Im Schatten der israelischen Justizreform

02.08.2023, Lesezeit 5 Min.
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Quelle: Noa Ratinsky / Shutterstock.com

Am Montag, den 24.7., verabschiedete die israelische Regierung den ersten Teil ihrer international umstrittenen Justizreform. Westliche Medien berichten ausführlich über das Gesetz und die Proteste. Was passiert aber in der Zwischenzeit im Schatten des politischen Spektakels?

Seit Monaten gehen Israelis auf die Straße, um gegen die geplante Justizreform der rechtsextremen Regierungskoalition zu protestieren. Sie sehen die israelische „Demokratie“ und die Gewaltenteilung, vor allem im Bezug auf den Machtverlust des Obersten Gerichtshofs, in Gefahr. Das Symbol der Proteste ist die israelische Flagge. Die Rechte der Palästinenser:innen spielen dabei meist gar keine oder eine marginale Rolle. Es geht bei den Protesten um den Erhalt des Status Quo, das heißt die Aufrechterhaltung der Besatzung der palästinensischen Gebiete im Westjordanland, Gaza und Ostjerusalem, sowie den syrischen Golanhöhen. Auch das Apartheidsystem, das alle nichtjüdischen Menschen innerhalb des israelischen Staates und in den besetzten Gebieten diskriminiert, wird nicht kritisiert. Die einzige Ausnahme stellt der sogenannte Anti-Okkupation-Block dar. Dort organisiert sich die radikale Linke, die Hadash-Partei (linke Sozialdemokratie/Antizionismus), NGOs wie „Standing Together Movement“ oder „Breaking the Silence“, die sich für mehr Gleichberechtigung einsetzen, sowie einige wenige unorganisierte Palästinenser:innen. Es wurde immer wieder versucht, den Block von den Demos zu verdrängen. Einzelne Personen mit Palästina-Flaggen werden regelmäßig dort angegriffen, während die Polizei entweder zusieht oder sogar dabei hilft, die Flaggen zu entfernen.

Auch wenn die Organisationen im Anti-Okkupation-Block ein im Verhältnis zum stramm zionistischen Rest der Demonstration fortschrittliches Programm vertreten, stehen sie alle für „Friedenslösungen“ im Rahmen von zwei getrennten Staaten – einem gemäßigteren zionistischen und einem palästinensischen – auf dem Gebiet des historischen Palästina. Die Befreiung der Palästinenser:innen ist jedoch nicht im Rahmen des Kapitalismus möglich. Es wäre illusorisch zu glauben, dass ein palästinensischer Staat neben einem zionistischen koexistieren kann – genauso illusorisch ist der Gedanke, dass ein einzelner kapitalistischer Staat ein Ende der Unterdrückung des palästinensischen Volkes mit sich bringen würde. Eine wirklich Alternative zu Apartheid und Besatzung liegt nur in einer sozialistischen Ein-Staaten-Lösung.

Was also ist seit dem Gesetzesbeschluss der israelischen Regierung passiert?

Itamar Ben-Gvir, Sicherheitsminister und führender Politiker von Otzma Yehudit, einer rechtsextremen und ultranationalistischen Partei, hat den jüdischen Trauertag Tisha B’Av, an dem an die Zerstörung des jüdischen Tempels durch die Römer erinnert wird, zum Anlass genommen, ein weiteres Mal den Haram-Al-Sharif, auf dem sich die Al-Aqsa-Moschee befindet, zu betreten. Begleitet von betenden Siedlern und beschützt vom Militär flanierte er am Donnerstagmorgen über den drittheiligsten Ort im Islam und einen der wichtigsten Orte der palästinensischen Identität. Muslimische Gläubige wurden gleichzeitig daran gehindert, das Gelände zu betreten, um dort zu beten. In einem Video richtet er sich an die (jüdische) israelische Bevölkerung: „An diesem Tag, an diesem Ort ist es immer wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir alle Brüder sind. Rechts, links, religiös, säkular. Wir sind ein Volk. Und wenn ein Terrorist durch das Fenster schaut, unterscheidet er nicht zwischen uns. Zusammenhalt ist wichtig. Dies ist der wichtigste Ort für das israelische Volk. Wir müssen zurückkehren und unsere Führung demonstrieren.“

Nicht zum ersten Mal nutzt Ben-Gvir den Haram-al-Sharif für seine Propaganda. Schon wenige Tage nach der letzten Wahl betrat er, in diesem Fall das erste Mal als Sicherheitsminister der Regierung, den Tempelberg und wollte damit seine bedingungslose Solidarität für die religiöse Siedlungsbewegung zeigen. Die Übereinkommen der Oslo-Verhandlungen spielen für ihn dabei keine Rolle, da die ideologisch-religiöse Begründung, dass der Tempelberg dem jüdischen Volk gehöre, über politischen Verhandlungen steht.

Sein rechtsextremer Regierungspartner Bezalel Smotrich, Finanzminister und „Siedlungsverwalter“ im Verteidigungsministerium, nutzte währenddessen die chaotische Situation, um seine Siedlungsträume im Westjordanland weiter zu verwirklichen. In einer Parlamentssitzung stellte er seine Idee vor: die komplette Annexion des Westjordanlands mit vollen Zivilrechten für alle jüdischen Bewohner:innen. Das ist ein Novum, da das Westjordanland seit den Oslo-Verhandlungen in die verschiedenen Areas A, B und C aufgeteilt ist. Nur Area C steht laut Oslo komplett unter israelischer Kontrolle. Smotrichs Pläne würden das ändern und de facto damit das komplette Gebiet in israelische Militär- und zivile Kontrolle bringen.

Die Proteste gegen die Justizreform sind also nicht einfach progressiv oder links. Solange die Besatzung und der ultranationalistische Charakter des zionistischen Staates nicht angegriffen werden, bleiben sie eine Fortsetzung der israelischen Politik ohne die faschistischen Elemente Ben-Gvirs und Smotrichs. Der westliche Imperialismus und seine zugehörigen Medien werden sich nun überlegen müssen, wie sie mit der neuen Regierung umgehen, um ihren hoch aufgerüsteten Militär- und Wirtschaftspartner im Nahen Osten zu behalten.

Linke in Israel dürfen sich derweil nicht an den zionistischen Kurs der Proteste anpassen, nur weil es Protestdynamiken gibt. Stattdessen ist es notwendig, Bündnisse mit den palästinensischen Massen zu suchen und gemeinsam gegen das zionistische Regime als solches und für ein einziges, sozialistisches bi-nationales Palästina zu kämpfen. Die beste internationale Unterstützung dafür sind Mobilisierungen von Linken und Gewerkschaften in Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf und die Bestreikung von israelischen Waffenlieferungen, wie es die Arbeiter:innen in Livorno vorgemacht haben.

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