Die Geschichte der nationalen Frage in Palästina (Teil III von III)

19.08.2017, Lesezeit 15 Min.
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Die Unterdrückung des palästinensischen Volkes hat mit der neuesten Provokation um die Al-Aqsa -Moschee eines neues, trauriges Kapitel erhalten. Im letzten Teil unserer dreiteiligen Artikelreihe zeichnen wir die Zeit seit dem Libanonkrieg 2006 bis heute nach und werfen die Frage nach der Perspektive des Befreiungskampfes auf.

Ein Jahr nach der unterzeichneten Waffenruhe durch Ariel Sharon und Mahmud Abbas, die die Al-Aqsa-Intifada beendete, begann der Krieg Israels gegen den Libanon. Dieser „33-Tage-Krieg”, wie er auch genannt wird, sollte als der Durchbruch der Hisbollah in die Geschichte eingehen und den Weg für ihren Aufstieg von der Miliz zu einer autonomen Armee bereiten, der sich bis heute fortsetzt bzw. gar seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. Während sich die libanesische Armee auf eine unzureichende Luftabwehr gegen die gnadenlosen israelischen Attacken beschränkte, war es die Hisbollah, welche die Avantgarde des Widerstandes bildete und dabei auch andere Sektoren aus dem nationalistischen oder kommunistischen Sektor mobilisieren konnte. Ihr Kämpfer waren es, welche zum ersten Mal eine Bodenoffensive der israelischen Armee zurückschlagen konnten und mit ihren Raketenangriffen dafür sorgten, dass eine halbe Million Menschen aus dem Norden in den Süden Israels flüchteten.

Israel nahm die Entführung zwei seiner Soldaten als Anlass, um einen umfassenden Angriff zu starten und einen weiteren Krieg im Nahen Osten zu eskalieren. Nichts weiter als ein Vorwand, sagte doch selbst der israelische stellvertretende Botschafter in Deutschland, Ilan Mor, dass Israel den Angriff auch ohne die Entführung der beiden Soldaten gestartet hätte. Das Ziel, die Hisbollah derart zu schwächen, dass sie keine „Bedrohung” mehr wäre, wurde jedoch spektakulär verfehlt. Trotz der Passivität der libanesischen Armee, trotz der abermaligen Unterstützung der imperialistischen Mächte gelang es nicht, den Widerstand zu brechen. Trotz der 1400 Toten und der massiven Zerstörungen in Beirut ging die Hisbollah als moralischer Sieger dieses Krieges hervor — während israelische Soldat*innen nach ihrer Rückkehr erschöpft und traumatisiert ihre Rüstung von sich warfen.

Der enorme Prestigeverlust für Israel führte jedoch dazu, dass sie sich seitdem gen Süden hinwendeten und immer wieder den Gaza-Streifen unter Beschuss nahmen. Nicht nur führten sie eine allumfassende Blockade durch, die Gaza in ein Freiluftgefängnis verwandeln sollte, sondern beschossen ab Ende 2008 den Gaza-Streifen ohne Rücksicht auf Verluste. In einer Erklärung Anfang 2009 versuchten wir die dramatische Lage zu beschreiben:

Der Gazastreifen wird durch eine umbarmherzige wirtschaftliche, politische und kulturelle Blockade von der Welt getrennt. Anderthalb Millionen Einwohner sind Gefangene der israelischen Armee. Dabei wird ihnen alles vorenthalten: Lebensmittel, Treibstoff, Strom, Arzneimittel, Schulmaterialien…. Die Bevölkerung, die seit 60 Jahren unter dem Druck des barbarischen kolonialen Jochs lebt, erleidet heute eine grausame kollektive „Strafe“, weil sie bei den demokratischen Wahlen für Hamas „falsch“ gestimmt haben soll. Heute verfolgt die „Operation gegossenes Blei“ die komplette Zerstörung Palästinas und insbesondere von Gaza. Die Palästinenser im Gazastreifen erleiden einen langsamen Tod. Ca. 80% der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, und die Arbeitslosigkeit beträgt 65%. Das pro Kopf Einkommen beträgt 443 Euro jährlich, d.h., 1,36 Euro am Tag. 60% der Kinder leiden an Unterernährung. Die Bewegungsfreiheit zwischen dem Gazastreifen, Westjordanland, Jerusalem und der restlichen Welt ist blockiert.

In kleinerem Ausmaß im Vergleich zu den Mitteln der Hisbollah nahm nun die Hamas die Führung des Widerstands an. In unregelmäßigem Abstand (wie etwa 2012 und 2014) bombardiert Israel den Gaza-Streifen und sorgt für unzählige Tote. Mit ihren Streubomben sorgen sie zusätzlich dafür, dass auch Zivilist*innen nicht von den Angriffen verschont werden. Das gleiche Schema, das angewendet wird, um die Hamas (die trotz ihres reaktionären Programms Teil des Widerstands ist) zu zerschlagen und das Leben der Bevölkerung unmöglich zu machen. Und obgleich die Verluste schrecklich waren, konnte beides bis heute nicht erreicht werden. Die Führung der Hamas im Gaza-Streifen besteht auch weiterhin und das, obwohl sich wichtige Verbündete von ihnen (Syrien, Iran, Hisbollah) aufgrund ihrer Stellung zum Syrien-Krieg abgewendet haben, wo sie Partei für die Rebellen der FSA ergriffen. Ihre Führung ist unbestritten, allerdings führte ihre Anpassungspolitik an die ausländischen Kapitalfraktionen im arabischen Raum letztlich dazu, dass sie derzeit abhängig ist von der Unterstützung der Türkei und Katars (wo sie auch einen Stützpunkt haben).

Die Rolle der Hamas verdient hier näher beschrieben zu werden, und zwar besonders im Kontext der Herrschaftszeit des ehemaligen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft. Der Beginn des Arabischen Frühling bereitete vor allem dem zionistischen Staat große Sorgen, da er am meisten an der Aufrechterhaltung des status quo interessiert war. Der gestürzte Diktator Husni Mubarak war ein treuer Lakai des Imperialismus und nutzte immer wieder seine Stellung als Präsident des bevölkerungsreichsten Landes in der Region, um bei Konflikten zwischen der israelischen und palästinensischen Führung zu „vermitteln”, d.h. die palästinensischen Interessen unter die israelischen unterzuordnen. Mit seinem Sturz begann eine neue Ära, da sich nun die Muslimbruderschaft durchsetzte, die mithin die gleichen ideologisch-programmatischen Wurzeln wie die Hamas hat. Was jedoch in der Amtszeit Mursis zu beobachten war, war der Beweis, dass sich bürgerliche Führungen in halbkolonialen Ländern immer unter die Interessen des Imperialismus stellen werden. Denn mit Beginn der Amtszeit begann nicht etwa eine goldene Ära im Verhältnis zwischen Ägypten und Palästina, sondern das Balancieren zwischen den Interessen des Imperialismus in der Region und den bürgerlich-reaktionären Führungen des unterdrückten palästinensischen Volkes. So wurde z.B. die Grenze zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten nicht vollends, sondern nur kontrolliert geöffnet. Zur Analyse seines Regimes schrieben wir während seiner Amtszeit und zu Zeit des israelischen Angriffs auf Gaza Ende November 2012:

Ägypten möchte die israelischen Angriffe in gewisse Schranken weisen, dabei jedoch die essentiellen Elemente der Pakte und Verträge mit Israel und den USA respektieren, die von seinen Vorgängern vereinbart wurden. Aber Mursi befindet sich in einer anderen Situation als letztere: Er muss nach dem revolutionären Sturz Mubaraks die Mobilisierung der Massen umlenken und die Basis für ein neues Regime schaffen. Dafür muss er seine soziale Basis im Blick behalten, die Israel feindlich gesinnt ist und mit den PalästinenserInnen sympathisiert. Mursi versucht, ein delikates Gleichgewicht zu erhalten, um nicht als pro-israelisch zu gelten, aber dennoch die Sicherheitsverpflichtungen gegenüber Israel und den USA (von denen er eine hohe Summe militärischer Hilfen und die Unterstützung in Bezug auf IWF-Kredite erhält) zu respektieren. So wurden bis jetzt, und trotz der Gesten (wie der Entsendung des Außenministers nach Gaza oder der Empfang des Hamas-Anführers Khaled Mashaal und des Anführers des Islamischen Djihads, Abdullah Shaleh, in Kairo), gerade einmal einige Grenzübergänge nach Gaza geöffnet: Seine Politik ist es, die PalästinenserInnen zwar in halber Erstickung zu belassen, sich aber trotzdem als Vermittler zu präsentieren, um sie so als Unterpfand in der Verhandlung mit Israel und dem Imperialismus benutzen zu können. Dies wurde durch die entscheidende Rolle in der Verhandlung des Waffenstillstandes zusammen mit der Regierung der Vereinigten Staaten bewiesen.

Nicht im Pakt mit den ausländischen Bourgeoisien, sondern im Verbund mit den ausgebeuteten und unterdrückten Massen in der Region, die eben von den nationalen Führungen mithilfe des Imperialismus unter ein unerträgliches Joch gezwungen werden, kann der Kampf gegen den Zionismus auf einer breitere Basis gestellt werden und so garantieren, dass der Imperialismus durch revolutionäre Aufstände aus der Region geworfen wird. Das ist auch der Grund, warum wir eigenständige Organisationen der Ausgebeuteten und Unterdrückten aufbauen müssen und warum wir auf gar keinen Fall eine Politik der Unterordnung unter die bürgerlichen Führungen oder ihre pro-imperialistischen Agenten machen dürfen.

Es erschließt sich fast von selbst, dass die tatkräftige Unterstützung für die Befreiung des palästinensischen Volkes auch in den imperialistischen Zentren geschehen muss. Eine solche Solidarität mit dem palästinensischen Kampf schließt ein, dass der Kampf gegen die jeweilige imperialistische Bourgeoisie aufgenommen und mit dem Ziel der Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates geführt werden muss. Denn: „Wir wären sehr schlechte Revolutionäre, wenn wir es nicht verstünden, im großen Befreiungskampf des Proletariats für den Sozialismus jede Volksbewegung gegen die einzelnen Bedrängnisse des Imperialismus zur Verschärfung und Ausweitung der Krise auszunutzen“ (Lenin). Der antiimperialistische Kampf gegen Washington, Berlin oder Paris kann nur erfolgreich werden, wenn er die Arbeiter*innenklasse zum Mittelpunkt der revolutionären Politik macht.

Kurz: Wer eine solidarische Position zum palästinensischen Befreiungskampf einnehmen möchte, muss auch eine unversöhnliche Position gegenüber den imperialistischen Staaten haben.

Heute nicht, aber morgen

Die koloniale Welt ist eine manichäische Welt. Dem Kolonialherren genügt es nicht, den Lebensraum des Kolonisierten physisch, das heißt mit Hilfe seiner Polizei und seiner Gendarmerie, einzuschränken. Wie um den totalitären Charakter der kolonialen Ausbeutung zu illustrieren, macht der Kolonialherr aus dem Kolonisierten ein Art Quintessenz des Bösen. Die kolonisierte Gesellschaft wird nicht nur als eine Gesellschaft ohne Werte beschrieben. Es genügt dem Kolonialherrn nicht, zu behaupten, die Werte hätten die kolonisierte Welt verlassen oder, besser, es habe sie dort niemals gegeben. Der Eingeborene, heißt es, ist für die Ethik unerreichbar, ist Abwesenheit von Werten, aber auch Negation der Werte. Er ist, sagen wir es offen, der Feind der Werte. Insofern ist er das absolute Übel: ein zersetzendes Element, das alles, was mit ihm in Berührung kommt, zerstört, alles, was mit Ästhetik oder Moral zu tun hat, deformiert und verunstaltet, ein Hort unheilvoller Kräfte, ein unbewußtes und nicht faßbares Instrument blinder Gewalten. (Frantz Fanon)

Mit der Zeit scheint es, als wäre das palästinensische Volk immer mehr alleine gelassen worden. Nicht nur durch den pro-imperialistischen Schwenk verschiedener arabischer Staaten, sondern vor allem aufgrund der Passivität der israelischen und internationalen Linken. Währenddessen hält die imperialistische Unterstützung für den Staat Israel unvermindert an oder wurde gar verstärkt. Schon lange ist auch Deutschland ein sehr wichtiger „Partner” des zionistischen Staates. Während die Bundesregierung die Sicherheit Israels zur deutschen Staatsräson erhob, ging die pro-palästinensische Solidarität der Linken in Deutschland zurück. Dabei wäre es gerade in den imperialistischen Zentren von immenser Bedeutung, gegen den jeweiligen Staat zu kämpfen und z.B. für die sofortige Beendigung der Waffenexporte einzutreten.

Währenddessen verschärfen sich die Angriffe des Zionismus dahingehend, dass selbst die Religionsfreiheit angegriffen wird und Orte der nationalen Identität, wie eben die Al-Aqsa Moschee, angegriffen werden. Nicht nur aufgrund des Rechtsrucks in der israelischen Regierung hat sich die Zersplitterung der palästinensischen Bevölkerung durch den den forcierten Siedlungsbau weiter verstärkt. Immer mehr rassistische Stimmen kommen ungehindert an die Öffentlichkeit, um die vollkommene Vertreibung der Palästinenser*innen zu fordern. Dahingehend geht auch die Beschreibung Frantz Fanons, wonach der palästinensische Widerstand nicht nur dämonisiert, sondern der Wille endgültig gebrochen werden soll.

Vielleicht ist die Lage des palästinensischen Volkes so schlecht wie noch nie seit der zionistischen Besatzung. Der israelische Staat ist so übermächtig wie seit jeher und auch die Regierung um Benjamin Netanyahu vollzog simultan zur internationalen Situation einen Rechtsruck, der sogar dazu führte, dass Siedlungen in diesem Jahr auch von offiziell-staatlicher Seite gebaut wurden. Die palästinensische Arbeiter*innenklasse ist so zersplittert wie noch nie und ein Großteil von ihnen wird als billige Arbeitskraft in Israel als Wanderarbeiter*innen unvorstellbar ausgebeutet. Gleichzeit vermag die israelische Arbeiter*innenklasse bis heute nicht, mit dem Zionismus zu brechen und eine internationalistische Perspektive aufzuwerfen, die so dringend von den israelischen Linken propagiert werden müsste. Fast sieben Jahrzehnte der Besatzung und Unterdrückung scheinen nicht einen Riss, sondern einen unüberbrückbaren Graben geschaffen zu haben, der auch dazu führen wird, dass

[d]ie nationalen Antipathien werden nicht so rasch verschwinden [werden]; der Haß – der durchaus berechtigte Haß – der unterdrückten Nation gegen die unterdrückende Nation wird noch eine Zeitlang weiterbestehen; er wird erst nach dem Sieg des Sozialismus und nach der endgültigen Herstellung völlig demokratischer Beziehungen zwischen den Nationen verschwinden. Wenn wir dem Sozialismus treu bleiben wollen, so müssen wir schon jetzt für die internationalistische Erziehung der Massen Sorge tragen, die bei den unterdrückenden Nationen unmöglich ist ohne die Propagierung der Freiheit der Lostrennung für die unterdrückten Nationen. (Lenin)

Doch keine Herausforderung, die zu groß wäre. Der revolutionäre Aufbruch der Massen, die im Arabischen Frühling zum Leben erweckt wurden, ist kein Jahrzehnt alt, obwohl er sich durch die konterrevolutionären Prozesse in einen eiskalten Winter verwandelt hat. Doch es mögen noch so viele Diktatoren kommen, den nächsten Aufstand werden sie nicht verhindern können. Auf dem Weg dorthin gilt es die revolutionäre Strategie zu entwickeln, die den Weg zur sozialistischen Revolution zeichnet. Das Recht der Palästinenser*innen auf Selbstbestimmung ist die Voraussetzung, von der ausgegangen werden muss, das nur durchgesetzt werden kann, wenn der israelische Staat zerschlagen wird und durch eine geeinte proletarische Räterepublik ersetzt wird. Die historischen Lehren haben gezeigt, dass in diesem Prozess in internationaler Hinsicht der vollständige Bruch mit dem Imperialismus eine weitere unabdingbare Voraussetzung ist. Erst dann wird ein befreites Palästina im Rahmen einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens möglich sein, indem Jüd*innen und Palästinenser*innen gleichberechtigt leben können.

Erst dann wird es möglich, dass die Schlüssel, die heute noch um den Hals hängen und sorgfältig aufbewahrt werden, die Türen öffnen, die heute noch von der zionistischen Barbarei verschlossen sind. Wir haben aber keinen Zweifel, dass wir eines Tages die Türen erobern und gemeinsam durchschreiten werden.

Dieser Artikel ist Teil einer dreiteiligen Reihe. Teil I erschien am Donnerstag, Teil II am Freitag.

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