Die Ukraine und das nationale Problem in der UdSSR

28.03.2022, Lesezeit 35 Min.
Übersetzung: ,
1
Illustration: Ideas de Izquierda

1968 veröffentlichte der ukrainische sowjetische Schriftsteller Iwan Dsjuba ein Buch über die nationale Frage in der UdSSR und insbesondere in der Ukraine.

Die gesamte Geschichte der Sowjetunion, die auf den Trümmern des Zarenreichs errichtet wurde, war von Anfang an von der nationalen Frage geprägt. In den ersten Jahren der sowjetischen Geschichte traten Lenin und die Bolschewiki für die Selbstbestimmung der Völker des ehemaligen Zarenreichs ein – eine Politik, die mit dem Aufstieg Stalins zugunsten ihrer Unterordnung und der Wiederbelebung des alten großrussischen Chauvinismus umgekehrt wurde.

Wir stellen an dieser Stelle zwei Kapitel (das vierte und das dreizehnte) aus dem Buch Internationalismus oder Russifizierung? vor, das 1968 in ukrainischer Sprache aus der Feder des vor kurzem verstorbenen ukrainischen sowjetischen Schriftstellers Iwan Mychajlowytsch Dsjuba (1931-2022) veröffentlicht wurde. Dieses Werk wurde ins Russische übersetzt und heimlich in der UdSSR in Umlauf gebracht. Später wurde es aus dem Land gebracht, ins Englische übersetzt und auch im Westen veröffentlicht. Dsjuba war ein linker Dissident in der UdSSR und wurde von der herrschenden Bürokratie als Vergeltung für die Veröffentlichung dieses Buches, das als „antisowjetisch“ galt, verfolgt und gekündigt. Das Buch ist ein fundierter Beitrag, in dem Dsjuba – angesichts der „ukrainischen Frage“ und der nationalen Frage im Allgemeinen – Lenins Politik der Selbstbestimmung der unterdrückten Nationen des ehemaligen Zarenreiches wieder aufnimmt, die die ersten Jahre nach der Oktoberrevolution bestimmte. Im Laufe des Buches schildert der Autor auch, wie mit der Machtübernahme Stalins und der Bürokratie diese Politik aufgegeben wurde und man wieder in den alten großrussischen Chauvinismus zurückfiel, der die nationale Unterdrückung unter einem falschen „sozialistischen“ Banner fortsetzte und verschärfte. Nikita Chruschtschow und die Führer:innen der Bürokratie, die nach Stalins Tod folgten, setzten diesen Kurs fort. Dsjuba polemisiert in seinem Buch also gegen diese Politik.

Heute existiert die UdSSR nicht mehr, und sowohl Russland als auch die Ukraine sind kapitalistische Länder. Auch die Probleme der nationalen Unterdrückung sind heute verschieden, wie die „neue“ Situation (seit drei Jahrzehnten) der russischsprachigen oder ethnisch als „russisch“ identifizierten Bevölkerung in der Ukraine. In der Zarenzeit und dann in der UdSSR nach der Machtübernahme durch den Stalinismus handelte es sich dabei um eine Ethnie, die mit einer herrschenden Nation verbunden war, was in der heutigen Ukraine nicht der Fall ist. Wladimir Putin rechtfertigte kürzlich seine Invasion in der Ukraine, indem er das Land als „eine vom bolschewistischen Russland erfundene Fiktion“ bezeichnete. Damit führt dieser Vertreter der Elite, die von der kapitalistischen Restauration profitiert hat, lediglich die Argumente der alten stalinistischen Bürokratie fort, die die Revolution begraben hat und mit den Moskauer Prozessen der 30er Jahre und dem Gulag für die physische Liquidierung der alten bolschewistischen Revolutionsgarde verantwortlich war. Auf der anderen Seite wird Putin in der Propaganda derjenigen, die die NATO-Politik verteidigen, selbstgefällig mit dem Sowjetkommunismus gleichgesetzt. Aber in Sowjetrussland selbst gab es in den Jahren nach der Revolution eine alternative Politik, um die nationale Frage auf revolutionäre Weise zu lösen: die gleiche Politik, die Putin so sehr hasst, nämlich die von Lenin. Dieser Text von Dsjuba aus den 1960er Jahren beleuchtet all diese Probleme.

***

Die Zukunft der Nationen; Nationen im Kommunismus

Unsere praktische Einstellung zu einem bestimmten sozialen Phänomen hängt entscheidend davon ab, wie wir sein künftiges Schicksal einschätzen. Wenn wir einem Hauseigentümer mehr oder weniger offiziell mitteilen, dass sein Haus in unmittelbarer oder naher Zukunft dem Erdboden gleichgemacht und sein Garten in ein Grundstück für andere Bauten umgewandelt wird, wird er wahrscheinlich nicht damit beginnen, sein Haus zu renovieren und seinen Garten zu pflegen; seine Freund:innen und Gäste werden diese Nachricht noch weniger mit Begeisterung aufnehmen. Unter solchen Bedingungen würde sich wahrscheinlich eine Psychologie der „Wochenendhausbewohner“ entwickeln, die derjenigen, die Maxim Gorki seinerzeit anprangerte, nicht unähnlich ist.

Etwas Ähnliches geschieht auch bei uns in der Frage der Nationalitäten. In der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung herrscht die Vorstellung vor, dass die nächste, vielleicht sogar die unmittelbarste Aufgabe der Kommunist:innen die Schaffung einer Gesellschaft ohne Nationen ist, eines „Amalgams der Nationen“, und dass daher nationale Sprachen und Kulturen etwas Moribundes, Rückständiges, Zweitklassiges und sogar Reaktionäres sind; auf jeden Fall etwas Verdächtiges und Bedauerliches.

Woher kommt diese seltsame Vision und warum gibt sie sich als „marxistisch“ aus? Warum ist sie mit der Idee des Kommunismus verbunden? Mit dem Marxismus und dem Kommunismus hat sie jedenfalls nichts gemein, sondern ist das genaue Gegenteil.

Marx hat diese Art von politischen Machenschaften und Ignoranz stets verspottet. So schrieb Marx zum Beispiel sarkastisch, als er Engels über den Verlauf einer Sitzung des Rates der Internationale berichtete:

Übrigens rückten die (Nichtarbeiter) Repräsentanten der ‚jeune France‘ damit heraus, daß alle Nationalität und Nationen selbst ‚des prejugés surannes‘ [veraltete Voruteile]  sind. (…) D’ailleurs [Übrigens] sind alle ‚Reaktionäre‘, die die ’soziale‘ Frage mit den ’superstitions‘ [abergläubischen Ideen] der Alten Welt inkumbieren [belasten]. Die Engländer lachten sehr, als ich meinen speech [Vortrag] damit eröffnete, daß unser Freund Lafargue etc., der die Nationalitäten abgeschafft hat, uns ‚französisch‘, i.e. in einer Sprache angeredet, die 9/10 des Auditoriums nicht verstand. Ich deutete weiter an, daß gänzlich unbewußt er unter Negation der Nationalitäten ihre Absorption in die französische Musternation zu verstehn scheine.[1]

Marx spottete über diese Machenschaft, bezeichnete sie als „proudhonisierten Stirnerianismus“ und wies auf ihr imperialistisches Wesen hin. Aber es gibt heute Leute, die ähnliche Ansichten predigen – die Absorption vieler Nationen durch die „russische Musternation“ – und behaupten, dass dies „Marxismus und Kommunismus“ sei. Was für ein bitteres und absurdes Paradoxon! Irgendeiner wird schon sagen, dass heute niemand mehr die „Absorption“ von Nationen predigt, sondern ihre „Annäherung“ und „Verschmelzung“. Ja, offiziell spricht die Presse von „Annäherung“ und „Verschmelzung“ der Nationen. Aber fragen Sie 99 Prozent der Bevölkerung, wie sie diese „Annäherung“ und „Verschmelzung“ interpretieren, und Sie werden sehen, dass sie es als genau diese „Absorption“ betrachten. Auch die Zahlen der letzten Volkszählung sind in dieser Hinsicht sehr aussagekräftig. Im Jahr 1914 schrieb Lenin:

Die Politik der Regierung ist völlig vom Geist des Nationalismus durchdrungen. Man ist bestrebt, der ‚herrschenden‘, d. h. der großrussischen Nationalität alle möglichen Vorrechte zu gewähren, obgleich die Großrussen[2]in Rußland die Minderheit der Bevölkerung ausmachen, nämlich nur 43%. (…) In Rußland gibt es 43% Großrussen, aber der großrussische Nationalismus herrscht über 57% der Bevölkerung und unterdrückt alle Nationen.[3]

Heute, im 49. Jahr der Sowjetmacht, machen die Großruss:innen nach offiziellen Angaben weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus, und wenn wir die russifizierten Nichtruss:innen (die in den Volkszählungsdaten offiziell als Personen aufgeführt werden, die Russisch als ihre Muttersprache betrachten) hinzuzählen, wird ihre Zahl noch viel höher sein. Die relative Zahl der Ukrainer:innen und anderer „Nationalitäten“ hat entsprechend abgenommen. Warum diese starke Veränderung in den Verhältnissen? Ist sie das Ergebnis der normalen Koexistenz der Nationen? Sie kann kaum als Erfolg des kommunistischen Nationenaufbaus betrachtet werden; wäre sie eine beliebige voll ausgebildete Nation in der Welt, würden ihre Kommunist:innen zweifellos anders denken. Wir müssten nach Analogien in einer ganz anderen, nicht-kommunistischen Ära und Sphäre der Geschichte suchen. Und man kann dies kaum als Ergebnis der „leninistischen Nationalitätenpolitik“ bezeichnen; Lenin hat ähnliche Phänomene bekanntlich als „großrussischen Imperialismus“ und „russischen Großmachtchauvinismus“ bezeichnet. Kein einziges Dokument der bolschewistischen Partei Lenins befürwortete die Assimilierung von Nationen, insbesondere die Assimilierung kleinerer Nationen durch eine große Nation, und nichts wurde über die Verschmelzung von Nationen als unmittelbare Aufgabe der proletarischen Bewegung gesagt. Aber woher kommt diese „gängige Meinung“, die das Konzept der proletarisch-revolutionären Bewegung und des Aufbaus einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft immer und automatisch mit dem Konzept der „Verschmelzung der Nationen“ und der „Abwesenheit der Nationen“ (d.h. in der Praxis mit dem Konzept der Assimilation) verbindet? Dies ist natürlich nicht die Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus.

Wenn in den Dokumenten der bolschewistischen Partei vom „Zusammenschluss der Arbeiter:innen aller Nationen“ die Rede ist, so ist damit – und das ist ganz klar – ihr organisatorischer Zusammenschluss in einheitlichen Klassenorganisationen zum Zwecke des gemeinsamen revolutionären Kampfes gemeint. Die Interessen der Arbeiter:innenklasse erfordern den Zusammenschluss der Arbeiter:innen aller Nationalitäten eines Staates zu einheitlichen proletarischen Organisationen – politisch, gewerkschaftlich, genossenschaftlich-erzieherisch usw.“, wobei die „tatsächliche Gleichheit aller Nationen und Sprachen“[4] zu gewährleisten ist. Was die Nationen selbst betrifft, so hat die Sowjetmacht unmissverständlich erklärt, dass es ihre Aufgabe ist, ihre allseitige Entwicklung zu fördern, insbesondere die Entwicklung der früher unterdrückten und entrechteten Nationen. Im gemeinsamen Bericht über die Nationalitätenfrage auf dem Zehnten Parteitag wurde vorgeschlagen: „Die Sowjetmacht, die Kommunistische Partei, muss zum Hauptfaktor für die nationale kulturelle Entwicklung der werktätigen Massen der unterdrückten Nationalitäten werden.“[5]

Die Idee der Assimilierung der Nationen, die Idee einer zukünftigen Gesellschaft ohne Nationen ist keine Idee des wissenschaftlichen Kommunismus, sondern von der Art, die Marx und Engels „Kasernenkommunismus“ nannten. Das ist auch die Idee der Revisionist:innen, der Sozialdemokrat:innen der Zweiten Internationale. Vor allem Kautsky machte davon regen Gebrauch. Als Überbleibsel des Kautskyanismus sickerte sie um die Jahrhundertwende in die kommunistische Bewegung ein, wurde aber schnell überwunden und von Lenin und anderen Kommunist:innen demontiert.

Lenin wird oft zitiert, dass er die Assimilation der Nationen nicht nur nicht verurteilt, sondern im Gegenteil befürwortet. Aber das ist eine brutale Verzerrung des leninistischen Geistes. Lenin befürwortete nicht die Assimilierung, sondern die politische Vereinigung der Proletarier:innen aller Länder, und in diesem Zusammenhang wies er den Widerstand gegen eine solche Vereinigung zurück, der auf der Angst vor Assimilierung beruhte. Zweitens meinte er die spontane Assimilierung und nicht eine „programmatische“ Assimilierung, die sich wesentlich von der vorherigen unterscheidet und vom Staat absichtlich und systematisch durchgeführt wird; eine solche künstliche Assimilierung erschien ihm immer als kriminell; man stelle sich mal vor, dass so etwas in den Parteidokumenten zur Zeit Lenins geplant worden wäre. Drittens und letztens findet sich die Nichtverurteilung der Assimilation in dem von uns diskutierten Sinn und Zusammenhang nur in Lenins vorrevolutionären Werken; nach der Revolution, nachdem er die praktische Aufgabe der Nationenbildung übernommen hatte, änderte Lenin den Schwerpunkt  wesentlich und sagte kein Wort mehr über die Vorteile jeglicher Art von Assimilation, sondern führte seinen Kampf mit voller Kraft gegen die Russifizierung, den großrussischen Chauvinismus und die Ideologie von Russland als Großmacht, d.h. in der Tat gegen den Assimilationismus. Und das ist durchaus verständlich: In der Praxis haben die nationalen Bewegungen und der Aufbau von Nationen gezeigt, dass der Kommunismus von der maximalen Entwicklung der Nationen profitiert und nicht von ihrer Schwächung und Assimilierung; jede Tendenz zur Assimilierung in der Politik einer herrschenden Partei in einem multinationalen Staat mit einer imperialistischen Vergangenheit würde unfehlbar eine ganze Reihe von tiefgreifenden Ungerechtigkeiten gegenüber den Nationalitäten dieses Staates und das Wiederaufleben der alten imperialistischen Beziehungen innerhalb dieses Staates in neuen Formen bewirken, und der Sache des Kommunismus und der Freiheit in der ganzen Welt großen Schaden zufügen. Dagegen wandte sich Lenin.

Deshalb hat Lenin seit 1917 kein einziges Wort zugunsten irgendeiner Art von Assimilation gesagt; deshalb hat er kein einziges Wort darüber verloren, dass eine Assimilation auf sowjetischem Boden wünschenswert wäre; deshalb hat er im Gegenteil in den letzten Jahren seines Lebens die ganze Kraft seines Kampfes gegen den großrussischen Chauvinismus und die Großmachtideologie gerichtet, deren Wesen der Assimilationismus ist.

Es ist kein Zufall, dass Lenins internationalistische Position in einer Rede vor dem 16. Kongress der KPdSU (B) der sozialassimilatorischen Position Kautskys gegenübergestellt wurde:

Erstens hat Lenin nie gesagt, dass die nationalen Unterschiede verschwinden und die Nationalsprachen in einer einheitlichen Sprache aufgehen müssen in den Grenzen eines Staates, vor dem Siege des Sozialismus im Weltmaßstab. Im Gegenteil, Lenin hat das direkte Gegenteil gesagt, und zwar, dass ’nationale und staatliche Unterschiede zwischen den Völkern und Ländern… sich noch sehr, sehr lange sogar nach der Verwirklichung der Diktatur des Proletariats im Weltmaßstab erhalten werden‘.

Wie kann man sich auf Lenin berufen und da bei diesen seinen grundlegenden Hinweis vergessen?

Freilich, einer der früheren Marxisten, heute Renegat und Reformist, Herr Kautsky, behauptet das direkte Gegenteil von dem, was Lenin uns lehrt. Er behauptet entgegen Lenin, dass der Sieg der proletarischen Revolution in einem vereinigten österreichisch-deutschen Staat Mitte des vorigen Jahrhunderts zur Bildung einer gemeinsamen deutschen Sprache und zur Germanisierung der Tschechen geführt hätte, denn ‚ohne jegliche gewaltsame Germanisation musste einfach die Macht des entfesselten Verkehrs, die Macht der modernen Kultur, welche die Deutschen brachten, die rückständigen tschechischen Kleinbürger, Bauern und Proletarier, denen ihre verkümmerte Nationalität gar nichts zu bieten hatte, zu Deutschen machen‘[6].

Begreiflicherweise harmoniert eine solche ‚Konzeption‘ durchaus mit dem Sozialchauvinismus Kautskys. (…) Kann denn aber für uns Marxisten, die wir konsequente Internationalisten bleiben wollen, dieses antimarxistische Geschwätz eines wild gewordenen deutschen Sozialchauvinisten wirklich irgendeine positive Bedeutung haben?[7]

So kritisierte Stalin den Chauvinismus, wenn es um den deutschen Chauvinismus ging.

Aber Stalin konnte bekanntlich gut reden, aber das Gegenteil tun. Zu seiner und Chruschtschows Zeit entwickelten sich in der Nationalitätenfrage politische Praktiken, die der Konzeption Kautskys stärker entsprachen, auch wenn sie diese unter „leninistischer“ Phraseologie verbargen. Und nun vergessen wir völlig Lenins „grundlegende Aussage“, dass „nationale und staatliche Unterschiede (…) sich noch sehr, sehr lange sogar nach der Verwirklichung der Diktatur des Proletariats im Weltmaßstab erhalten werden“, und stellen uns stattdessen die Aufgabe der Verschmelzung der Nationen. (An den Tatsachen ändert sich nichts, wenn manchmal statt „Verschmelzung“ eine andere Formel verwendet wird, wie etwa „eine noch größere Annäherung“: In der Praxis bedeutet dies immer die Absorption anderer Nationen durch die russische Nation und nicht umgekehrt; es möge jemand sagen, auf welche Weise sich die russische Nation z.B. der armenischen oder estnischen Nation annähert). In der Tat erwägen wir bereits jetzt die Aufgabe, Nationen innerhalb eines einzigen Landes zusammenzuschließen, lange vor dem Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab und lange vor dem Sieg des Kommunismus in demselben isolierten Land.

Abgesehen von allen anderen unvermeidlichen negativen Folgen kann dies nur zu tiefem Groll, Desillusionierung und Unzufriedenheit unter den Nationen führen, die in der Tat zu einem langsamen Niedergang und zur Reduzierung auf einen gemeinsamen Nenner verurteilt sind, der von der anderen „führenden“ Nation repräsentiert wird.

Es besteht ein enormer politischer und psychologischer Unterschied zwischen der allgemeinen Vereinigung aller Völker der Menschheit zu einer „universellen Menschheit“, d.h. zwischen einer Assimilation der Nationen auf einer universellen menschlichen Basis und der Assimilation einer Nation durch eine andere, der Absorption einer Nation durch eine andere, der Assimilation mehrerer Nationen auf der Basis einer einzigen nationalen Kultur.

Ersteres kann immer noch als fruchtbare Perspektive und positiver Faktor, als Fortschritt angesehen werden (obwohl viele prominente Denker:innen, darunter auch Marxist:innen, der Meinung sind, dass selbst dies ein großer Rückschlag für die Menschheit wäre; dieser gut argumentierte Gedanke wurde seinerzeit von Potebnya[8] mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht: „Selbst wenn die Vereinheitlichung der Menschheit in Bezug auf Sprache und Nationalität im Allgemeinen möglich wäre, wäre dies der Ruin des menschlichen Denkens, als ob wir unsere vielen Sinne durch einen ersetzen würden“). Insgesamt ist das Postulat des „unvermeidlichen“ zukünftigen Zusammenschlusses der Nationen eine höchst problematische, wissenschaftlich unbewiesene Vorstellung, und die „Marxist:innen“ sollten dem Beispiel von Marx folgen, der solche Probleme dem Urteil künftiger Generationen überließ, als es noch keine historische Erfahrung gab, auf die man sich stützen konnte.

Die zweite Art der Assimilation (auf der Grundlage einer einzigen nationalen Kultur oder auf andere Weise als auf der Grundlage der universellen Kultur) ist identisch mit dem Kolonialismus (da sie anderen Völkern im Voraus die wesentliche Bedingung der Gleichheit – das Recht auf einen gleichwertigen Beitrag zur universellen Kultur – vorenthält und sie zur kulturellen Abhängigkeit mit all ihren Folgen für die psychologische Natur der Individuen, die dieser Nation angehören, und für ihre daraus resultierende Stellung in der Gesellschaft verurteilt).

Die „Assimilation“ des ersten Typs kann nicht wirklich Assimilation genannt werden, sondern die universelle Vereinigung der Menschheit; hier wird zumindest keine Nation geschädigt, denn alle gewinnen oder verlieren gleichermaßen. Die Assimilation des zweiten Typs ist eine Assimilation im eigentlichen Sinne; sie stellt unweigerlich eine schwere historische Ungerechtigkeit gegenüber den assimilierten Völkern dar und hinterlässt bei ihnen unauslöschliche Spuren der Verbitterung. Aber sie bringt auch der assimilierenden Nation nicht nur Nutzen, sondern einen Schaden: einen allmählichen inneren Verfall ihrer Kultur und die Last, ein Unrecht begangen zu haben, wenn auch unbewusst. Sie ist nie zu einer soliden Grundlage für die Freundschaft der Völker geworden und wird es auch nie werden, denn sie kann sie nur entzweien und Misstrauen und Feindschaft erzeugen. Deshalb schrieb Maxim Gorki:

Jeder Stamm ist die Quelle unzähliger Möglichkeiten, das Leben mit der Energie des Geistes zu bereichern, und es ist für ein schnelleres Wachstum der Weltkultur unabdingbar, dass diese Energie sich normal entwickelt, durch das Leben fließt – zu unserem Glück und unserer Freude – unter Bedingungen maximaler Freiheit. Die Demokratie kann nur eine Art der Assimilation als legitim und natürlich anerkennen: die Assimilation auf der Grundlage einer universellen Kultur.[9]

Andererseits wird jetzt mit Nachdruck die antimarxistische und antisozialistische „Theorie“ durchgesetzt, die behauptet, dass in der UdSSR anstelle vieler Völker und Nationen eine einzige „Sowjetnation“ (?!) entsteht, ein einziges „Sowjetvolk“, nicht im Sinne der Summe aller sowjetischen Völker und Nationen, nicht als kollektiver Begriff, sondern als angebliche mononationale oder anationale Synthese, die es zum Beispiel in den 1920er oder 1930er Jahren nicht gab und die sich gerade jetzt herausbildet. Diese „Theorie“ durchdringt die Politik, die Propaganda, die Presse und das Bildungswesen. Was die Kultur betrifft, so ist unsere gesamte Presse voll von Phrasen, in denen beschrieben wird, wie sich bei uns schon jetzt eine so genannte „internationale Kultur“ (!?) entwickelt („In der baltischen Region, wie auch in unserem Land insgesamt, entwickelt sich eine internationale Kultur, die allen sowjetischen Nationen gemeinsam ist“; „In unserem Land entwickelt sich rasch eine internationale Kultur, die allen sowjetischen Nationen gemeinsam ist“[10]). Dies ist jedoch eine Absurdität, nicht nur aus der Sicht des Marxismus, sondern auch der elementaren Terminologie: nur das, was für alle Nationen oder die gesamte Menschheit charakteristisch ist, oder das, was zu ihnen gehört, kann international genannt werden. So und nur so hat Lenin diesen Begriff verstanden, als er von der internationalen Kultur der Demokratie, von der internationalen Kultur und den Interessen des Proletariats usw. sprach.

Die Bedeutung, die diesem verworrenen Begriff heute bei uns beigemessen wird, sowie die „Theorie“ einer einzigen „Sowjetnation“ (wie auch immer sie formuliert sein mag) oder eines „Sowjetvolkes“, nicht im Sinne eines Gemeinwesens, sondern einer Identität, dienen dazu, den umfassenden Prozess der Russifizierung zu beweisen und „theoretisch“ zu rechtfertigen. Die bewusste Förderung und „Katalyse“ dieser Entwicklung wird der universellen Kultur und dem gesamten geistigen Leben der kommunistischen Welt enorme, unkalkulierbare und irreparable Verluste zufügen.

Hinzu kommt das Problem unserer weit verbreiteten Praxis, Nationalitäten und alles Nationale negativ zu bewerten. Das Attribut „national“ wird hartnäckig nur auf Themen wie „Überbleibsel“ (auszurotten), „Barrieren“ (abzubauen), „Einseitigkeit“ (zu überwinden) usw. angewendet, während gleichzeitig die positive Bedeutung des Begriffs „national“ in jeder Hinsicht minimiert, übersehen und umgangen wird. Dies ist tatsächlich „Einseitigkeit“. Dies ist natürlich nicht geeignet, den gewaltigen historischen, kulturellen und geistigen Inhalt, den gewaltigen positiven Reichtum des Konzepts“Nationalität/national“ zu verstehen, ein Verständnis, das die großen Förderer:innen der menschlichen Geschichte und Kultur inspiriert hat, das die Begründer:innen des wissenschaftlichen Kommunismus und alle wahren Marxist:innen und Kommunist:innen inspiriert hat (so schrieb zum Beispiel einer der bedeutendsten marxistischen und kommunistischen Philosophen, Antonio Gramsci: „Der Begriff des ‚Nationalen‘ ist das Ergebnis einer ‚originellen‘, in gewissem Sinne einzigartigen Kombination, die in dieser Originalität und Einzigartigkeit verstanden und begriffen werden muss, um sie zu beherrschen und zu orientieren.“ Außerdem bezeichnete er „nicht-nationale Vorstellungen“ als „irrig“ und „eine moderne Form eines alten Mechanismus“[11]).

Schon vor der Revolution fasste A. W. Lunatscharski die marxistische Haltung zum Problem der Nationalitäten zusammen und kritisierte die „konsequenten Kosmopoliten, die glauben, dass die Zukunft die vollständige Vereinigung der Menschheit, eine einzige gemeinsame Sprache und eine einzige gemeinsame Kultur bringen wird“. Er schrieb, dass er vom Standpunkt des Marxismus aus „den Nationalitäten eine enorme und lebenswichtige kulturelle Bedeutung“ beimesse und begrüßte:

(…) die breite Entwicklung des Prozesses der unabhängigen Wiederbelebung fast vergessener und sozusagen enthaupteter Nationalitäten. (…) Die Einheit ist nur dann ein Prinzip von Schönheit und hoher Organisation, wenn ihr flexibler Rahmen eine möglichst große Vielfalt umfasst. Die nationale Vielfalt, meine ich, stellt ein großes Erbe der Menschheit dar, das, wie wir hoffen, bewahrt wird, um uns noch unbekannte Freuden einer lebendigen Wiederbelebung zu schenken. (…) Und speziell in Bezug auf die ukrainische Bewegung (…) muss ich sagen, dass keine nationale Wiederbelebung, subjektiv gesprochen, in mir eine so glühende Sympathie weckt. (…) Wir können die erfreulichsten Ergebnisse von der unabhängigen kulturellen Entwicklung des ukrainischen Volkes erwarten[12], denn es ist zweifellos einer der begabtesten Zweige des slawischen Baumes.[13]

Was den Kommunismus und die künftige kommunistische Gesellschaft betrifft, so sprach Lunatscharski sehr deutlich, und dies ist zweifellos eine der elementaren und grundlegenden Wahrheiten des Kommunismus:

Diejenigen, die im Falle des Sieges des Proletariats von einer ’sozialistischen Planierraupe‘ oder vom Triumph eines farblosen Kosmopolitismus sprechen, irren sich. Nein, die neue Gesellschaft wird die unendliche Farbe und Vielfalt der Natur eines jeden Volkes in ihrem spontanen Strom aufnehmen. Sie wird die mechanistische und tödliche Kraft des Staates zerstören, sie wird die bestialischen und kannibalischen Instinkte töten, die die erzwungene Entpersonalisierung von Individuen und Nationen vorantreiben. Und so wie der Einzelne nie eine solche Freiheit und Originalität erlangt hat, wie er sie in der sozialistischen Zukunft erlangen wird, so haben auch die Nationen nie ihre eigene Stimme im Chor der Menschheit mit solcher Kraft und Unabhängigkeit erhoben, wie sie es dann tun werden.[14]

Das ist es, wonach wahre Kommunist:innen streben müssen. In diesem Geiste, im Geiste einer internationalistischen kommunistischen Weltanschauung, im Geiste des Verständnisses des einzigartigen Wertes eines jeden nationalen Lebens und seiner unerschöpflichen Möglichkeiten, und nicht im Geiste einer verächtlichen und gedankenlosen Missachtung dieser Werte im Namen der bürokratischen „Uniformität“ und der „russischen Leitkultur“ muss die Jugend unseres Landes erzogen werden. Dies und nur dies kann eine echte Freundschaft zwischen gleichberechtigten Völkern, kann die Erhaltung und Vermehrung der  unermesslichen nationalen Werte, die in unserer Union glücklich vereint sind, sowie eine unvergleichliche Vielfalt im zukünftigen geistigen Leben der kommunistischen Welt, garantieren.

Wer aber heute versucht, etwas Ähnliches unter seinem eigenen Namen zu schreiben, wird von vielen Redakteur:innen beschuldigt, lediglich „vages“ Gerede von sich zu geben.

Die gegenteilige Tendenz führt nur zu offener oder verdeckter, bewusster oder unbewusster, gewollter oder ungewollter Verrohung und Vergröberung in der Nationalitätenfrage. Selbst wenn dies nicht in aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt, sondern sich als Gleichgültigkeit gegenüber nationalen Problemen zeigt, ist es im Grunde dasselbe. Die Gleichgültigkeit (die in dieser Frage derzeit in Mode ist) ist das Prinzip der Rohheit, ihr Potenzial, ihre Quelle. Die Gleichgültigkeit ist keineswegs das Gegenteil des stumpfen Nationalismus, sondern seine Kehrseite und sein potenzieller Verbündeter.

Ich glaube nicht, dass man Nationalisten mit dem Argument ‚Was ist für mich eine Nation, was kann ich damit kaufen?‘ überzeugen kann. Die Nation ist das Ergebnis einer jahrtausendelangen Entwicklung. Der nationale Kampf hat jahrhundertelang die glühendsten Leidenschaften entfacht. Tausende von Menschen kamen bei diesem Kampf ums Leben. Sie war manchmal die Quelle des Lebens, manchmal die Todesursache großer Revolutionen. Können die Massen von dieser großen Ideologie durch ein ‚Was kann ich damit kaufen?‘ befreit werden?[15]

Die einzige Alternative zum Nationalismus (sowohl zum defensiven Nationalismus der kleinen Nationen als auch zum aggressiven Nationalismus der großen Nationen) ist die Erziehung eines echten internationalistischen Nationalgefühls, der Hingabe an die eigene Nation, der Liebe und Wertschätzung für alle anderen Nationen, des Wunsches, dass die eigene Nation so viel wie möglich zur Menschheit beiträgt und alles für sie tut, was sie kann. Daher hat ein wahrer Internationalist ein großes Verantwortungsgefühl für seine eigene Nation und den Wunsch, um es mit den Worten des Gelehrten O. Biletsky zu sagen, für sie ein „Adelspatent“ in den Augen der Menschheit zu erlangen.

Die höchste Pflicht des Menschen ist es, zur Menschheit zu gehören. Aber er kann nur durch seine eigene Nation, sein eigenes Volk dazugehören. In der gesamten Menschheitsgeschichte lassen sich nur gelegentliche Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel finden, die sowohl durch die großen Massenbewegungen als auch durch die Biographien großer Persönlichkeiten  bestätigt werden. Wie wir schon sagten, gibt es gelegentlich Beispiele dafür, dass ein Mensch seine eigene Nation verlassen hat, um sich einer anderen anzuschließen, zum Nutzen sowohl dieser Nation als auch der Menschheit. Das ist aber nur dann der Fall, wenn sich sein Muttervolk bereits in der universellen Familie gefestigt hat, seine nationale Existenz gesichert ist und unter dem Verlust einiger weniger Individuen nicht sehr leidet. Aber wenn sich Ihre Nation in einer kritischen Situation befindet, wenn ihre eigene nationale Existenz und Zukunft auf dem Spiel steht, ist es beschämend, sie im Stich zu lassen.

Die nationale Frage ist gleichzeitig eine soziale Frage und eine universelle historische Frage

Es ist ein Fehler, die sozialen Probleme den nationalen Problemen unter dem Vorwand gegenüberzustellen, dass erstere wichtiger und unmittelbarer sind. Nationale Probleme sind immer auch soziale Probleme, Probleme der klassenpolitischen Strategie. Dies galt schon immer für die ukrainische Frage. Dazu kommt der Bereich der Außenpolitik, zu dem der 5. Kongress der Kommunistischen Internationale erklärte: „Die ukrainische Frage ist eine der wichtigsten nationalen Fragen Mitteleuropas, und ihre Lösung wird von den Interessen der proletarischen Revolution in Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei sowie in allen Nachbarländern diktiert.“[16] Natürlich hat die internationale Bedeutung der ukrainischen Frage zugenommen, nicht nur in Bezug auf den sozialistischen Aufbau in den europäischen Nachbarländern, sondern auch in Bezug auf die revolutionäre Bewegung und den nationalen Aufbau in Asien und Lateinamerika.

Aber heute müssen wir auch den internen sozialen Aspekt der ukrainischen nationalen Frage berücksichtigen.

Lenin und die Partei haben immer betont, wie wichtig es für das Proletariat und den sozialistischen Aufbau ist, den Konflikt in der Ukraine zwischen der ukrainischsprachigen Bauernschaft und dem russischsprachigen Proletariat, zwischen dem ukrainischen Dorf und der russifizierten Stadt zu lösen. Dies ist insbesondere die Bedeutung der Politik der Ukrainisierung. Das Proletariat, die russifizierte Stadt, sollte zur aktiven Trägerin der ukrainischen Kultur werden und auf dieser Grundlage ihr Bündnis mit der Bauernschaft und ihrer Führung stärken. So hätte die ukrainische Nation eine vollwertige sozialistische Nation werden sollen und nicht eine Art unterentwickelter Embryo, ein ethnografisches Rohmaterial, das unvorhersehbare Komplikationen für die Zukunft mit sich bringt. Die ukrainische Nation hätte ihre Kraft für die stolze Schaffung eines sozialistischen Staates einsetzen sollen….

Leider ist heute die Kluft zwischen dem ukrainischsprachigen Dorf und der russischsprachigen Stadt noch größer. Nur ein völliger Mangel an politischer Verantwortung kann es uns erlauben, dies mit Gelassenheit zu betrachten und jene komplexen sozialen Zusammenstöße nicht zu bemerken, die dieser sprachliche und nationale Konflikt zwischen dem Dorf und der Stadt in der Ukraine – zum Leidwesen des Sozialismus – hervorbringt.[17]

Ich bin sicher, dass in naher Zukunft marxistische Ökonom:innen und Soziolog:innen, die die Gründe für unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten in der Landwirtschaft analysieren, darunter die krankhaften Anomalien in den Beziehungen zwischen dem Dorf und der Stadt finden werden, den soziokulturellen Minderwertigkeitskomplex des Dorfes, die vielfache Verachtung des Dorfes und der Dorfbewohner:innen  (nicht formell, in der offiziellen Presse, sondern tatsächlich, im wirklichen Leben), die in der Ukraine durch den nationalen Faktor kompliziert und verstärkt wird, den schmerzhaften nationalen Unterschied zwischen dem ukrainischsprachigen Dorf und der russifizierten Stadt. Eine durchdachte und subtile Analyse wird wahrscheinlich feststellen, dass die Untergangsstimmung, die sich über der Nation ausbreitet, das Fehlen nationaler Perspektiven und nationalen Wachstums jenseits der Dorfgrenzen, der entnationalisierende Druck „von oben“, aus der Stadt, nicht zuletzt zu den Faktoren gehören, die zu jenem Rückgang der Vitalität, jener Demoralisierung, zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und zum Alkoholismus beitragen, die bei der Landbevölkerung häufig zu beobachten sind und die an sich ein ernstes soziales Problem darstellen.

Ebenso werden die künftigen Soziolog:innen den demoralisierenden Einfluss des national-linguistischen Konflikts zwischen Stadt und Land auf die Stadt selbst beobachten. Auf diese Weise entwickelt die Stadt spürbar oder unbemerkt bestimmte Phänomene und Haltungen, die mit ihrer Position eine objektiv kolonisierende, assimilierende und „konsumierende“ Stellung gegenüber dem einheimischen ethnografischen „Rohmaterial“ einnimmt. Sie verliert das Gefühl der Verbundenheit mit ihrem Land und den Menschen in ihrer Umgebung.

Das Bewusstsein der eigenen Verantwortung und der Pflichten ihnen gegenüber wird ausgelöscht, und an seine Stelle tritt ein Gefühl der „Freiheit“ von dieser Verantwortung, der „Befreiung“ von allen Spuren der Abstammung, kurz: der nationalen Negation. Infolgedessen ist die Stadt bereit, jede „elegante“ Verkleidung anzunehmen: eine kitschige Halbkultur, die den Anspruch erhebt, als guter Geschmack durchzugehen, „die Abscheulichkeit der Leere“. Es entwickeln sich Reflexe der Verantwortungslosigkeit und Gleichgültigkeit sowie versteckte oder offene Unhöflichkeit (einschließlich des berühmten: „Hey, du, Kolchos!“[18], „Was ist los, bist du ein Kolchos?“, „Verzeihen Sie ihm, er ist vom Lande“, „Lerne erst einmal, wie ein Mensch zu sprechen“, usw., usw., usw., wie wir sehr gut wissen).

Ist es möglich, so eine Haltung des Kollektivismus und der Brüderlichkeit zu entwickeln, sich bewusst zu machen, dass jeder von uns ein Teil der Menschheit ist? Mögen unsere verehrten Humanist:innen endlich darüber nachdenken: unsere „Mitglieder der Menschheit“ der „Allrussischen Intelligenz“ in der Ukraine, die gerne vom universellen menschlichen Prinzip sprechen, während sie in Wirklichkeit selbst dazu beitragen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Würde des Einzelnen und seines ganzen Wesens so grob mit Füßen getreten werden können, was zu unzähligen menschlichen Dramen führt. „Wer behauptet: ‚Ich liebe Gott!‘,aber seinen Bruder und seine Schwester hasst, ist ein Lügner.“[19] Wenn eine Nation sprachlich zweigeteilt ist, wobei die „untere“ Schicht ihre ursprüngliche Sprache spricht, während die „obere“ Schicht eine andere erlernte Sprache spricht, droht dies immer ein großes soziales Problem und eine große Gefahr zu schaffen. Als Alexander Iwanowitsch Herzen in Brüssel war, stellte er fest, dass der „gebildete“ Teil der Belgier:innen französisch sprach, während das gemeine Volk, das die ersteren verachteten, flämisch sprach. Herzen sah darin eine enorme Ungerechtigkeit und eine Gefahr für die Demokratie: „Diese Teilung des Volkes in zwei Schichten – die eine, lichtdurchflutet und schwimmend wie Öl auf der Tiefe der zweiten, tief, dunkel und nebelverhangen – hat alle Revolutionen zum Scheitern gebracht“. Mit einem sehr scharfen Blick sah Herzen die ukrainische Frage, wo er vor der scheinbar erfolgreichen sprachlichen Expansion, der Russifizierung warnte. „Anstatt die Russen des Südens sprachlich zu erobern[20], lassen Sie uns, meine Herren, mit der Rückgabe ihres Landes beginnen, und dann werden wir sehen, welche Sprache sie sprechen und lernen wollen.“[21] Beobachten Sie, liebe Leser:innen, wer heute in der Ukraine Ukrainisch und wer Russisch spricht. Wenn Sie ein ehrlicher Mensch sind, wenn Sie sehen und interpretieren können, was Sie gesehen haben, wenn Ihnen die Wahrheit mehr wert ist als Ihre Blindheit und Ihre Vorurteile, ja mehr sogar als der „mächtige Rang und die erbärmliche Gier“, dann können Sie nicht umhin zuzugeben, dass die sprachliche Spaltung in der Ukraine mit der sozialen und soziokulturellen Spaltung zusammenfällt. Wird Ihnen dabei nicht das Herz bluten und die Seele schmerzen für die „Erniedrigten und Beleidigten“[22]?

Deuten die oben genannten Zahlen über die tatsächliche Rückständigkeit und Benachteiligung des ukrainischen Volkes in einer Reihe entscheidender gesellschaftlicher Bereiche etwa nicht auf ernste soziale Probleme hin, die einer besonderen Untersuchung bedürfen?

Schließlich beeinflussen die nationalen Probleme die Probleme der sozialistischen Demokratie und stehen mit ihnen in Wechselwirkung. Die Rechte und die Freiheit des Einzelnen stehen in engem Zusammenhang mit den nationalen Rechten und der Freiheit, ebenso wie die Würde und das Selbstbewusstsein des Einzelnen mit der nationalen Würde und dem nationalen Selbstbewusstsein zusammenhängen. Denn Rechte, Freiheit, Würde und Selbstbewusstsein sind untrennbare Begriffe. Nationale Probleme stehen in direktem Zusammenhang mit den Problemen der Selbstverwaltung und der Souveränität des Volkes. Nationale Entwicklung und nationale Vielfalt sind gleichbedeutend mit der Spontaneität und Vielfalt des Lebens, seiner ewigen Entfaltung und Bereicherung, während im Gegenteil die Verflachung, Verschmelzung und Verschlingung von Nationen durch den Staat – umso mehr, wenn dies nach einem despotischen Plan geschieht – ein Triumph stumpfer bürokratischer Uniformität, Reglementierung und Tod ist. Schon aus diesem Grund sind die Prozesse der Entnationalisierung und Russifizierung eine immense Belastung für die Sache der sozialistischen Demokratie und haben eine objektiv reaktionäre Bedeutung.

Außerdem verarmen solche Prozesse die kommunistische Gesellschaft enorm und verursachen irreparable Verluste. Wir sagen, dass die nationale Frage dem Klassenkampf untergeordnet ist, der Teil der allgemeinen Frage des Kampfes für den Kommunismus ist. Der Kommunismus führt zum maximalen materiellen und geistigen Reichtum der Menschheit, zur Entfaltung aller ihrer Kräfte und Möglichkeiten, zur Erhaltung und Förderung aller ihrer Errungenschaften. Deshalb müssen wir den unglaublichen Reichtum schätzen, den uns die nationale Vielfalt der Menschheit und die Vielfalt ihrer nationalen Aktivitäten hinterlassen haben, die das große Wunder der menschlichen Universalität darstellen. Wir müssen sie schätzen und entwickeln. Die gegenteilige Politik – eine Politik der Ausplünderung, der Entwürdigung, des „Wegfegens“ dieser Reichtümer, eine Politik der bürokratischen Vereinheitlichung und der „Reduzierung auf einen gemeinsamen Nenner“ – ist ein Verbrechen des niederen Kommunismus, und künftige Generationen werden uns ein solch ruinöses Erbe nicht verzeihen.

Dieser Artikel erschien auch am 6. März 2022 bei Ideas de Izquierda auf Spanisch.

Fußnoten

[1] Marx an Engels in Manchester [London] 20. Juni 1866. S. 228-229. Abrufbar unter:  https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band31.pdf. Zugegriffen am 16.03.2022.

[2] Anmerkung des Übersetzers: Großrussland war der Name des heutigen Russlands innerhalb des Zarenreichs. So war die Ukraine auch als „Kleinrussland“, auf Russisch Malorossiya, bekannt.

[3]W. I. Lenin, Nationalisierung der jüdischen Schule, Werke Bd. 19, S. 297.

[4] Резолюция КПСС, I, S. 315. Eigene Übersetzung.

[5]  X съезд РКП(б) S. 199. Eigene Übersetzung.

[6] Vorwort von K. Kautsky zu K. Marx, Revolution und Kontre-Revolution in Deutschland, Stuttgart, 1896, S. xxii.

[7] Stalin, Werke, Band 12, S. 183-184. Abrufbar unter: https://kommunistische-geschichte.de/StalinWerke/stalin-band12.pdf. Zugegriffen am 16.03.2022

[8] Aleksandr Potebnya (1835-1891): ukrainischer Sprachwissenschaftler, Philosoph und Panslawist.

[9] V. Desnitsky (Hrsg.), М. Горький, материалы и иссследования, I, Leningrad, 1934, S. 70-71. Eigene Übersetzung.

[10] Pravda, 18.4.1965, S. 3, und Literaturnaya gazeta, 7.1.1965, S. 3. Eigene Übersetzung.

[11] A. Gramsci, Note sul Machiavelli, sulla politica e sullo Stato moderno, Turin, 1949, S. 114-15. Eigene Übersetzung.

[12] Nota bene: Er spricht nicht von einer „internationalen“ ukrainisch-russisch-tatarischen usw. X-Kultur, auch nicht von „weiterer Annäherung“, sondern von „eigenständiger kultureller Entwicklung“!

[13] A. V. Lunatscharski, „О национализме воообще и украинском движений в частности“, Украинская жизнь Nr. 10, 1912, S. 10-11, 15, 19. Eigene Übersetzung.

[14] A. V. Lunatscharski, Статьи о литературе, Moskau, 1957, S. 429. Eigene Übersetzung.

[15] Der Marxist Otto Braun, zitiert von Lunatscharski in dem oben genannten Artikel „О национализме…“.

[16] Ye. Girchak [Hirchak], Два фронта в борьбе с национализмом, 2. Aufl., Moskau-Leningrad, 1931, S. 213-14. Eigene Übersetzung.

[17] Und dann ist da noch der Aspekt des Alltagslebens und der Alltagskultur, der ebenfalls wichtig ist: Wer weiß nicht, wie viel Demütigung und Spott zum Beispiel eine Frau vom Lande, die aus wirtschaftlichen Gründen in die Stadt gekommen ist, vom kleinbürgerlichen Publikum aushalten muss? Ein Mensch vom Lande, ein Ukrainer vom Lande, jeder Ukrainer, der sich bewusst ist, Ukrainer zu sein, fühlt sich in den ukrainischen Städten wie in einem fremden Land, „in unserem Land, aber doch nicht in unserem“, um es mit den Worten Schewtschenkos zu sagen (vgl. Повне зібрання творів у шести томах, II, Kiew, 1963, S. 9).

[18] Anmerkung des Übersetzers: ein Bauer aus einer Kolchose.

[19] Die Bibel, 1. Johannes 4,20.

[20] Ukrainer:innen.

[21] Herzen, „По поводу письма из Волыни“, Колокол, Nr. 116, 15. Dezember 1861, S. 966. Eigene Übersetzung.

[22] Anmerkung des Übersetzers: Titel eines Romans von Fjodor Dostojewski.

Mehr zum Thema