Die Geschichte der nationalen Frage in Palästina (Teil II von III)

18.08.2017, Lesezeit 10 Min.
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Die Unterdrückung des palästinensischen Volkes hat mit der neuesten Provokation um die Al-Aqsa -Moschee eines neues, trauriges Kapitel erhalten. Teil II unserer dreiteiligen Artikelreihe handelt von der Zeit vom Yom-Kippur-Krieg bis zur "zweiten Intifada".

Bis 1967 zeichnete sich der junge Staat Israel durch seinen scheinbar unaufhörlichen Vormarsch in der Region aus, der dazu führte, dass der Mythos der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee weiter und weiter genährt wurde. Das änderte sich jedoch 1973 mit dem sog. Yom-Kippur-Krieg, der im arabischen Raum als Oktober-Krieg in die Geschichte einging. Yom Kippur ist das jüdische Versöhnungsfest, und diesen Zeitpunkt im Oktober nutzten Ägypten und Syrien, um ihr verlorenes Territorium (die Sinai-Halbinsel respektive die Golan-Höhen) wiederzuerlangen. Der Überraschungseffekt hatte zur Folge, dass die beiden arabischen Staaten zunächst Landgewinne verzeichnen konnten, bevor die israelische Armee relativ schnell an beiden Fronten – inklusive der Bombardierung Damaskus’ – zurückschlagen und sogar Geländegewinne verzeichnen konnte. Es war ein kurzer, aber erbarmungsloser Krieg, der nach nur 20 Tagen am 26. Oktober endete, als Ägypten und Israel einen Waffenstillstand schlossen, dem sich Syrien anschloss.

Aus dem Krieg mochten die arabischen Halbkolonien als moralische Sieger hervorgehen, allerdings begann nun die Zerbröckelung der anti-israelischen Front, da Ägypten nun die Seiten wechselte. Gemeinsam mit US-Präsident Jimmy Carter wurde vereinbart, dass Israel die Halbinsel etappenweise räumen musste (schon 1974 hatten sie sich auf die Vorkriegsstellungen zurückgezogen). Im Gegenzug wurde eine ägyptisch-israelischer Friedensvertrag ausgehandelt, der den ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat am 6. Oktober 1981— also genau acht Jahre nach Beginn des Krieges — das Leben kosten sollte.

Es war das Ende der ägyptischen Opposition zu Israel. Bis heute gilt ein Vertrag, der ausschließlich von und für die beiden Kapitalseiten ausgehandelt wurde. Bis heute existiert nämlich kein kultureller Austausch zwischen den beiden Bevölkerungen; besonders unter den ägyptischen Massen ist die Ablehnung des Staates Israel nach wie vor sehr hoch. Ägypten nahm dazu ebenfalls eine noch stärkere Unterordnung zugunsten der imperialistischen Mächte in Kauf. Im Gegenzug machten diese keine Anstalten, die brutalen Militärdiktaturen erst Husni Mubaraks und heute Abdel Fatah al-Sisis mit allen erdenklichen Mitteln zu unterstützen. Die Diktatoren haben freie Hand in der bedrückenden Unterdrückung der Massen — im Gegenzug bekommen sie Waffen und Finanzmittel, damit sie die imperialistische Ordnung im Nahen Osten weiter aufrechterhalten.

Verlagerung der Front

Der Staat Israel ist nicht einmal 40 Jahre alt, und doch kommt es am 6. Juni 1982 mit der Operation „Freiheit für Galiläa” zur nächsten Aggression des Zionismus. Ziel ist dieses Mal der Libanon, wo sich der Hauptstützpunkt der „Palästinensischen Befreiungsorganisation” (PLO) befindet — wo aber auch seit sieben Jahren ein rücksichtsloser Bürger*innenkrieg herrscht. Faktoren, die die israelische Führung eiskalt miteinberechnet hatte, als sie mit 80.000 Einsatzkräften einmarschierte und schon bald Beirut belagerte. Es war während dieser zweimonatigen Belagerung und Blockade, als die christlichen Milizen der Phalange in Sabra und Schatila ein Massaker sondergleichen an den palästinensischen Männern, Frauen und Kindern verübten. Der französische Schriftsteller Jean Genet, der zu dieser Zeit in Beirut war und mit seinem Leben für die Sache des palästinensischen Volkes einstand, schilderte die Auswirkungen des grausamen Massakers in seinem Bericht „Vier Stunden in Schatila“:

Die Schlächter taten ihre Arbeit, sicherlich zahlreich und es waren Folterknechtsrotten, die Schädel öffneten, Schenkel aufschlitzten, Arme, Hände und Finger abschnitten, am Ende eines Stricks gefesselte Sterbende zu Tode schleiften, Männer und Frauen, die noch lebten, denn das Blut rann lange genug so stark aus den Körpern, daß jemand im Flur eines Hause — wer, das konnte ich nicht wissen — ein Rinnsal getrockneten Bluts hinterlassen hatte, das vom Ende des Flurs, wo die Lache war, bis zur Schwelle reichte, wo es sich im Staub verlor.

Die Massaker fanden nicht in Stille und Dunkelheit statt. Sie wurden von israelischen Leuchtraketen angestrahlt, und die israelischen Ohren hörten seit Donnerstagabend, was in Chatila geschah. Welche Fest, welche Völlereien wurden da veranstaltet, wo der Tod an den lustigen Streichen der Soldaten teilzunehmen schien, die weinselig, haßtrunken und zweifellos auch freudetrunken alles taten, um der israelischen Armee zu gefallen, die zuhörte, zuschaute, anfeuerte und rügte. Ich habe diese israelische Armee nicht beim Zuhören oder Zuschauen gesehen. Ich habe gesehen, was sie getan hat.

Die Phalange war mit der PLO verfeindet und der neugewählte Präsident des Libanon, Baschir Gemayel von den christlichen Forces Libanaises, wurde zuvor durch ein Bombenattentat ermordet. Dieses Massaker, an dem Israel mindestens mitverantwortlich ist, da es die Phalange-Milizen protegierte, rief auch Entsetzen und Proteste in Israel selbst hervor, sodass der damalige Verteidigungsminister Ariel Sharon zurücktreten musste.

Rund 3500 Menschen verloren in diesem grausamen Massaker ihr Leben, zusätzlich kamen die über 10.000 Toten in den scheinbar endlosen Bombardements. Erst 1985 zog sich Israel formell aus dem Libanon zurück, richtete allerdings im Süden mit ihrer Proxy-Armee SLN eine Pufferzone ein, aus der sie sich sogar erst ab dem 24. Mai 2000 zurückzogen — natürlich nicht ohne weitere militärische Aggressionen im Laufe dieser Zeit, so z.B. 1993 und 1996 mit den Operationen „Abrechnung” bzw. „Früchte des Zorns”. Das erklärte Anfangsziel, die PLO zu zerschlagen, kam dennoch bei weitem nicht zustande, auch wenn die PLO infolge dessen ihre Basis nach Tunis verlegte.

Mit dem ersten Libanon-Krieg erwuchs dem zionistischen Staat ein neuer Feind hervor: die Hisbollah, jene schiitische Miliz, die bis heute von Syrien und dem Iran unterstützt wird. Da das syrische Regime schon unter Hafez al-Assad, dem Vater des heutigen Präsidenten Baschar al-Assad, den Norden Libanons bis 2005 besetzt hielt, hatte die Hisbollah günstige Bedingungen, unter denen sie aufsteigen konnte. Ein sehr wertvolles Verhältnis, das vice versa gilt, beteiligt sich die Hisbollah doch seit Jahren mit mehreren tausend Kämpfern im Syrien-Krieg. Diese Erfahrungen plus die militärischen Erfolge der Pro-Assad-Front sind es, welche aus der Hisbollah schon längst keine bloße Miliz machen, sondern eine hochprofessionalisierte Armee, die Kampferfahrungen in ländlichen und urbanen Gegenden besitzt.

Die erste Intifada

Die erste Intifada war ein beispielhafter Aufstand, der Ende 1987 begann und auf viele klassische Methoden der revolutionären Arbeiter*innenbewegung zurückgriff, kombiniert mit den speziellen Faktoren des antikolonialen Kampfes. Im Laufe dieser Zeit fanden nicht nur Streiks und Massendemonstrationen statt, sondern auch eine breite Mobilisierung der Basis, die sich in diversen Komitees der Studierenden, Frauen oder den Angestellten des öffentlichen Sektors manifestierte. Die harsche israelische Reaktion brachte es etwa mit sich, dass sie auch Schulen und Universitäten schließen ließ, was wiederum nur dazu führte, dass der Unterricht nun selbstverwaltet stattfand und der Austausch unter den Schüler*innen und Studierenden größer wurde. Keinerlei Mittel waren dem Besatzungsstaat fremd, um den heroischen Aufstand niederzuschlagen, auch nicht, auf Demonstrierende mit scharfem Schusswaffengebrauch zu antworten.

Obwohl es neben den militanten Massenaktionen auch gewaltfreie Akte des zivilen Ungehorsams gab, scheute sich die Besatzung nicht, mit allen erdenklichen Mitteln der Repression auch diese niederzuschlagen. Als Folge der unkontrollierten Mobilisierung der Massen wurden die Komitees verboten und die Teilnahme an ihnen unter Strafe gestellt, was nochmals zeigte, dass der zionistische Staat eine kompromisslose Linie während der Intifada fahren würde und zu keinerlei Zugeständnissen bereit war.

Die erste Intifada, die bis 1993 andauern sollte, bleibt für das palästinensische Volk von großer Bedeutung und gibt eine Antizipation, wie künftige Proteste aussehen könnten. Gleichwohl erwuchsen in dieser Zeit zwei negative Ausflüsse: zum einen die „Islamische Widerstandsbewegung” (arabisch abgekürzt) Hamas, eine neue reaktionäre Kraft, die es jedoch schaffte, besonders hinsichtlich des Aufgreifens der sozialen Frage eine Verankerung unter den Massen zu finden und somit zur zweiten Kraft unter den politischen Organisationen werden. Das war der eine negative Ausfluss, der zweite jedoch sollte viel schwerwiegender werden …

Der große Verrat: der Oslo-Prozess

Die Vorverhandlungen des Oslo-Prozesses oder des „Friedensprozesses” begannen schon 1991, jedoch gelang der erste „Durchbruch” erst 1993, indem sich Israel und die PLO als Repräsentantin des palästinensischen Volkes gegenseitig anerkannten. Der PLO-Anführer Yassir Arafat erklärte dem israelischen Ministerpräsidenten Yitzak Rabin:

Die PLO erkennt das Recht des Staates Israel auf Existenz in Frieden und Sicherheit an.

Im Gegenzug wurde anerkannt, dass die PLO die „Vertretung des palästinensischen Volkes” sei und mit ihr „Verhandlungen im Rahmen Nahost-Friedensprozesses” aufgenommen werden. Auf der einen Seite ein schwerer historischer Fehler, ein Dammbruch, eine unvergleichliche Zuwendung – auf der anderen Seite: eine Banalität.

Damit begann also die Beschleunigung des Ausverkaufs Palästinas, da in den nächsten Jahren Arafat und die PLO in allen erdenklichen Punkten der israelischen Seite entgegenkommen würde. Die Siedlungen wurden weiter ausgebaut, und der Traum der neu eingerichteten Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), einen unabhängigen Staat Palästina in den Grenzen von 1967 zu gründen, wurde faktisch zunichte gemacht, indem das palästinensische Land durch den Ausbau des Apartheidsystems zersplittert wurde. Die PA kontrolliert heute daher lediglich 18% der Westbank, zersplittert in 200 Inseln inmitten der Besatzung. Zusätzlich dazu wurde 2002 mit dem Bau einer Mauer begonnen, welche die Palästinenser*innen von den Ressourcen und der Infrastruktur abschneidet.

Doch nicht nur das: Infolge der Aufrechterhaltung des lächerlich-karikierten „Friedensprozesses” nahm die PLO endgültig die Rolle des Kompradoren ein: Im Gegenzug für finanzielle Leistungen aus Israel, den USA und der EU nahm sie die Rolle eines konterrevolutionären Agenten ein, der die Massen in Schach halten und jegliche unabhängige Mobilisierung der Massen verhindern soll. Müßig zu erwähnen, dass die ständigen Aufrufe zur Gewaltlosigkeit ein wichtiger Teil dieser konterrevolutionären Strategie sind. Der Prozess, der 1991 begann und nun ein Jahrzehnt angedauert hatte, führte nicht etwa zu einem unabhängigen palästinensischen Nationalstaat, sondern im Gegenteil dazu, dass im gleichen Zeitraum die Zahl der zionistischen Siedlungen sich verdoppelte (!). Palästina wurde heute nicht mehr existieren, wäre der schamlose Ausverkauf so weitergegangen — bis zum dem Punkt, als die Situation in Palästina zum zweiten Mal explodierte.

Die zweite Intifada

Wer weiß, ob Ariel Sharon einen solchen Besuch inmitten dieser hitzigen Lage um die Al-Aqsa-Moschee heute nochmals machen würde? Die sozialen Ursachen liegen natürlich tiefer als der Besuch dieses reaktionären Massenmörders, aber es kann durchaus gesagt werden, dass der provokative Besuch Sharons der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es begann die zweite Intifada, oder infolge des Besuches auch Al-Aqsa-Intifada. Ein gewaltiges Fanal, das am 29. September 2000, einen Tag nach dem Besuch Sharons, in der Jerusalemer Altstadt begann und sich rasend schnell auf das Westjordanland und den Gaza-Streifen ausweitete. Die Reaktion der israelischen Besatzungsmacht waren scharfe Schüsse, noch mehr Repression sowie die Militäroperation „Schutzschild”. Die Operation „Schutzschild” zeigt speziell, wie selbst der Oslo-Prozess ständig von Israel missachtet wird und nur solange als Referenz dient, sofern die eigenen Interessen davon gedeckt sind. Im Zuge dieser Operation wurden (wieder einmal) völkerrechtswidrig die autonomen Städte im Westjordanland durch das Militär besetzt, ohne dass die „internationale Werte- und Staatengemeinschaft” irgendwelche Konsequenzen gezogen hätte. Ganz im Gegenteil: Israel genießt in diesem verabscheuungswürdigen Konzert der Mächtigen nicht nur absolute Straflosigkeit, sondern eine Art Blankoscheck, das es regelmäßig nutzt, um die palästinensischen Gebiete (insbesondere den Gaza-Streifen) anzugreifen.

Die Unterdrückung des Aufstandes verschärfte sich ferner auch auf die israelisch-arabischen Staatsbürger*innen, von denen zwölf Menschen im Rahmen einer Solidaritätskundgebung getötet wurden. In ihrer Mehrheit verweigerten sie sich auch der Wahl, da sie in der Folgezeit noch mehr schikaniert und rassistisch angegangen wurden. Das Ergebnis war das vorläufige Aufgehen des mörderischen Kalküls (der Besuch war Teil des Wahlkampfes) von Ariel Sharon, der die Wahlen am 7. Februar 2001 gewann und dabei vollmundig ankündigte, innerhalb von 100 Tagen die Intifada zu besiegen. Eine Strategie, die gnadenlos scheiterte.

Die Al-Aqsa-Intifada hielt bis Anfang 2005 an, hatte aber Auswirkungen auf die folgenden Jahre. Besonders 2006 im Gaza-Streifen, als Israel auf die Gefangennahme eines Soldaten mit weiteren Militäroperationen reagierte und so ingesamt die Zahl der Toten in den Militäroperationen auf über 900 (die allermeisten davon Palästinenser*innen) steigerte. Die Zweite Intifada war die Fortsetzung des Widerstandes mit anderen Mitteln, die im Vergleich zur Ersten Intifada auch isolierter waren, gleichwohl es eine Massenbasis für die Aktionen gab. Zur Zersplitterung der Massenproteste trug auch die mörderische Politik der israelischen Einsatzkräfte bei, die selbst mit Scharfschützen gegen die Demonstrierenden vorgingen und die Bewegungsfreiheit immer mehr einschränkten. Die folgenden Selbstmordattentate waren das verzweifelte Ergebnis einer Politik, die jede palästinensische Gemeinde in eine gesperrte Zone verwandelte. Aufgrund dieser Politik Ariel Sharons, die nur darauf abzielte, die Palästinenser*innen zu vernichten, fand eine entgegengesetzte Entwicklung statt: Während immer weniger Palästinenser*innen im April 2001 den Oslo-Prozess unterstützten (40 Prozent), stieg parallel dazu die Unterstützung der Selbstmordattentate auf 74 Prozent.

Nachdem der „Friedensprozess” endgültig torpediert worden war, kristallisierte sich am Ende der Zweiten Intifada die neue Ordnung im Nahen Osten heraus, die in weiteren Eskalationen Israel bestehen sollte und vor allem den nördlichen Nachbarn Libanon zum Ziel haben sollte.

Dieser Artikel ist Teil einer dreiteiligen Reihe. Teil I erschien am Donnerstag, Teil III erscheint am Samstag.

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