Proteste durch den ungerechten Tod von jemandem aufgrund von Polizeibrutalität wegen des systemischen Rassismus der Polizei ausgelöst wurden. Ich denke, das ist eine große Parallele, und als George Floyd getötet wurde, war die erste große Demonstration in Frankreich in Paris.

Es war eine Demonstration, zu der das Adama-Komitee aufgerufen hatte. Also für Adama Traoré, und es waren fast hunderttausend Menschen, die zu der Demonstration gekommen sind, weil das, was George Floyd passiert ist, bei vielen Menschen in Frankreich ein Echo ausgelöst hat über den Zustand der Polizei in Frankreich und den systemischen Rassismus, mit dem wir in Frankreich konfrontiert sind.

Also ich denke, es gibt eine Menge Ähnlichkeiten. Was den Unterschied angeht. Der Unterschied zwischen Black Lives Matter und dem, was gerade passiert, ist vielleicht, dass in Frankreich die Möglichkeit für Gewerkschaften, für die Linke besteht, wirklich eine Rolle in dieser Bewegung zu spielen und die Leute nicht allein zu lassen. Und ich habe das Gefühl, dass genau das passiert ist mit Black Lives Matter, weißt du? Und ich denke, das ist es, was in den kommenden Wochen getan werden muss, und ich denke, das könnte der Hauptunterschied zwischen den beiden sein.

 

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