Häfen, Krankenhäuser und Hegemonie

23.04.2020, Lesezeit 10 Min.
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Wie können wir in der Coronakrise für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege kämpfen? Für eine Antwort lohnt eine Analogie zu den Streiks in den Häfen im Nachkriegsgroßbritannien.

Bild: Streikversammlung beim Hafenarbeiterstreik 1948, Youtube

Am 27. Mai 1948 wurden elf Hafenarbeiter am Londoner Regent Canal Dock angewiesen, einhundert Tonnen bzw. 3022 Säcke Zinkoxid von der S.S. Theems zu entladen. Die Männer aber hielten die Ladung für potenziell gesundheitsschädlich, stellten die Arbeit ein und verlangten den für „schmutzige“ Güter dieser Art üblichen Lohnzuschlag. Das Unternehmen beharrte auf der Löschung der Ladung und suspendierte sie. Was als spontane Arbeitsniederlegung dieser elf Männer begann, wurde rasch zu einem der größten Streiks der britischen Nachkriegsjahre.

1945 war zum ersten Mal in der Geschichte Großbritanniens eine Labour-Regierung zustande gekommen, die von den größten Teilen der Arbeiter*innenklasse getragen wurde. Spätestens 1947 aber sah diese sich mit einer dynamischen Streikbewegung an den Häfen konfrontiert, die ihren Höhepunkt 1948 und 1949 fand, aber bis hinein in die 1950er Jahre reichte. Diese Bewegung spielte sich vor dem Hintergrund einer weltweiten Ernährungskrise ab, die in Großbritannien zwar verhältnismäßig mild verlief, aber dennoch die Rationierung der Lebensmittelversorgung zur Folge hatte.

Die britischen Gewerkschaften befanden sich damals in einem engen Bündnis mit der Labour-Regierung. Die Gewerkschaftsbürokratie verstand diese als ihre politische Vertretung. Die britische Wirtschaft war von den Folgen des Zweiten Weltkriegs und insbesondere durch eine überbordende Verschuldung belastet. Die Führung des Gewerkschaftsbundes TUC stimmte deshalb einem freiwilligen Verzicht auf Lohnerhöhungen und Streiks zu. Während die Löhne vom Ende des Kriegs bis zur Einführung des Lohnstopps im März 1948 rund acht bis zehn Prozent gestiegen waren, beschränkte sich der Anstieg bis zur Aufgabe der Maßnahme anderthalb Jahre später auf nur rund drei Prozent, was aufgrund der gleichzeitigen Preissteigerungen einen Rückgang der Reallöhne bedeutete.

Die damalige Ausgangslage weist bei allen Unterschieden gewisse Parallelen zur heutigen Situation auf: Auch heute erleben wir eine „äußere“ Krise (Ernährung damals, Virus heute) kombiniert mit einer tiefen Wirtschaftskrise. Und auch heute haben wir es mit einer auf die Wahrung der nationalen Einheit bedachte Gewerkschaftsbürokratie zu tun, die den Kampf verweigert.

Eine größere Parallele liegt in der Offenheit der Situation des Weltsystems. Damals war das Machtgefüge nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch nicht vollständig geklärt, der Kalte Krieg nahm gerade erst Form an. Großbritannien war durch zwei Weltkriege als hegemoniale Macht auf der Weltbühne abgelöst worden. In weiten Teilen der Welt war der Kapitalismus als Schuldiger für den Krieg ausgemacht worden und über die politische Linke hinaus diskreditiert. Heute befindet sich der Neoliberalismus im Niedergang und mit ihm befinden sich auch die USA als bisheriger Hegemon in der Krise.

In Großbritannien hatte es nach dem Ende des Krieges recht wenige Klassenkämpfe gegeben. Es waren fast ausschließlich die zehntausenden Hafenarbeiter, die an den größten Häfen des Landes in London und Liverpool/Birkenhead den Kampf aufnahmen, und damit eine Avantgarderolle einnahmen. Sie konfrontierten damit aktiv die Gewerkschaftsbürokratie, der es über Jahre hinweg nicht gelang, die Bewegung einzugrenzen. Sie streikten immer wieder wochenlang, stellten inoffizielle Streikkomitees aus Arbeitern auf und organisierten öffentliche Versammlungen, um mit allen Streikenden unabhängig von der Gewerkschaftsmitgliedschaft demokratisch über den Fortgang des Kampfes zu entscheiden.

Die Häfen bildeten einen entscheidenden Knotenpunkt für die britische Wirtschaft. Dies war freilich bereits lange Zeit vorher der Fall gewesen. Doch besonders in einer angespannten Ernährungssituation konnte sich die Labour-Regierung nicht erlauben, dass Lebensmittelimporte, die Großbritannien dringend benötigte, auf bestreikten Schiffen festhingen. Und gleichzeitig war die britische Regierung angesichts ihrer Verschuldung darauf angewiesen, dass Exportgüter das Land über die Häfen verlassen konnten, um Devisen zu erwerben. Die Hafenarbeiterstreiks wurden so zu einer veritablen Kraftprobe für die Labour-Regierung.

Wie ein Kampf gewonnen wird

Beendet wurden die Streiks erst, als die Regierung einen Notstand ausrief und Soldaten einsetzte, um die Arbeitskraft der Streikenden zu ersetzen. Die inoffiziellen Streikleitungen reagierten darauf, indem sie die Streiks auf weitere Häfen, etwa nach Glasgow, auszuweiten versuchten. Sie appellierten naheliegenderweise an die Solidarität der Kollegen in ihrem eigenen Sektor. Mal gelang dieser Versuch, mal scheiterte er.

Gebrochen aber wurde der Streik – das ist hier die zentrale These – nicht tatsächlich durch den Einsatz von Truppen (die Soldaten waren nicht besonders effizient im Entladen der Schiffe), sondern weil die Labour-Regierung es geschickter verstand, die Bevölkerung und besonders die Arbeiter*innenklasse hinter sich und gegen die Streikenden zu versammeln. Premierminister Attlee wandte sich in einer Radioansprache direkt an die Streikenden, adressierte damit aber tatsächlich seine eigene Basis:

Dieser Streik ist kein Streik gegen Kapitalisten oder Arbeitgeber. Es ist ein Streik gegen eure Kollegen; ein Streik gegen die Hausfrau; ein Streik gegen die einfachen Leute, die genug Probleme damit haben, mit ihrem Fleisch für ein paar Schillinge und den anderen rationierten Waren auszukommen.

In einer Situation, wo tatsächlich große Teile der Bevölkerung Sorgen um ihre Nahrungsmittelversorgung hatten, verfing eine solche Agitation leicht. Die Streikenden waren nicht dazu in der Lage, dem etwas entgegenzusetzen.

Es geht hier nicht darum zu spekulieren, ob die Streiks hätten erfolgreicher sein können. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Betonung der Streikenden und ihrer Führung stets auf der traditionellen Solidarität der Hafenarbeiter lag. Die Parole war: „one out, all out“ – „einer raus, alle raus“. Die Hafenarbeiter waren sozial, aber auch familiär eng verbunden und Streikbrechern drohte damit immer auch die soziale Isolation in ihren Gemeinschaften.

Die Hafenarbeiterschaft unternahm hingegen keinen Versuch, dass sie

mit der Gesellschaft im allgemeinen fraternisiert und zusammenfließt, mit ihr verwechselt und als deren allgemeiner Repräsentant empfunden und anerkannt wird, ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in Wahrheit die Rechte und Ansprüche der Gesellschaft selbst sind, worin sie wirklich der soziale Kopf und das soziale Herz ist. (K. Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung)

Ihr Horizont blieb auf die Häfen beschränkt.

Eine weitere Parallele zum Gesundheitswesen heute besteht darin, dass dieses wie die Häfen im Fokus steht und für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Lebens unerlässlich ist. Es ist aber wie die Häfen auch jedoch kein Ort der Mehrwertproduktion, wo die Bourgeoisie und die Regierung besonders hart getroffen werden kann.

Organisatorisch getragen wurden die Streiks vor allem von sogenannten shop stewards, deren Einfluss mit dem eines Betriebsrats vergleichbar war. Sie wurden an den Häfen von den einzelnen gangs, also fest verbundenen Gruppen von Arbeitern wie die elf, die den Zinkoxidstreik losgetreten hatten, gewählt und wurden so als direkte Repräsentanten der Interessen ihrer Kollegen akzeptiert. Aus ihren Reihen rekrutierten sich dann auch die inoffiziellen Streikkomitees.

Die Sekretäre der Transportgewerkschaft hingegen standen den Arbeitern fern und wurden aufgrund des engen Bündnisses der Gewerkschaftsbürokratie mit Labour als Vertreter der Regierung und damit als Vertreter der Bosse wahrgenommen. Ein Arbeiter brachte dies auf den Punkt: „Wir wenden uns an unseren Boss und finden einen Gewerkschaftsführer. Wir wenden uns an unseren eigenen Gewerkschaftssekretär und finden die Regierung.“

Die shop stewards aber hatten vorrangig die unmittelbaren Interessen der Kollegen im Sinn. Das war ihre Stärke, stellte aber auch die Hürde ihrer politischen Schlagkraft dar. Für die Formulierung einer hegemonialen Perspektive fehlte damals eine revolutionäre Partei. Aus der weitgehend spontanen Organisierung der Hafenarbeiter selbst konnte diese Perspektive nicht hervorgehen. Die stalinistische CPGB unterstützte die ersten Streiks an den Häfen unmittelbar nach 1945 erst gar nicht, weil sie damals versuchte, sich in Fortsetzung ihrer patriotischen Linie während des Krieges in der Labour-Partei aufzulösen. Später spielte sie eine gewisse Rolle, einige der Anführer der Streiks waren Parteimitglieder. Doch sie war weit davon entfernt, eine politisch anführende Rolle zu spielen. Die trotzkistische Revolutionary Communist Party hatte 1945 lediglich rund 500 Mitglieder, von denen nur eine Handvoll am Liverpooler Hafen beschäftigt war.

Kurzum: Die Streiks erschienen als gegen die Interessen der Massen gerichtet, weil es keine Anstrengungen gab, ein Bündnis mit weiteren Sektoren zu erreichen und die Hegemonie der Labour-Regierung über die Arbeiter*innenklasse zu brechen.

Arbeiter*innenkontrolle in den Krankenhäusern, Hegemonie aus den Krankenhäusern

Im Gesundheitswesen gibt es hierzulande noch relativ wenig Kampfdynamik. In den USA jedoch gibt es Beispiele, wie sich Pflegekräfte weigerten, ohne angemessenes Schutzmaterial weiterzuarbeiten, und dafür von Suspendierungen betroffen sind. Einzelne Pfleger*innen stellten sich in Denver einer faschistischen Auto-Demonstration entgegen. Beispiele wie diese geben einen kleinen Eindruck in der potenziellen Kampfkraft der Krankenhausbeschäftigten, die für weitere Teile der Klasse vorbildlich sein kann.

Ein Vollstreik mag unter den aktuellen Bedingungen kaum sinnvoll erscheinen, schließlich gibt es ein großes Interesse in der gesamten Bevölkerung an der Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung. Doch ist das Gesundheitssystem kein homogener Block. Wenn sich Beschäftigten gegen eine Rückkehr zu einer „neuen Normalität“ wehren sollten, z.B. dagegen, dass aus Profitinteresse nun etwa bislang verschobene Operationen nachgeholt werden sollen, und dafür in einen Teilstreik treten, wäre das ein überaus fortschrittliches Element. Solche Aktionen können konkret die Frage der Arbeiter*innenkontrolle über die Angelegenheiten in den Krankenhäusern aufwerfen.

Auch für solche Teilstreiks gibt es in den britischen Hafenarbeiterstreiks Beispiele. 1949 etwa weigerten sich die Arbeiter in u.a. London dagegen, kanadische Schiffe zu entladen, von denen sie überzeugt waren, dass sie Teil einer gewerkschaftlichen Auseinandersetzung in Kanada seien. Sie konfrontierten damit die Entscheidungshoheit der Bosse am Hafen darüber, wann welche Arbeit zu leisten sei. Die Bosse reagierten mit einer vollständigen Aussperrung, da sie diese Herausforderung nicht dulden konnten. Letzteres wäre bei einem Teilstreik auf Nicht-Covid-19-Stationen heute sicherlich nicht zu befürchten.

Gerade in konkreten Schritten hin zur Arbeiter*innenkontrolle kann jedoch ein Schlüssel zur Verallgemeinerung eines hegemonialen Programms liegen. Es ist nicht abwegig zu behaupten, dass in den Hafenarbeiterstreiks eine solche Perspektive ermöglicht hätte, die Gewerkschaftsbürokratie und die Labour-Regierung in ihrer korporatistischen Auffassung einer nach dem Krieg zu etablierenden Wirtschaftsordnung zu konfrontieren (Attlee nannte sie „unseren eigenen demokratischen Sozialismus“) und damit größere Teile der Arbeiter*innenklasse für ein Programm der Arbeiter*innenkontrolle der gesamten Wirtschaft zu gewinnen.

Die Revolutionär*innen müssen sich heute der Herausforderung stellen, vom Gesundheitswesen aus mit einem Hegemonieprogramm zu größeren Teilen der Klasse zu sprechen. Die Pflegekräfte genießen aktuell ein noch höheres Ansehen in der Bevölkerung als sonst. Alle Augen sind auf das Gesundheitssystem gerichtet. Das ist die Voraussetzung, dass ein solches Programm auch Gehör finden kann.

Auch heute wird ein hegemoniales Programm nicht spontan aus den Betrieben hervorgehen. Aus den Streiks damals lassen sich Lehren über die Wichtigkeit der Streikdemokratie ziehen. Doch braucht es darüber hinaus eine bewusste politische Intervention, die die Sozialpartnerschaft konfrontiert, die demokratischen Forderungen unterdrückter Sektoren der Gesellschaft aufnimmt und in einer Perspektive der Arbeiter*innenkontrolle verallgemeinert.

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