Ein utopischer Post-Kapitalismus

21.03.2021, Lesezeit 20 Min.
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Quelle: Ideas de Izquierda

Im zweiten Teil der Rede von Emilio Albamonte zur Eröffnung des Kongress der PTS im Dezember 2020 beschäftigen wir uns mit den Strömungen des "Postkapitalismus", die ihre Hoffnungen in die voranschreitende technologische Entwicklung setzen.

Angesichts der wiederkehrenden Krisen hat sich die Idee eines „Postkapitalismus“ durchgesetzt, weil der Kapitalismus nach 2008 sehr schlecht dasteht. Das ist eine wichtige Veränderung gegenüber jener Situation extremer Einsamkeit, in der wir Revolutionär:innen uns in der vorangegangenen Etappe befanden. Diese war, wie wir hervorgehoben haben, nicht nur durch eine Krise der Führung gekennzeichnet – weil die erwähnten Bürokratien an der Spitze der Arbeiter:innenklasse standen –, sondern durch eine Krise der Subjektivität. Das heißt, das Proletariat sah sich als besiegt an; es war der Meinung, dass es nicht mehr kämpfen konnte. Das Jahr 2008 markierte in diesem Sinne einen Wendepunkt. Anfang 2011 schrieben wir zusammen mit Matías Maiello einen Artikel mit dem Titel „An den Grenzen der bürgerlichen Restauration„, um diesen Wandel und seine wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen zu analysieren. Zu dieser Zeit entwickelte sich der Arabische Frühling – der besiegt wurde –, zusammen mit anderen Prozessen, die die Rückkehr eines Klassenkampfniveaus markierten, das man seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte: die Ausschreitungen im Spanischen Staat, 2013 in Brasilien usw.. Dieses Niveau kehrte später mit einer zweiten Welle zurück, mit einem Epizentrum in Frankreich ab Ende 2018: zuerst mit den Gelbwesten und ein Jahr später mit dem Kampf gegen die Rentenreform mit dem Streik der Eisenbahner:innen und Busfahrer:innen, der fast zwei Monate lang dauerte. Dieser Zyklus erstreckte sich von den nordafrikanischen Ländern über den Nahen Osten bis nach Hongkong sowie Europa und Lateinamerika und droht in erweitertem Umfang wieder aufzutauchen, wobei nicht weniger als die USA hinzukommen.

In diesem Panorama der Krise der neoliberalen Hegemonie haben sich eine Reihe von Strömungen entwickelt, die als „postkapitalistisch“ bezeichnet werden. Sie betrachten einige Elemente des gegenwärtigen Kapitalismus isoliert voneinander und stellen sich einen Kapitalismus vor, der sich von selbst abschafft, der evolutionär als Produkt seiner eigenen Tendenzen überwunden wird. In der Wochenzeitschrift Ideas de Izquierda veröffentlichten wir verschiedene Polemiken mit diesen Strömungen; in den letzten Ausgaben kann man Beiträge von Paula Bach und Matías Maiello lesen. Ich interessiere mich für diese Strömungen nicht so sehr deshalb, weil sie sich zu reformistischen politischen Strömungen entwickeln könnten, sondern weil sie eine Grundlage für diese Strömungen bieten können. An sich haben sie keine fertigen Programme. Viele teilen die Anspielung auf eine Art „bedingungsloses Grundeinkommen“ oder „Bürgergeld“, das eine Art verallgemeinerter Sozialplan ist. In mehreren Fällen schlagen sie einen Betrag vor, der einer Art minimalem menschenwürdigen Einkommen entspricht. Aber letztlich ist es etwas, um den kapitalistischen Staat unter Druck zu setzen, damit er gibt, was er kann, denn sie wissen, dass die Kapitalist:innen unflexibel sind und dass sie nichts geben werden, außer dem, was man im Kampf erreicht. Aber darüber hinaus möchte ich mich mit der theoretischen Basis beschäftigen, die die postkapitalistischen Strömungen postulieren.

Eine ziemlich weit verbreitete Vorstellung unter diesen Strömungen ist, dass wir gerade einen qualitativen Sprung in der technologischen Entwicklung erleben, der einen unaufhaltsamen Rückgang der Produktionskosten von Gütern bewirkt, wodurch das Ende der Arbeit durch Automatisierung immer näher rückt, dank künstlicher Intelligenz, Fortschritten in der Robotik usw. In der Tat ist der wissenschaftliche und technische Fortschritt eine Tatsache. Aber wie Trotzki sagte: „Der Kapitalismus war bis zum Ende unfähig gewesen, eine einzige seiner Tendenzen voll zu entwickeln.“ (Trotzki: Marxismus in unserer Zeit, 1939).

Es ist ein Fehler, dieses Element getrennt von der Wirtschaft, der Geopolitik und dem Klassenkampf zu betrachten. Zwischen den Fortschritten der Technologie und der Automatisierung der Arbeit steht nichts Geringeres als der kapitalistische Profit und die Staaten als Garanten dieser Profite. Ohne zu weit auszuholen, ist eines der grundlegenden Elemente hinter dem Handelskrieg zwischen den USA und China der Streit um die 5G-Technologie und das Ziel, technologische Entwicklungen zu verhindern, die den wirtschaftlichen und geopolitischen Wettbewerb beeinflussen könnten. Auf der anderen Seite sind viele der möglichen technologischen Entwicklungen, und noch mehr diejenigen, die mit der Gesundheit und dem Wohlergehen der großen Mehrheit zu tun haben und die Investition von großen Kapitalbeträgen erfordern, für die Kapitalist:innen nicht profitabel. In diesem Rahmen betrachtet ist das, was uns bevorsteht, keine evolutionäre Entwicklung des Kapitalismus, sondern katastrophale und wiederkehrende Krisen.

Die Entwicklung der Technologie würde es ermöglichen, das Gleiche mit immer weniger Arbeit zu produzieren. Aber das Kapital braucht immer mehr Arbeiter:innen unter immer prekäreren Bedingungen, um seine Profite zu steigern. Denn die einzige Quelle seiner Profite ist gerade die unbezahlte Arbeitszeit, die den Arbeiter:innen durch die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft gestohlen wird. Deshalb ist die Arbeitskraft für die Kapitalist:innen zwar ein „Kostenpunkt“, den sie reduzieren wollen, aber siekönnen nicht auf sie verzichten, weil sie ihre einzige Quelle für echten Profit ist. Das bedeutet, dass es bei weitem nicht zu einem „Ende der Arbeit“ kommen wird, das so viele Theoretiker:innen schnell verkündet haben, sondern zu immer mehr Prekarisierung der Arbeit, immer größeren Massen von Unterbeschäftigten und Arbeitslosen auf der einen Seite und immer mehr Arbeiter:innen, die anstrengende Arbeitszeiten haben, auf der anderen. Die Kapitalist:innen interessiert nicht die Nützlichkeit der Dinge, die produziert werden, um ein Bedürfnis zu befriedigen; was sie interessiert, ist der Profit, den sie durch die Produktion einer bestimmten Ware machen. Dieser Profit kommt nicht von den Maschinen, die keinen neuen Wert schaffen, sondern von der unbezahlten Arbeitszeit, die die Kapitalist:innen den Arbeiter:innen stehlen.

Eine der technologischen Errungenschaften, die heute die Grundlage für neue Technologien bilden, ist das Internet, das einen militärischen Ursprung hat. Wozu dient das Internet? Um das Problem des Hungers zu lösen, damit die Menschen weniger Stunden arbeiten, damit der Verkehr revolutioniert wird und die Umwelt nicht zerstört? Nein. Eine der Hauptbranchen, in der es eingesetzt wird, ist die Werbebranche. So kommt jedes Jahr ein neues iPhone mit kleinen Änderungen heraus, damit die Leute es kaufen müssen. Die Entwicklung einer wahnsinnigen Werbung dient dazu, ein Produkt zu verkaufen, obwohl es kein wirkliches Bedürfnis ausdrückt, außer dem der Kapitalist:innen, ihre Taschen zu füllen. Das ist es, worum es bei der großen Internet-Revolution in erster Linie ging. Eine andere grundlegende Verwendung ist die Unterhaltungsindustrie; Marxist:innen sind natürlich nicht gegen Unterhaltung, aber das Kapital hat die Unterhaltung in eine Schlüsselindustrie verwandelt, die riesige Mengen menschlicher Arbeit verbraucht und in die Milliarden von Dollar investiert werden. So wird das Internet für Unterhaltung, Werbung usw. genutzt, aber nicht, um zum Beispiel das Problem des Hungers, des Wohnraums und andere schreckliche Probleme der arbeitenden Menschen zu lösen.

Es ist eine Sache, eine Technologie oder eine Maschine einzuführen, und eine ganz andere, sie unter die Regie des Kapitals zu stellen. Die Automatisierung ist kein Phänomen, das außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse der kapitalistischen Produktion analysiert werden kann. Wie Marx im Kapital darlegt:

Die von der kapitalistischen Anwendung der Maschinerie untrennbaren Widersprüche und Antagonismen existieren nicht, weil sie nicht aus der Maschinerie selbst erwachsen, sondern aus ihrer kapitalistischen Anwendung! Da also die Maschinerie an sich betrachtet die Arbeitszeit verkürzt, während sie kapitalistisch angewandt den Arbeitstag verlängert, an sich die Arbeit erleichtert, kapitalistisch angewandt ihre Intensität steigert, an sich ein Sieg des Menschen über die Naturkraft ist, kapitalistisch angewandt den Menschen durch die Naturkraft unterjocht, an sich den Reichtum des Produzenten vermehrt, kapitalistisch angewandt ihn verpaupert.

Mit anderen Worten: Die Maschine erleichtert die Arbeit, aber unter dem Kommando des Kapitals wird sie eingesetzt, um den letzten Tropfen Schweiß aus den Arbeiter:innen herauszuquetschen. Dieselbe Maschine, die den Reichtum der Produzent:innen erhöhen würde, führt von den Kapitalist:innen eingesetzt zur Erzeugung von Millionen von Arbeitslosen, die um denselben Arbeitsplatz konkurrieren müssen. Das nutzen die Kapitalist:innen, um Druck auf die Arbeiter:innen auszuüben – die aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, konservativer werden.

Mehrere der postkapitalistischen Autor:innen beziehen sich auf die Aussage von Marx in den Grundrissen, dass der Kapitalismus mit der Entwicklung von Wissenschaft, Kooperation und gesellschaftlichem Austausch dazu tendiert, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zur Produktion und Reproduktion dessen, was die Gesellschaft für ihre Existenz braucht, zu verringern. Aber sie lassen genau den anderen fundamentalen Teil von Marx‘ Ansatz in den Grundrissen aus: dass der Kapitalismus parallel dazu versucht, diese potentielle „freie Zeit“ in Mehrarbeit, also in kapitalistischen Profit, umzuwandeln. Deshalb kann die technologische Entwicklung zwar potentiell dazu führen, den Arbeitstag drastisch zu verkürzen und freie Zeit für die schöpferische Muße von Kunst, Wissenschaft und Kultur zu schaffen. Aber das ist nur unter der Bedingung möglich, das kapitalistische Privateigentum an den Produktionsmitteln zu beenden und die Wirtschaft rational und demokratisch nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen zu planen.

Der Kapitalismus kann, wie wir es mit Trotzki Worten gesagt haben, keine einzige seiner Tendenzen zu Ende führen. Um das Kapital angesichts der fortschreitenden Automatisierung und des Rückgangs seiner Profitrate in den zentralen Ländern zu verwerten, expandierte es daher im Neoliberalismus stark in Richtung China, um dort billige Arbeitskräfte zu bekommen und auf diese Weise nicht nur die „Kosten“ dort zu senken, sondern damit auch die Löhne des Proletariats überall auf der Welt zu senken. Die Expansion nach China ging einher mit einer Zunahme der Ausbeutung von Arbeiter:innen im Westen. Es handelte sich um zwei komplementäre Bewegungen: intensivere Arbeit mit Maschinen und Technologie im Westen und die Verlagerung der arbeitsintensivsten Tätigkeiten nach China. Das ist das große Geheimnis der sogenannten „Globalisierung“. 20 Jahre lang lieferte China Produkte, die in den USA viel kostenspieliger zu produzieren waren – sie waren in China viel billiger, weil es über eine ultraprekäre Arbeitskraft verfügte, die vom Lande kam – und bot dem imperialistischen Kapital gleichzeitig Möglichkeiten zur Akkumulation. Die chinesische Bürokratie hat die Ungeheuerlichkeit erreicht, einen Kapitalismus zu erzeugen, der tausendmal grausamer ist als der, den die Kämpfe des westlichen Proletariats zu stoppen vermochten. Diese Bürokratie wird sich früher oder später nicht nur mit Streikprozessen auseinandersetzen müssen, wie es in China periodisch geschieht, sondern auch mit Prozessen der Organisierung der Arbeiter:innenklasse gegen das Verbot, sich in Gewerkschaften zu organisieren, ohne den Scanner der Kommunistischen Partei zu durchlaufen.

Natürlich können wir die Diskussion mit den „postkapitalistischen“ Thesen hier nicht vollständig ausschöpfen. Paula Bach beendet gerade ein Buch über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Themen, das wir im nächsten Jahr veröffentlichen werden. Zum Anderen setze ich hier die Erklärung voraus, dass die Maschine keinen neuen Wert schafft, sondern dass dies nur durch menschliche Arbeit möglich ist. Für eine Erklärung dieser Fragen empfehle ich die Kurse über Das Kapital, die man auf dem Virtuellen Campus La Izquierda Diario ansehen kann. Aber was ich hier betonen möchte, ist, dass die Idee, die sich durch die postkapitalistischen Ansätze zieht –eine evolutionäre Entwicklung der Technologie im Kapitalismus, die zu einem bestimmten Zeitpunkt die Automatisierung verallgemeinern und sich von der Arbeit emanzipieren würde –, für Marx falsch ist und im Gegensatz zu den Tendenzen des aktuellen Kapitalismus steht.

Theorien des Elends und bedingungsloses Grundeinkommen

Einige „postkapitalistische“ Autor:innen sprechen von „linkem Miserabilismus“1, um die Verwaltung von Sozialhilfeplänen als Haupttätigkeit vieler Strömungen zu beschreiben2. Dagegen setzen sie die Entwicklung neuer Technologien, die dazu tendieren würden, Überfluss zu erzeugen. Nun: Wir haben immer stark kritisiert, dass die Mehrheit der Linken große Kräfte in die Verwaltung staatlicher Hilfen steckt und parteipolitische Gruppierungen aufstellt, in die die Begünstigten einbezogen werden sollen. Demgegenüber schlagen wir die Notwendigkeit einer einheitlichen Bewegung von Arbeitslosen mit Tendenzfreiheit und die Selbstverwaltung der Pläne durch eben jene Arbeitslosen vor, die sie in Anspruch nehmen. Aber die „Postkapitalist:innen“ vertreten nicht nur eine Idee des Überflusses begünstigt durch die neuen Technologien, die von der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln getrennt ist – was, wie wir gesehen haben, das grundlegende Problem ist –.Trotz der Kritik am „Miserabilismus“ reproduzieren sie am Ende ein ähnliches Schema durch die Idee des „bedingungslosen Grundeinkommens“ als eine Möglichkeit, Druck auf den Staat auszuüben. Das kommt – unabhängig von dieser oder jener Kritik am Kapitalismus – schlussendlich einem Verbot gleich, an eine Revolution und eine tiefgründige sozialistische Lösung zu denken. Dabei wäre diese angesichts des Widerspruchs zwischen dem Elend der großen Massen und dem Potenzial der Fortschritte in Technik und Wissenschaft die einzig kohärente Lösung. Denn sie schlägt vor, dass die Arbeiter:innenklasse ihren eigenen Staat errichtet und sich die Produktionsmittel und die technologischen Fortschritte aneignet,um sie in den Dienst der Arbeitszeitverkürzung zu stellen. Das Ziel ist, dass die Arbeit als Zwang einen immer geringeren Anteil an den Tätigkeiten der Menschen ausmacht und der gesamten menschlichen Kreativität, die das Ziel der kommunistischen Bewegung ist, freier Lauf gelassen wird.

So betrachtet, stellen die Vorschlägen der Postkapitalist:innen elende Maßnahmen dar, die die Perspektive der sozialistischen Revolution der Arbeiter:innen leugnen. Stattdessen sagen sie uns, dass wir – während wir weiter hoffen sollen, dass die technologische Entwicklung die Menschheit von selbst befreien wird – akzeptieren müssen, dass der gesellschaftliche Reichtum bei einer Handvoll Kapitalist:innen konzentriert ist, die über den gleichen Reichtum wie die Hälfte der Menschheit verfügen. Wir sollen uns höchstens mit einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ oder „Bürgereinkommen“ zufrieden geben, was eine Art Verallgemeinerung von verbesserten Sozialhilfeplänen wäre.

Jemand, der kein „Postkapitalist“ ist, sondern ein Mainstream-Ökonom wie Thomas Piketty, argumentiert, dass der Neoliberalismus die Tendenzen zur Konzentration des Reichtums bei einer Handvoll Milliardär:innen auf die Spitze getrieben hat, begleitet von einem reicheren Mittelklassesektor. Währenddessen vergrößert sich die Kluft zu den großen Mehrheiten immer weiter. Zwar ist der Lebensstandard nicht notwendigerweise stark gesunken. Aber während die Kapitalist:innen ihren Reichtum um den Faktor 100.000 vergrößert haben, konnte die große Mehrheit der arbeitenden Menschen ihn nur um den Faktor 1 erhöhen, wenn sie überhaupt dazu in der Lage waren. Das heißt, es gab eine enorme Zunahme der Ungleichheit, wasder zentrale Punkt des Neoliberalismus ist, die von den großen Mehrheiten auch wahrgenommen wird. Es gibt diejenigen, die so reich sind, die sie so viel angehäuften Reichtum haben, während die Arbeiter:innen in den Städten in Slums zusammengepfercht sind – ein Planet der Slums, wie Mike Davis es nannte, in dem mehr als eine Milliarde Menschen leben. Und dagegen schlägt Piketty vor… dass die Kapitalist:innen mehr Steuern zahlen sollen, um den großen Massen etwas mehr zu geben.

Was uns zu Revolutionär:innen und nicht zu reformistischen Evolutionist:innen macht, ist, dass wir glauben, dass es keine Lösung ohne die Enteignung der gesellschaftlichen Produktionsmittel der Kapitalist:innen gibt. Da dies aber dem akademischen Denken verwehrt ist, bleibt Piketty als Alternative zur Verringerung der Ungleichheit, ohne das kapitalistische Privateigentum zu beenden, nur übrig, die Einführung von 90-prozentigen Steuersätzen vorzuschlagen. Nun muss er dabei voraussetzen, dass die Bourgeois wie Jeff Bezos oder Bulgheroni oder Rocca3 friedlich 90 Prozent Steuern akzeptieren würden, was lächerlich ist. Schauen wir uns nur an, was 2008 in Argentinien passiert ist, nur wegen einer kleinen Erhöhung der Steuer auf Sojabohnenexporte, als der Preis 600 Dollar pro Tonne betrug: Die ländliche Bourgeoisie inszenierte fast einen Aufstand. Um der Großbourgeoisie eine 90-prozentige Steuer aufzuerlegen, müsste eine Revolution gemacht werden. Aber wenn wir schon eine Revolution machen, warum sollten wir dann die großen Produktions- und Zirkulationsmittel, die Fabriken, den Transport usw., in den Händen der Kapitalist:innen lassen, anstatt alles in die Produktion im Dienste der Arbeiter:innenklasse zu stellen, was das Ziel des Sozialismus ist?

Das ist sehr wichtig für die PTS, denn in Argentinien waren die letzten Jahre von niedrigem Klassenkampf geprägt, und der Vormarsch der Linken war sehr stark mit der Front der Linken und der Arbeiter:innen (FIT) verbunden. Sie ist eine Wahlfront, die wenig von Revolution spricht, weil die Idee der Revolution von den großen Massen noch nicht verstanden wird. Aber wie Marx und Engels sagten, dürfen Kommunist:innen ihre kommunistischen Ideen und Ziele nicht vor den Massen verbergen; wer das tut, hört auf, ein:e Kommunist:in zu sein. Wir müssen uns also den Kopf zerbrechen, wie wir unseren Kommunismus möglichst populär ausdrücken, auch wenn wir ihn noch nicht in Massenagitation umsetzen können. Zum Beispiel zielte die Kampagne, die wir zum Thema „Arbeitszeitverkürzung, um weniger zu arbeiten und damit alle arbeiten“ durchgeführt haben, genau darauf ab: die Frage der Arbeitszeitverkürzung auf den Tisch zu bringen, die Notwendigkeit, die Fortschritte in Wissenschaft, Technologie und Arbeitskooperation dem Kommando des Kapitals zu entreißen, um zu einer Gesellschaft voranzuschreiten, die von der Notwendigkeit, der Arbeit als Zwang usw. befreit ist und Wunder bewirken könnte, die heute undenkbar sind.

Offensichtlich gibt es ein Prozent Kapitalist:innen, die sich auf 20 Prozent der oberen Mittelschicht stützen, für die diese Ideologien funktional sind. Das sind diejenigen, die in Argentinien die rechte neoliberale Partei PRO wählen; zusammen mit denen, die sich mit diesem Programm identifizieren und die Idee des individuellen Fortschritts, des „Ich will akkumulieren“, „Ich will haben“ usw. kaufen, kommen sie auf 40 Prozent. Die Vorschläge, dass es eine Möglichkeit gibt, den Kapitalismus durch Reformen zu überwinden – sei es durch die universelle Anwendung der Maschinen unter der Regie des Kapitals, sei es durch die Erhebung von mehr Steuern –, sind utopische Pläne, die uns letztlich von einer Perspektive der proletarischen Revolution ablenken sollen.

Teil 1 dieses Vortrags erschien am 14.3.2021 unter dem Titel „Die marxistische Methode und die Aktualität der Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen“. Teil 3 erscheint am 28.3.2021.

Fußnoten

1. Miserabilismus beschreibt eine Haltung, die menschliche Natur als Gefangene des Elends zu betrachten, wodurch jede radikale Perspektive der Veränderung der Welt pessimistisch abgelehnt wird und als einziger Horizont die möglichst menschliche Verwaltung der Misere bleibt.

2. In Argentinien wird Arbeitslosenhilfe nicht durch den Staat, sondern häufig vermittelt durch soziale Organisationen und politische Parteien bezahlt. Das führt zum Einen dazu, dass einige Organisationen einen Großteil ihrer Militanz durch die Verwaltung dieser Hilfsgelder tätigen, und zum Anderen, dass die Empfänger:innen der Gelder materiell von der politischen Organisation abhängig gemacht werden und diese beispielsweise die Auszahlung der Gelder an die Teilnahme an Demonstrationen oder Veranstaltungen knüpfen.

3. Die Familien Bulgheroni und Rocca gehören zu den reichsten Familien Argentiniens und besitzen einige der größten argentinischen Konzerne.

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