Frauen, Leben, Freiheit: Strategische Perspektiven der iranischen Revolte

03.11.2022, Lesezeit 15 Min.
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Bild: Sahar Gorishi

Vor mehr als einem Monat brach eine historische Frauenrevolte im Iran aus. Wie ist sie zu charakterisieren? Und welche strategischen Lehren können wir aus den Erfahrungen der iranischen Revolution ziehen, um diesen Kampf zu gewinnen?

Dieser Artikel basiert auf einer Überarbeitung und Ergänzung des Artikels Women, Life, Freedom: Strategic Perspectives on the Iranian Revolt von Maryam Alaniz, der am 28. Oktober bei Left Voice auf Englisch erschienen ist. Übersetzung: Miri P.

Fast 50 Tage sind vergangen, seit die brutale Ermordung von Mahsa Jîna Amini den Iran erschütterte und die größten Proteste gegen die Regierung im Land seit 2009 auslöste. Im schiitischen Islam ist es Tradition, den 40. Tag (chehellom) nach dem Tod eines geliebten Menschen mit einer Feier zu begehen. Zehntausende Iraner:innen reisten in Aminis kurdische Heimatstadt Saqqez, um zu protestieren und ihres chehellom zu gedenken. Trotz Straßensperren kamen die Menschen in Scharen zu Fuß, um ihr Grab zu besuchen.

Dies ist nur eines der vielen Bilder, die im vergangenen Monat die Aufmerksamkeit der internationalen Medien erregt haben. Wie George Floyd vor fast zwei Jahren ist auch Mahsa Jîna Amini zu einem internationalen Symbol des Widerstands geworden. Ihr Tod hat die arbeitenden Menschen im ganzen Iran aufgerüttelt – Student:innen und Schüler:innen, Kurd:innen, Belutsch:innen, Araber:innen, Perser:innen, Aseris, Luren und Turkmen:innen Hand in Hand. Die Welt hat ihre Furchtlosigkeit angesichts der rücksichtslosen Unterdrückung durch das Regime beobachtet.

Bislang wurden mindestens 250 Menschen getötet, 900 verletzt und 12.500 verhaftet, auch wenn offizielle Zahlen nur schwer zu bekommen sind. Besonders schlimm ist die Repression in den Provinzen Sistan, Belutschistan und Kurdistan, in denen es große ethnische Minderheiten gibt. Die Internetsperren halten an, aber trotz der Abschaltungen findet die technisch geschickte iranische Jugend immer wieder Wege, ihren Kampf in die Welt zu tragen. Doch leider sind es dieselben Jugendlichen, die am stärksten unterdrückt werden. Selbst Demonstrierende im Alter von 11 Jahren wurden durch scharfe Munition des Regimes getötet.

Unter den Verhafteten befinden sich viele politische und gewerkschaftliche Aktivist:innen. Am 15. Oktober brach im Evin-Gefängnis ein Feuer aus, das nach Ansicht vieler Demonstrant:innen vom Regime provoziert wurde, um die Bewegung einzuschüchtern. Evin ist das Hauptgefängnis für politische Gefangene und Regimegegner:innen und wird auch als „Universität von Evin“ bezeichnet, weil dort viele regierungskritische Intellektuelle, Künstler:innen und Aktivist:innen inhaftiert sind.

Obwohl das Regime unerbitterlich an seinem brutalen Vorgehen gegen die Demonstrant:innen festhält, verschärft sich die Legitimationskrise durch die Revolte von Tag zu Tag und entwickelt sich weiter. Selbst prominente Hardliner mussten in einigen Punkten Zugeständnisse an die Bewegung machen. So zum Beispiel Ali Laridschani, ein ehemaliger Sprecher des iranischen Parlaments, der seit der Revolution von 1979 zu den obersten Machthabern gehört und einst ein Kandidat für die Nachfolge Chameneis als Oberster Anführer war. Er hat dazu aufgerufen, die Durchsetzung der Hijab-Pflicht zu überprüfen und die Repressionen des Regimes gegen Demonstrierende zu verringern.

Ein weiteres Beispiel für die zunehmende Spaltung der herrschenden Klasse findet sich unter den Geistlichen, die die schiitische Oligarchie Irans bilden. Der Große Ayatollah Asadollah Bayat-Zanjani, ein hochrangiger Geistlicher, kritisierte kürzlich die „Sittenpolizei“, die er für illegal und gegensätzlich zum Islam hält.

Ein anonymer Geistlicher aus der schiitischen heiligen Stadt Qom (die ebenfalls Schauplatz von Protesten war) erklärte Anfang Oktober gegenüber Middle East Eye, dass „die Mehrheit im Seminar von Qom, oder zumindest ein großer Teil der Geistlichen, zunehmend gegen die Islamische Republik ist, weil sie sowohl den Islam als auch die Geistlichen in den Augen der Menschen geschwächt hat“, so der Kleriker. „Gleichzeitig haben viele Geistliche keine Beziehungen zum Establishment und distanzieren sich von dessen Politik, da sie nicht als Teil der Islamischen Republik angesehen werden wollen.“

Es bleibt zwar abzuwarten, inwieweit die Unruhen das Regime weiter spalten werden, doch hat sich diese Protestwelle bereits als eine der komplexesten Herausforderungen für das bürgerliche Regime der Mullahs seit seiner Gründung im Jahr 1979 erwiesen. Was macht diese Revolte im Zusammenhang mit der Krise im Iran so bedeutsam?

Charakterisierung der Revolte

Was als feministischer Aufstand begann – mit dem mittlerweile internationalen Slogan „Frauen, Leben, Freiheit“ –, hat sich schnell zu einer größeren Revolte gegen die Regierung entwickelt. In vielerlei Hinsicht sind diese aktuellen Proteste eine Fortsetzung der Anti-Regierungs-Proteste von 2017 und 2019 im Iran (und auch in den Ländern der iranischen Einflusssphäre, wie dem Libanon und dem Irak), die den ähnlichen Slogan „Brot, Arbeit, Freiheit“ vertraten. Diese Welle des Klassenkampfes hat in vielerlei Hinsicht die wachsende anti-neoliberale Stimmung auf der ganzen Welt ins Rampenlicht gerückt und stand in direktem Zusammenhang mit dem Kampf gegen Sparmaßnahmen und die hohen Lebenshaltungskosten.

Im Gegensatz zur „Grünen Bewegung“ im Jahr 2009, die reformorientiert war, von der Mittelschicht angeführt wurde und sich größtenteils auf die iranischen Großstädte beschränkte, fordert diese neuere Protestwelle im Iran ausdrücklich den Sturz des Regimes (auch wenn noch unklar ist, was an seine Stelle treten wird), und sie setzt sich hauptsächlich aus der Arbeiter:innenklasse zusammen. Vor dem Hintergrund einer schleichenden Krise des Kapitalismus, die seit 2008 immer wieder aufflammt, löst die durch den Krieg in der Ukraine und die hohe Inflation geprägte postpandemische Situation im Iran auch eine neue Welle des Klassenkampfes gegen die globale Lebenshaltungskostenkrise aus.

Was viele nicht vorausgesehen haben, ist, dass diese sich zusammenbrauende soziale Unzufriedenheit vor allem von arbeitenden Frauen getragen wird – in einem Land, in dem die Erwerbsbeteiligung von Frauen eine der niedrigsten der Welt ist, in dem aber paradoxerweise über 60 Prozent der Universitäts- und Hochschulabsolvent:innen iranische Frauen sind. Neben der patriarchalen Unterdrückung sind viele Frauen im Iran auch massiver wirtschaftlicher Unsicherheit ausgesetzt.

Angesichts dieser Faktoren ist es kein Wunder, dass sich der Iran seit der Lockerung der strengsten Pandemie-Beschränkungen in einem fast ständigen Protestzustand befindet. In diesem Sinne kann der aktuelle Aufstand als Höhepunkt einer sozialen Krise gesehen werden, die sich schon lange vor dem letzten Monat zusammenbraute.

Abgesehen von diesen strukturellen Faktoren muss die Subjektivität der Frauen im Iran im Kontext einer Post-MeToo-Ära und einer wiederbelebten globalen feministischen Bewegung gesehen werden, die sich aus Frauen, Trans-, Queer- und Nicht-binären Menschen zusammensetzt, die unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen Angriffen ausgesetzt sind.

Ein weiteres hervorstechendes Merkmal dieser Proteste ist die Einheit der verschiedenen Sektoren im Kampf, zwischen den Geschlechtern, den Iraner:innen und ihrer Diaspora (die Proteste in über 150 Städten auf der ganzen Welt organisiert hat, darunter ein Protest mit über 80.000 Menschen in Berlin), verschiedenen ethnischen Gruppen, aber auch zwischen den verschiedenen Generationen. Die iranische Gen-Z, oder daheh-ye hashtadiha, steht an vorderster Front dieser Proteste und wird im Zuge der jüngsten iranischen Protestbewegungen, aber auch der BLM-Proteste erwachsen, die die Vorstellungskraft einer neuen Generation radikalisierter Jugendlicher auf der ganzen Welt erweitert haben. Mehr als 40 Prozent der iranischen Bevölkerung sind unter 24 Jahre alt, und auch die Jugendarbeitslosigkeit ist weit verbreitet.

Ein weiteres nicht zu vernachlässigendes Merkmal ist die Präsenz und Aktivität der Arbeiter:innenklasse, die in dieser Bewegung stark vertreten ist, jedoch bisher nur wenige unabhängige Aktionen organisiert hat. Derzeit gehören die Lehrer:innengewerkschaften und die Vertragsarbeiter:innen in der Ölindustrie zu den prominentesten Sektoren, die sich als Reaktion auf die Proteste organisieren. In den letzten Jahren hat es im Iran einen Anstieg von Arbeitskämpfen in  unterschiedlichen Sektoren wie der Petrochemie, dem LKW-Verkehr und der Schwermaschinenindustrie gegeben.

Das Aufkommen dieser Proteste hat viele dieser Sektoren dazu veranlasst, demokratische und politische Fragen mit wirtschaftlichen Fragen zu verknüpfen. Parallel zu dieser Dynamik organisieren sich die Arbeiter:innen auch selbst, ganz in der Tradition der während der Revolution entstandenen Selbstorganisationsgremien. Diese shoras gibt es nicht nur an den Arbeitsplätzen, sondern auch an den Universitäten und in den Stadtvierteln.

Die Rolle des Imperialismus und die Notwendigkeit einer antiimperialistischen Solidarität

Halbkolonien wie der Iran tragen oft die Hauptlast der Krise des Kapitalismus (wie das Horten von Impfstoffen in den reichsten Ländern der Welt gezeigt hat), weil sie dem globalen Kapitalismus und der Aggressivität des Imperialismus grundsätzlich untergeordnet sind. Trotz des Status des Iran als Regionalmacht ist seine wirtschaftliche und militärische Macht im Vergleich zu den imperialistischen Ländern immer noch weitaus kleiner.

Insbesondere deutsche Konzerne sind als Handelspartner für die iranische Wirtschaft extrem wichtig. Während die Sanktionen der westlichen imperialistischen Mächte gegen den Iran die Arbeiter:innenklasse im Iran schwer getroffen haben, war Deutschland 2020 der mit Abstand größte Handelspartner des Iran in der EU. Zugleich werden die Sanktionen, die 2018 intensiviert wurden, als ständiges Druckmittel genutzt, um die Interessen des Imperialismus gegenüber dem iranischen Regime durchzusetzen.

Außerdem hat der Iran mit den anhaltenden Auswirkungen der Pandemie zu kämpfen. Der Iran war ein berüchtigtes Epizentrum der Pandemie, und ihre Auswirkungen auf die Wirtschaft waren so gravierend, dass sich das iranische Regime gezwungen sah, beim IWF einen beispiellosen Antrag auf ein Notdarlehen in Höhe von 5 Milliarden US-Dollar zu stellen. Während das Missmanagement des Regimes die schlimmsten Auswirkungen der Pandemie noch verschärfte, wurden die Arbeiter:innenklasse und die ärmsten Sektoren der iranischen Gesellschaft durch die doppelte Bedrohung der „Maximaldruck“-Sanktionen des Westens und des Coronavirus schwer getroffen. Diese Sanktionen bestehen auch heute noch.

Umso zynischer ist es, wenn sich Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) darüber äußert, wie schlimm Staatsgewalt und Repression im Iran seien und ihre angebliche Solidarität mit den iranischen Frauen bekundet, während sie zeitgleich mit immer neuen Sanktionen gegen den Iran droht. Sanktionen schaden nicht Staaten und Regierungen, sondern immer nur der Arbeiter:innenklasse. In welchem Interesse sie tatsächlich durchgeführt werden, zeigen auch die deutschen Rüstungsdeals und Anti-Migrations-Abkommen mit der Türkei, die Baerbock aufrechterhält, während der türkische Präsident Erdogan seit Monaten eine Invasion der kurdischen Gebiete in Nordsyrien vorbereitet. Das zeigt auch, dass die imperialistischen Kräfte an einer tatsächlichen Befreiung der ethnischen Minderheiten von der nationalen Unterdrückung keinerlei Interesse haben.

Und während Baerbock als Vorkämpferin für Frauenrechte mit Schildern posiert, auf denen „Jin Jiyan Azadi“ (Frauen, Leben, Freiheit) steht, intensiviert die Bundesregierung ihre Zusammenarbeit mit dem antifeministischen und mörderischen Regime in Saudi-Arabien im geopolitischen Interesse des Ukraine-Kriegs. Baerbocks Feminismus ist nichts anderes als die mit ökonomischen und militärischen Waffen durchgesetzte Interessenpolitik des deutschen Imperialismus. Wenn sie das iranische Regime kritisiert und die Gewalt gegen die Proteste verurteilt, dann nicht als tatsächliche Verbündete der Massen, sondern nur deshalb, weil ein stärker in den „Westen“ eingegliedertes Iran für die Profite der deutschen Konzerne vorteilhafter wäre.

Deshalb müssen die Proteste im Iran und die Solidaritätsbekundungen weltweit davon ausgehen, jegliche imperialistische Einmischung in den Iran zu verurteilen – seien es Sanktionen oder potenzielle militärische Interventionen –, das Recht auf nationale Selbstbestimmung der Minderheiten im Iran und in der ganzen Region zu verteidigen und im Kampf für den Sieg des Aufstands im Iran auf die Solidarität der weltweiten Arbeiter:innenklasse anstatt auf die Unterstützung dieser oder jener Kapitalfraktion und dieser oder jener kapitalistischen Regierung zu setzen, egal wie „fortschrittlich“ sie sich geben mögen. Für Deutschland heißt das auch, die „feministische“ Außenpolitik der Ampelregierung auf das Schärfste zu verurteilen, anstatt sie als ein Vehikel des Kampfes für Frauenrechte im Iran zu verstehen.

Der Weg zur nächsten Revolution im Iran

Trotz aller fortschrittlichen Elemente der iranischen Revolte bleibt die strategische Frage, ob die Arbeiter:innenklasse und die (spontan entstandene) Massenbewegung in ihrem Bewusstsein und ihrer Organisation so weit fortschreiten können, dass sie auf einem unabhängigen Weg eine revolutionäre Situation eröffnen. Mit anderen Worten: Wie können die Proteste ihren Charakter der Revolte überwinden, ohne von in- und ausländischen bürgerlichen Kräften strategisch abgelenkt zu werden?

Hier können wir auf die Geschichte des Klassenkampfes im Iran zurückblicken und die iranische Revolution – die fortschrittlichste Erfahrung der iranischen Massen – nutzen, um Lehren zu ziehen und einen Weg nach vorn einzuschlagen. Denn die Iraner:innen kämpfen weiterhin gegen ihre Knechtschaft unter repressiven bürgerlichen Regimen und dem imperialistischen System, das sie stützt.

Eine der wichtigsten Lehren, die wir ziehen können, ist, dass die Arbeiter:innenklasse eine entscheidende Macht hat und dass die Organisation eine Rolle spielen muss, wie wir beim Generalstreik gesehen haben, den die Arbeiter:innen durch die shoras organisiert haben, um das Schah-Regime in die Knie zu zwingen. Dieser Gedanke steht im Gegensatz zu postmodernen Vorstellungen, die von der neoliberalen Ideologie stark übernommen wurden, d. h. dass die Arbeiter:innenklasse als Subjekt irrelevant oder lediglich eine kulturelle Facette einer breiteren „Staatsbürger:innenschaft“ oder des „Volkes“ sei.

Vielmehr betont diese Idee die Arbeiter:innenklasse als revolutionäres Subjekt (d.h. dass das Proletariat über die gesellschaftliche Macht verfügt, eine Revolution zum Sieg zu führen) und die Bedeutung der Hegemonie der Arbeiter:innenklasse als politische Strategie. Mit ihr kann die Arbeiter:innenklasse ihre gesellschaftliche Macht in den Dienst der Bedürfnisse aller vom Kapitalismus betroffenen sozialen Sektoren stellen und diese verschiedenen Sektoren, die im Grunde gegen denselben Feind kämpfen, vereinen, indem sie ihre Forderungen aufgreifen.

In diesem Zusammenhang ist auch die Dynamik der Theorie der permanenten Revolution von Bedeutung, die sich während der iranischen Revolution voll entfaltet hat. In den entscheidenden Bewegungen des Klassenkampfes während der Revolution, in denen die Machtfrage zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiter:innenklasse gestellt wurde, beließen es die kämpfenden Arbeiter:innen nicht bei ihren demokratischen Bestrebungen gegen das autoritäre Regime des Schahs. Vielmehr stellten sie die Produktion unter Arbeiter:innenkontrolle in den Dienst der Bewegung. Mit anderen Worten: Durch diese kurze Erfahrung begannen die Arbeiter:innen zu begreifen, dass der Ausweg aus dem ihnen aufgezwungenen Elend in ihren eigenen Händen lag.

Die shoras, die auch die Bedeutung der Organisation zur Koordinierung zwischen den kämpfenden Sektoren hervorhoben, zeigten auch, wie echte Demokratie aussieht und wie die Gesellschaft auf der Grundlage dieser Art von Demokratie organisiert werden könnte, in der Arbeitsplätze, Nachbarschaften, Schulen und sogar ländliche Gemeinden demokratisch über alles entscheiden können, wie die Gesellschaft funktioniert.

Leider wurde die Erfahrung der iranischen Revolution durch einen Prozess der Unterdrückung und Konterrevolution durch das islamische Regime unterbrochen. Dabei konnte das Regime sich auf den destabilisierenden Einfluss des westlichen Imperialismus verlassen, der im Verborgenen arbeitete, um eine proletarische Revolution zu verhindern. Gleichzeitig war ein Großteil der Linken nicht in der Lage, die islamistischen Kräfte politisch herauszufordern – sei es, weil sie Khomeinis Regime durch Etappentheorie der Revolution unterstützten oder weil sie über den Charakter von Khomeinis Programm verwirrt waren.

Einige Denker:innen, wie Foucault (der die Ideen von Zeitgenoss:innen wie Laclau und Mouffe aufgriff), fielen der Analyse des neuen Regimes vor allem auf der Ebene des Diskurses zum Opfer, weil sie eine Klassenanalyse ablehnten und sich stattdessen auf den „progressiven“ populistischen Diskurs stützten, den Khomeini geschickt einzusetzen verstand – indem er Konzepte der Linken mit paniranischen, schiitischen Ideen verschmolz. Indem sie den Klasseninhalt von Khomeinis Programm ignorierten, ordneten sich große Teile der Linken, einschließlich der marxistischen Linken, politisch dem grundlegend bürgerlichen Programm des neuen Regimes unter.

Aus dieser Geschichte können wir die folgenden Lehren für heute ziehen:

  1. Die Arbeiter:innenklasse, die die strategischen Positionen kontrolliert, welche die Gesellschaft am Laufen halten, und nicht die abstrakten Kategorien der „Staatsbürger:innen“ oder „Menschen“, hat die entscheidende Macht, die Sektoren im Kampf zu vereinen. Das Fehlen einer Hegemonie der Arbeiter:innen bedeutet folglich, dass die Bewegung sich in dieser „staatsbürgerlichen“ Form ausdrücken wird, auch wenn viele ihrer Protagonist:innen Teil der Arbeiter:innenklasse sind.
  2. Wir müssen bei jeder Gelegenheit für demokratische Gremien der Selbstorganisation eintreten. Diese Gremien könnten die Keimzelle für künftige Arbeiter:innenräte sein, die schließlich die Kontrolle über die gesamte Wirtschaft in die Hände der Werktätigen legen könnten, damit die Ressourcen des Landes entsprechend den Bedürfnissen der Mehrheit der Gesellschaft entwickelt und verteilt werden.
  3. Die Hegemonie der Arbeiter:innen und Organisationen vom Typ der Sowjets entwickeln sich nicht einfach spontan, wenn sich der Klassenkampf verschärft. Stattdessen ist der Aufbau einer revolutionären politischen Organisation eine Schlüsselaufgabe für Revolutionär:innen. Anstatt das Vakuum der politischen Führung der Hegemonie konterrevolutionärer Kräfte zu überlassen, ist die Bildung einer unabhängigen Arbeiter:innenführung, die um die Führung in demokratischen Gremien kämpft, die die Avantgarde der Kämpfe mit ihrer politischen Perspektive organisieren kann und die ein Programm zur Konfrontation mit dem gesamten bürgerlichen Regime vorlegt, von grundlegender Bedeutung für den Erfolg der Bewegung.
  4. Die Entfaltung des Potentials dieser Bewegung und die Eröffnung des Weges von der Revolte zur Revolution hängt auch von der Subjektivität der Arbeiter:innenklasse weltweit ab. Nicht nur moralisch, sondern auch strategisch hängt die Frage der Unterstützung der iranischen Arbeiter:innen und Unterdrückten von der Aktivität und Organisierung der Arbeiter:innen und Unterdrückten auf der ganzen Welt ab, insbesondere in den imperialistischen Ländern. Es ist von zentraler Bedeutung, gegen jede imperialistische Einmischung zu kämpfen – auch von angeblich „progressiven“ westlichen Regierungen wie der Ampelregierung und ihrer „feministischen Außenpolitik“ – und eine antiimperialistische und proletarische Solidarität mit den Protesten gegen das Regime und für den Rauswurf des Imperialismus aus der Region zu entwickeln. Wir fordern die sofortige Beendigung jeglicher Interventionen des Imperialismus im Iran, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich. Das Regime im Iran kann nur durch das Bündnis der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten gestürzt werden, unabhängig von der Einmischung des Imperialismus und allen lokalen Kapitalfraktionen, in der Perspektive einer sozialistischen Föderation Westasiens. Unsere Kämpfe als arbeitende Menschen sind untrennbar miteinander verbunden, und der Tod von Mahsa Jina Amini oder die Ermordung eines anderen Mitglieds unserer Klasse können zum Funken werden, der ein Feuer auf der ganzen Welt entzündet.

 

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