Israel: Netanjahus ultrarechte Koalition verabschiedet ersten Teil der verhassten Justizreform

26.07.2023, Lesezeit 8 Min.
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Am Montag stimmten die Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Likud, und seine ultrareligiösen und nationalistischen Partner im Parlament dafür, die "Angemessenheitsklausel" abzuschaffen. Diese erlaubt es dem Obersten Gerichtshof, Regierungs- oder Gesetzesbeschlüsse abzulehnen. Wie schon in den letzten 30 Wochen protestierten dagegen Hunderttausende. Der Sieg der Regierung könnte sich als Pyrrhussieg herausstellen.

Die wichtigsten Medien der Welt sprechen von einem „politischen Erdbeben“ und „dem Zusammenbruch der israelischen Demokratie“. Sie drückten damit die Besorgnis imperialistischer Mächte wie Frankreich, Deutschland und vor allem den Vereinigten Staaten, dem wichtigsten strategischen Partner Israels seit der Staatsgründung 1948, aus. Denn die Demonstrationen und die Ablehnung der Justizreform durch die säkularen Israelis, die sich seit Jahresanfang formierten, weiten sich aus.

Sie werden hauptsächlich vom früheren Ministerpräsidenten Yair Lapid und dem ehemaligen Verteidigungsminister Benny Gantz angeführt und auch von den Vorständen der wichtigsten Banken und Technologieunternehmen unterstützt. Mittlerweile haben 11.000 Reservist:innen, darunter 550 Pilot:innen, angekündigt, dass sie nicht an den freiwilligen Reserveübungen teilnehmen werden. Dies ist in Israel praktisch beispiellos, außer in den Jahren 2002/2003, als sich etwas mehr als hundert Militärangehörige der Einberufung verweigerten. Aber damals geschah dies als Weigerung, an der Unterdrückung im Westjordanland teilzunehmen.

Die ultrarechte Regierung baut ihre autoritäten Befugnisse aus

Von den 120 Sitzen in der Knesset (Parlament) stimmten 64 Abgeordnete für das Gesetz zur Justizreform. Alle sind von der ultrarechten Koalition, während die 56 Abgeordneten der Opposition den Saal vor der Abstimmung unter lautem Protest verließen. Netanjahu und seine Regierungspartner haben das Gesetz seit ihrem Amtsantritt vorangetreten, vor allem mit dem Minister für Nationale Sicherheit, Ben Gvir – einem ultrareligiösen Siedler und Führer der Partei Otzma Yehudit (Jüdische Stärke), der den Hass gegen die Palästinenser:innen schürt. Ebenso der Finanzminister Bezalel Smotrich – ein weiterer Siedler und Anführer der Religiösen Zionistischen Partei, die für die jüdische Vorherrschaft eintritt und die Existenz des palästinensischen Volkes leugnet.

Da Israel keine Verfassung hat, wird es mittels Doktrinen, Beschlüssen oder Gesetzen regiert, die der Oberste Gerichtshof verwerfen und aufheben kann, wenn er sie für „unangemessen“ hält. Für die israelische Regierung war dies ein Hindernis, um die Gesetze voranzutreiben, die die Schaffung neuer Siedlungen begünstigen, die auch den Bauunternehmer:innen zugute kommen, ebenso wie die Annexion weiterer Gebiete. Dies bedeutet nicht weniger als die Ausweitung und Radikalisierung der Besiedlung des Westjordanlandes. Innerhalb Israels werden Gesetze gefördert, die die Segregation gegen Palästinenser:innen mit israelischer Staatsbürgerschaft vertiefen.

Darüber hinaus soll mit der Justizreform der Ausschuss erweitert werden, der die Richter:innen auswählt. Das Ziel davon ist, dass die Regierung die Mehrheit der Mitglieder stellt. Außerdem sollen nur noch körperliche oder geistige Einschränkungen als Gründe angeführt werden, um einen amtierenden Ministerpräsident für untauglich zu erklären. Nur der Ministerpräsident selbst, oder zwei Drittel des Kabinetts, können ihn abwählen. Dies hatte Netanjahu bereits durchgesetzt, was ihm in erster Linie bei seinem Prozess wegen Bestechung und Machtmissbrauchs zu gute kommt.

Oppositionsführer: Teil des kolonialistischen Siedlerprojektes

Vor allem die Gefährdung der vermeintlichen Gewaltenteilung hat die massiven Mobilisierungen der säkularen Mittelschicht hervorgerufen. Am Tag vor der Abstimmung gingen rund 600.000 Menschen auf die Straße, von denen mehrere verhaftet wurden. Die Polizei ging mit Wasserwerfern vor und verletzte einige Demonstrant:innen, was für israelische Bürger:innen ein Novum darstellt. Am Montag wurden die Demonstrationen wiederholt, mit der Ankündigung sie fortzusetzen. Am Dienstag kündigten die Ärzt:innen einen Streik an, um gegen die Reform zu protestieren. Dem könnten sich andere Bereiche anschließen.

Die Oppositionsführer dienten fast alle als ehemalige Oberbefehlshaber einer Armee, die gegründet wurde, um die Palästinenser:innen im Besonderen und die arabischen Nachbar:innen im Allgemeinen in Schach zu halten. Yair Lapid ist nahezu der Einzige, der außerhalb der Armee als Schriftsteller und Fernsehkommentator Karriere machte. Diese Oppositionsführer verteidigen die Vorrechte des Obersten Gerichtshofs und damit den Status quo innerhalb Israels. So ist es beispielsweise derselbe Oberste Gerichtshof, der auch den Abriss der palästinensischen Häuser anordnet und die Räumungsbefehle für diejenigen Grundstücke ausstellt, die den Siedler:innen überlassen werden sollen, insbesondere in Ostjerusalem.

Dies erklärt auch, warum israelische Palästinenser:innen bei diesen großen Mobilisierungen nicht dabei sind. Sie fühlen sich nicht angesprochen, weil sie wissen, dass sie Bürger:innen zweiter Klasse sind und weit weniger Rechte haben als israelische Juden:Jüdinnen. Tatsächlich wurden mehrmals kleine Gruppen pro-palästinensischer Israelis mit Transparenten gegen die Besatzung von den Märschen verjagt oder ausgegrenzt. Unter den Israelis, die diese Reform ablehnen, herrscht jedoch die Auffassung, dass Netanjahus reaktionäre Politik die Lage im Westjordanland und die Beziehungen Israels zu den arabischen Staaten verschlimmern und das Ansehen Israels im Ausland weiter verschlechtern könnte.

Die israelische „Demokratie“ basiert auf der Unterdrückung des palästinensischen Volkes, auf der Apartheid im Westjordanland selbst und auf dem Freiluftgefängnis im Gazastreifen. Eine autoritäre Regierung ohne ein Minimum an Kontrolle, auf dem Weg zu einem zunehmend theokratischen Staat, würde die Situation aber zweifellos noch verschlimmern. In der Tat haben mehr als ein Dutzend ehemaliger Sicherheitschefs erklärt, dass dieses Gesetz die Sicherheit Israels gefährdet.

Die Bedenken der imperialistischen Mächte

Diese Gefährdung der Sicherheitslage sehen viele. US-Präsident Joe Biden bat die Regierungskoalition, und insbesondere Netanjahu, schon länger, die Justizreform fallenzulassen, und ist dagegen, dass die „Angemessenheitsklausel“ gestrichen wird. Die Demokraten (und auch einige Republikaner) fragen sich besorgt, worauf der israelische Premierminister hinaus will. Von den verschiedenen Imperialismen, vor allem aber von den Vereinigten Staaten, wird immer wieder die Notwendigkeit betont, die „Demokratie in der Region“ zu verteidigen, die sie den muslimischen Staaten gegenüberstellen. Dies brachten sie auch auf der Bühne der Vereinten Nationen und im Sicherheitsrat vor, wo sie stets mit Israel stimmten.

In Wirklichkeit diente und dient der Juniorpartner des US-Imperialismus dazu, zunächst mit Kriegen und dann mit Abkommen mit arabischen Staaten, die Ordnung in der Region aufrechtzuerhalten. Mehrmals erwies sich die Partnerschaft zu Israel jedoch bereits als dysfunktional, wie etwa zwischen Obama und Netanjahu. Doch inzwischen hat sich die Weltlage verändert: Der reaktionäre Krieg in der Ukraine mit seinen vielfältigen Auswirkungen und Bidens Priorität auf die strategische Konkurrenz mit China führen dazu, dass die neue Situation in Israel allmählich als störend empfunden wird.

Es gibt Befürchtungen, dass sie schwerwiegende Folgen haben könnte, die ein vorübergehendes Abweichen von den Zielen der USA erzwingen, was diese Dysfunktionalität in den Beziehungen der beiden Länder noch verstärken würde. Hinzu kommt die Bedeutung der großen jüdischen Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten, die überwiegend den Demokraten angehört und gegen die Reform der israelischen Regierung mobilisiert hat. Demokratische Abgeordnete haben sogar eine Kürzung der Militärhilfe gefordert, die die USA Israel jedes Jahr in Höhe von etwa vier Milliarden US-Dollar gewähren. Diese Forderung ist nicht unbedingt realisierbar, aber spricht für den Krach, den die Situation in der Regierung Biden verursacht.

Der Form halber sagte die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, am Montag nach der Abstimmung in der Knesset, dass „es bedauerlich ist, dass die heutige Abstimmung mit der knappst möglichen Mehrheit stattgefunden hat“. Auch Deutschland zeigte sich besorgt. Mehrere Richter des Obersten Gerichtshofs unterbrachen ihre Deutschlandreise und eilten zurück nach Israel, um die rechtlichen Reaktionen auf das am Montag verabschiedete Justizreformgesetz zu prüfen und zu vereinheitlichen.

Es ist noch zu früh, um die möglichen Folgen dieser Situation zu bewerten, aber eines ist sicher: Die Palästinenser:innen, die sagen, dass dies ihre Situation nur verschlimmern wird, haben nicht Unrecht. Tatsächlich gehen die Verfolgung von Aktivist:innen, die Repression und die Ermordungen in mehreren Städten des Westjordanlandes unvermindert weiter. Deshalb ist eine breite Mobilisierung in den arabischen Ländern sowie in Europa und den Vereinigten Staaten zur Verteidigung des palästinensischen Volkes erforderlich. Das kann dabei helfen, die Einheit der Bevölkerung in den palästinensischen Gebieten mit den in Israel lebenden Palästinenser:innen herstellen (über 20 Prozent der Bevölkerung), um die weit verbreiteten Streiks und Mobilisierungen gegen die Politik des zionistischen Staates wiederaufzunehmen.

Der Artikel erschien zuerst am 25. Juli auf Spanisch auf La Izquierda Diario.

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