Grün für die Wirtschaft, Rot fürs Klima: Alles, was du über die Koalition wissen musst

25.11.2021, Lesezeit 10 Min.
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Bild: monticello / Shutterstock

Die Pläne der Ampelregierung sind nun bekannt: Gesellschaftspolitischen Reformen steht viel Stillstand im Sozialen und im Klimaschutz gegenüber. Über noch mehr „Markt“ darf sich die Wirtschaft freuen.

Einen markigen Titel haben sich SPD, Grüne und FDP für ihren gemeinsamen Koalitionsvertrag ausgesucht: „Mehr Fortschritt wagen“. Wie Willy Brandt 1969 in seiner Regierungserklärung „mehr Demokratie wagen“ und damit den Bruch zur autoritären Kanzlerdemokratie der Adenauerjahre einläuten wollte. Nach langen Jahren der Merkelregierungen soll es jetzt also eine Wachablösung geben. Der Inhalt des 178-seitigen Papiers, das gestern vorgestellt wurde, ist nüchterner. Wie im Vorfeld vermutet, bleibt sehr Vieles beim Alten. An Pflegenotstand, Altersarmut, Prekarisierung, steigenden Mieten und Energiekosten und der Aufrüstung der Bundeswehr wird sich nichts ändern. Für einen stramm neoliberalen Kurs wird sich nicht zuletzt Finanzminister Christian Lindner einsetzen.

Das soll nicht heißen, dass die Ampelregierung keine Versprechungen macht. Gerade in gesellschaftspolitischen und demokratischen Fragen will sie ihrem Anspruch, ein „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ sein zu wollen, Ausdruck verleihen: So wurde von Vielen zu Recht die Abschaffung des §219a StGB freudig begrüßt, der bislang verhindert, dass Ärzt:innen darüber informieren können, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. §218 StGB, der Abtreibungen grundsätzlich unter Strafe stellt, soll aber erhalten bleiben. Auch das Transsexuellengesetz, das Betroffene stigmatisiert, soll durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden. Das Blutspendeverbot für Männer, die Sex mit Männern haben, sowie für trans Menschen soll fallen. Das aktive Wahlalter soll auf 16 Jahre gesenkt werden. Eine Mehrfachstaatsangehörigkeit soll möglich und die Einbürgerung erleichtert werden. Cannabis will die Ampel ebenfalls legalisieren, von einer Entkriminalisierung weiterer Substanzen spricht sie aber nicht, lediglich von Maßnahmen zur „Schadensminderung“.

All diese Reformen sind nicht etwa nur Zugeständnisse der Koalitionspartner:innen, sondern das längst überfällige Ergebnis des langjährigen Engagements vieler Menschen. Davon werden viele profitieren. Es zeigt aber vor allem, wie konservativ die Merkelregierungen auf gesellschaftspolitischem Terrain in der Rückschau doch waren – allen Mutmaßungen über eine „Sozialdemokratisierung“ der Unionsparteien zum Trotz. Kaum vorstellbar, dass all jene Reformen von einer schwarz-grünen Regierung umgesetzt worden wären.

Bemerkenswert ist deshalb umso mehr, dass in Fragen von Asyl und Migration nicht viel von dem „fortschrittlichen“ Anspruch der Ampel übrigbleibt. Mit militärischer Sprache kündigt der Koalitionsvertrag eine „Rückführungsoffensive“ an, denn: „Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann bleiben.“ Man wolle „irreguläre Migration wirksam reduzieren“ und die EU-Grenzschutztruppe Frontex zu einer echten EU-Grenzschutzagentur“ weiterentwickeln. Die humanitären Floskeln aus dem Wahlkampf sind schlicht verpufft. Die Ampel muss natürlich wissen, dass sie mit einer nach rechts gehenden Union und einer konsolidierten AfD eine starke rechte Opposition hat. Mit ihrer scharfen Rhetorik in der Migrationsfrage scheint sie darauf zu reagieren, indem sie nach rechts vermitteln möchte.

Wenig Überraschung bei Arbeit und Sozialem

Das Bundesarbeitsministerium geht erwartungsgemäß an die Sozialdemokratie. Wie zu erwarten, bringt die SPD ihr zentrales Wahlkampfversprechen, den 12-Euro-Mindestlohn, in der Vereinbarung unter. Davon profitieren zwar viele Arbeiter:innen im Niedriglohnsektor, den SPD und Grünen unter Schröder selbst ausgeweitet haben. Angesichts der derzeitigen Inflation von bis zu sechs Prozent im November verschafft den Geringverdienenden aber auch diese Lohnerhöhung nur eine kurze Verschnaufpause. Die groß angepriesene Abschaffung von Hartz IV und die Einführung eines Bürgergelds entpuppt sich derweil tatsächlich als Rohrkrepierer, denn ändern wird sich vor allem der Name. Immerhin sollen einige Sanktionsmöglichkeiten gegen Kindern und Jugendlichen zurückgenommen werden.

Zugleich kündigt die Ampel auch erste Angriffe an. Die „Experimentierräume“, in denen auf Grundlage von Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen die Tageshöchstarbeitszeit verlängert werden darf, sind quasi unverändert aus dem Sondierungspapier übernommen worden. Die Ausweitung von Mini- und Midijobs leistet ebenfalls weiterer Prekarisierung Vorschub, auch wenn der Vertrag verspricht, man wolle „verhindern, dass Minijobs als Ersatz für reguläre Arbeitsverhältnisse missbraucht oder zur Teilzeitfalle insbesondere für Frauen werden.“

Vor der Wahl hatte die SPD die Wahrung des Rentenniveaus von 48 Prozent angestrebt. Diese Forderung hat ebenso Eingang in den Koalitionsvertrag gefunden wie das Bekenntnis, das Renteneintrittsalter nicht zu erhöhen. Entscheidender ist jedoch, dass auf Betreiben der FDP ein Teil der Rente kapitalgedeckt sein soll, womit ein Schritt zur weiteren Privatisierung der Altersvorsorge getan ist. Statt das Auskommen im Alter staatlich zu versichern, soll es auch hier der Markt richten.

Die Sache mit dem Klima

Die Nachhaltigkeit führt der Koalitionsvertrag im Untertitel. Dass mit den Grünen eine Partei in die Regierung gelangt, die das Klima zu einem zentralen Element ihrer politischen Außenwahrnehmung gemacht hat, ist jedoch kaum zu spüren. Zwar habe es „oberste Priorität“, die Pariser Klimaschutzziele zu erreichen, wie der Vertrag noch in der Präambel verspricht, und der Begriff „Klima“ fällt an allen Ecken und Enden. Die Welt wehklagte gar, es stünde noch häufiger darin als das Wort „Deutschland“. An handfesten Maßnahmen fehlt es jedoch umso mehr.

Der Kohleausstieg soll von 2038 auf 2030 vorgezogen werden, allerdings nur „idealerweise“ – eine Formulierung, die symptomatisch stehen könnte, für eine Regierung, bei der scheinbar hehre Ziele und Wille zur Umsetzung schon jetzt auseinanderklaffen. Die Grünen werden zwar ein „Superministerium“ Wirtschaft und Klimaschutz bekommen. Das für die Klimaziele aber sehr wichtige Verkehrsministerium wird an die FDP gehen.

Fridays For Future hat bereits kurz nach der gestrigen Pressekonferenz in einer Stellungnahme verlauten lassen, dass man mit diesem Koalitionsvertrag die Ziele des Pariser Abkommens nicht erreichen könne. Selbst die Parteijugend und das Aushängeschild der Grünen in der Klimabewegung, Luisa Neubauer, fanden kritische Worte für den Absatz zum Klima.

Lindner als Herr der Finanzen

Jede Maßnahme zum Klimaschutz, die Geld kostet, wird außerdem an Christian Lindner als neuem Finanzminister vorbei müssen. Im Freitag mutmaßte der stellvertretende Chefredakteur Sebastian Puschner zwar bereits, dass Lindner und die FDP unter dem Investitionsdruck doch bereit sein könnten, Geld in die Hand zu nehmen. Wie nur ein strammer Republikaner wie Richard Nixon eine diplomatische Offensive der USA gegenüber dem kommunistischen China habe realisieren können, “so vermag womöglich nur ein seinem Image nach ‘solider’ Finanzminister das ‘stabilen Finanzen’ sehr zugewandte deutsche Wahlvolk mit Investitionsausgaben ungeheuren Ausmaßes zu versöhnen.” Gut möglich jedoch, dass er Lindners Hartnäckigkeit unterschätzt.

Denn vereinbart ist: Die Schuldenbremse wird ab 2023 wieder voll greifen. Größere Investitionen könnten jedoch außerhalb des Bundeshaushalts (und damit außerhalb der Kontrolle des Parlaments) ausgelagert werden. Auch Institutionen wie die staatliche KfW-Bank sollen dafür herangezogen werden. Eine feste Größe, wie viel man investieren will, fehlt jedoch. Wo der Staat sich beschränkt, soll der Markt helfen: „Wir wollen mehr privates Kapital für Transformationsprojekte aktivieren.“

Mit Annalena Baerbock scharf gegen Russland und China

Das Außenressort im kommenden Kabinett wird Annalena Baerbock zufallen. Aller „Girlboss“-Attitüde zum Trotz darf man jedoch längst keine „feministische“ Außenpolitik erwarten. Deutlichstes Zeichen dafür: Die Ampel nimmt sich vor, für die Bundeswehr bewaffnete Drohnen anzuschaffen. Cathryn Clüver Ashbrook, Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, nennt das „neuen Realismus“. Man kann es auch anders nennen: Aufrüstung. Der Charakter der geplanten Außenpolitik darf auch daran bemessen werden, wie die künftige rechte Opposition darauf reagierte: Unions-Vizefraktionschef Johann Wadephul zeigte sich überrascht von dem „realistischen Ansatz in Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik“. Dazu passt auch, dass die Ampel an der nuklearen Teilhabe Deutschlands festhalten möchte, nachdem vergangenes Jahr auch in der SPD prominente Stimmen laut geworden waren, die die Teilnahme Deutschlands an der nuklearen Abschreckung durch die NATO beenden wollten.

Insgesamt deutet sich eine wieder stärkere Annäherung an die USA an, mit einer schärferen Haltung gegenüber Russland und der Bezeichnung der Beziehung zu China als „systemische Rivalität“. Wie die neue Bundesregierung aber mit umstrittenen Themen wie der Zukunft von Nord Stream 2 umgehen will, lässt der Koalitionsvertrag offen – Baerbock gilt als scharfe Gegnerin des deutsch-russischen Kooperationsprojekts.

Für die Ampelparteien gilt es nun, ihren Mitgliedern die Verhandlungsergebnisse schmackhaft zu machen. Während SPD und FDP Parteitage durchführen wollen, um darüber zu entscheiden, führen die Grünen online und per Brief eine Mitgliederabstimmung durch. In der Woche vom 6. Dezember soll Olaf Scholz dann im Bundestag zum Kanzler gewählt werden. Alle drei Parteien haben Punkte untergebracht, die sie ihrer jeweiligen Basis als Erfolge vorstellen können: für die Grünen ein starkes Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und Prüfung von Gesetzesvorhaben auf Vereinbarkeit mit Klimazielen; für die SPD den Mindestlohn, Mietpreisbremse und den Erhalt des Rentenniveaus; für die FDP vor allem die Finanz- und Steuerpolitik, aber auch die kapitalgedeckte Rente.

Bei aller verständlichen Freude über reale Verbesserungen, die die Ampel verspricht, dürfen wir uns am Ende doch keine Illusionen über die kommende Regierung machen. In weiten Teilen steht sie für ein „Weiter so“ der Merkeljahre und hat einige handfeste Angriffe auf die Arbeitsbedingungen vor. Das kann längst kein Grund zur Freude sein, sondern zur Organisierung, um diese Angriffe zurückzuschlagen.

Und nicht zu vergessen: Der Koalitionsvertrag ist kein tatsächlicher Vertrag, hat als Absichtserklärung keine bindende Kraft und muss deshalb auch nicht notwendigerweise die tatsächliche Regierungspolitik vorgeben. Nicht ausgeschlossen also, dass sich am Ende die Erinnerung an einen anderen SPD-Kanzler passender sein wird als das Brandt-Zitat: Gerhard Schröder. Seine rot-grüne Koalition bezeichnete sich in ihrem Koalitionsvertrag als Regierung der Erneuerung. Dass sie dann mit der Agendapolitik einen der größten Angriffe auf die Arbeits- und Lebensbedingungen vieler Menschen in Deutschland fahren und die Bundeswehr in den Krieg schicken würden, hatte sie zum Regierungsantritt nicht angekündigt.

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