Die Geschichte der nationalen Frage in Palästina (Teil I von III)

17.08.2017, Lesezeit 15 Min.
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Die Unterdrückung des palästinensischen Volkes hat mit der neuesten Provokation um die Al-Aqsa-Moschee ein neues, trauriges Kapitel erhalten. Eine dreiteilige Artikelreihe über die Ge-schichte eines heroischen Widerstandes und die Kampfperspektiven für die Zukunft.

Die Schlüssel haben sie bis heute behalten. Bis heute, auch über 69 Jahre nach der Vertreibung, der Nakhba. Nicht wenige tragen sie symbolisch um den Hals, als Zeichen des Widerstandes und als Botschaft, dass sie eines Tages in ihre Häuser zurückkehren werden. Die Rede ist von jenen fast 800.000 vertriebenen palästinensischen Geflüchteten, die infolge der Gründung des zionistischen Staates Israel am 14. Mai 1948 ihre Häuser verlassen mussten. Nakhba, das bedeutet Katastrophe auf arabisch und vergegenwärtigt die tiefe, offene Wunde im nationalen Gedächtnis des palästinensischen Volkes. Sicherlich trug der am nächsten Tag ausgebrochene israelisch-arabische Krieg dazu bei, als der zionistische Staat, unterstützt durch die imperialistischen Mächte, es schaffen konnte, sein Gebiet um etwa 25 Prozent gegenüber dem UN-Teilungsplan zu vergrößern und sich zu konsolidieren.

Die nationale Frage in Palästina, die nicht erst seit dem 14. Mai 1948 auf der Agenda stand, bekam eine neue Dynamik, die bis heute anhält und weitere internationale Akteur*innen miteinschließt. Für die halbkolonialen Länder Ägypten, Libanon, Syrien, Irak sowie Jordanien war die Staatsgründung ebenfalls inakzeptabel und so beteiligten sie sich aus verschiedenen Gründen an diesem ersten Krieg. Ein Unternehmen, das scheitern musste, hatte der Imperialismus –besonders Großbritannien während seiner Mandatszeit – mit seiner Kolonialpolitik die Grundlagen für die Besiedlung der Zionist*innen gelegt und sich zusätzlich die strategischen Punkte in der Region vorbehalten. Im Zuge des Aufstiegs des zukünftigen Hegemons im Nahen Osten, den USA, wurde damit die künstliche Staatsgründung Israels gleichzeitig zu einem eminent wichtigen Stützpunkt des Imperialismus in einer Region, die sowohl von geopolitisch-strategischer Bedeutung als auch reich an Ressourcen ist.

Es ist kein Geheimnis, dass die Väter des Zionismus und allen voran ihr „Theoretiker“, Theodor Herzl, schon lange auf die Kolonisierung Palästinas hinarbeiteten. Kein Geheimnis, dass schon 1885 dieser Plan die Errichtung einer „jüdischen Nationalheimat“ beinhaltete. Herzl erklärte auch, dass der künftige zionistische Staat „dem imperialistischen Staat nützlich sein muss, der seine Existenz schützen wird.“ Geradezu eine Prophezeiung ob der massiven militärischen und finanziellen Unterstützung der imperialistischen Mächte. Der offen rassistische Charakter der zionistischen Ideologie zeigte sich auch darin, dass Herzl „das israelische Volk, als überlegenes und [als] moderne Fortsetzung des auserwählten Volkes“ ansah. Nicht zufällig wandte er sich wiederholt an die imperialistischen Staaten, auch um ihnen einen Kompromiss vorzuschlagen und das genaue Siedlungsgebiet abzustecken. Die Kolonisierung sollte dabei unbeachtet und wenn nötig auch gegen den Willen der einheimischen palästinensischen Bevölkerung stattfinden, da diese als minderwertig angesehen wurde. Als also am 14. Mai 1948 durch David Ben-Gurion die „Unabhängigkeit“ Israels verkündet wurde, war es nicht verwunderlich, dass über allem das Porträt Theodor Herzls thronte.

Auftakt für schmerzvolle Jahrzehnte

Schon nach dem Ersten Weltkrieg verstanden es die verschiedenen imperialistischen Mächte, zumeist kleine „unabhängige“ Staaten entstehen zu lassen, die den Verlierer*innen des Krieges zum Nachteil gereichten. Eine Reihe solcher Staaten entstand und verschwand wieder, je nach den Kräfteverhältnissen auf nationaler wie internationaler Ebene. Im ehemaligen russischen Zarenreich entstanden diese Staaten im Verbund mit den Bourgeoisien der ehemals unterdrückten Nationen. Für die Bolschewiki um Wladimir Lenin und Leo Trotzki entlarvte sich der Charakter dieser Staatenbildung ziemlich schnell, sodass Trotzki analysierte:

Um temporäre Stützpunkte zu erhalten, kreiert der Imperialismus eine Reihe von kleinen Staaten, einige von ihnen offen unterdrückt, einige andere offiziell protegiert, während sie in Wirklichkeit Vasallenstaaten bleiben – […]Estland, Lettland, Litauen, Armenien, Georgien und so weiter.

Was hier angestrebt wurde, war das Unmögliche möglich zu machen: die nationale Frage im Rahmen des Kapitalismus zu lösen. Für Lenin stellte sich dieses Axiom revolutionärer Politik schon mitten im Ersten Weltkrieg dar, als eine Reihe der halbkolonialen Staaten noch gar nicht entworfen war:

Unter dem Kapitalismus kann die nationale (und überhaupt die politische) Unterdrückung nicht beseitigt werden. Dazu ist die Aufhebung der Klassen, d.h. die Einführung des Sozialismus unerlässlich. […] Zur Beseitigung der nationalen Unterdrückung ist ein Fundament notwendig – die sozialistische Produktion – aber auf diesem Fundament bedarf es noch einer demokratischen Organisation des Staates, einer demokratischen Armee usw. Hat das Proletariat den Kapitalismus in den Sozialismus umgestaltet, so schafft es die Möglichkeit für die völlige Beseitigung der nationalen Unterdrückung; diese Möglichkeit wird „nur“ – „nur“! dann zur Wirklichkeit werden, wenn die Demokratie auf allen Gebieten vollständig durchgeführt sein wird – bis zur Festlegung der Staatsgrenzen entsprechend den „Sympathien“ der Bevölkerung, bis zur völligen Freiheit der Lostrennung einschließlich. Auf dieser Basis wird ihrerseits in der Praxis die absolute Beseitigung auch der kleinsten nationalen Reibungen, des geringsten nationalen Misstrauen erfolgen und damit die beschleunigte Annäherung und Verschmelzung der Nationen, die durch das Absterben des Staates vollendet werden wird.

Die Gründung des Staates Israel hatte einen mindestens ebenso künstlichen Charakter, wobei hier zwei Interessen symmetrisch zusammenfielen: einerseits die Notwendigkeit des Imperialismus, einen dauerhaften Stützpunkt in der Region zu haben, und andererseits der Wunsch der zionistischen Bewegung, ihren eigenen Staat in Palästina durchzusetzen. Die zionistische Bewegung, welche bereits Ende des 19. Jahrhunderts von bürgerlichen Juden*Jüdinnen in Westeuropa gegründet worden war, sah von Anfang an die Notwendigkeit, sich auf die imperialistischen Kräfte Europas zu stützen. Herzl, theoretischer Begründer des Zionismus, schrieb bereits 1896 in „Der Judenstaat“ über die Beziehungen seines „kolonialen Projektes“ in Palästina mit den imperialistischen Kräften Europas: „Für Europa dürften wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.“ Die britische Besatzungsmacht erkannte schnell die Möglichkeit, ihre Herrschaft in einer Allianz mit dem Zionismus zu stabilisieren: Bestand die Strategie des Kolonialismus doch darin, einzelne Minderheiten zu privilegieren, sie so zu starken und ergebenen Verbündeten zu machen, um die Mehrheit besser unterdrücken und ausbeuten zu können. Chaim Weizmann, langjähriger Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation (WZO), meinte bei einer internen Befragung über die Araber*innen in Palästina: „Die Briten haben uns gesagt, dass es dort einige Hundert Neger gibt, die keinen Wert haben.“ Während des Ersten Weltkrieges begann dann eine massive Migration westeuropäischer Juden*Jüdinnen nach Palästina. Die britische Kolonialmacht unterstützte sie beim Aufbau eines eigenen Verwaltungsapparates und der Schaffung von eigenen Milizen. Französische Kolonialarchitekten aus Algerien unterstützten sie ebenfalls. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war diese Bewegung von der britischen Besatzungsmacht protegiert und gefördert worden.

Die grausame Ermordung von Millionen von Juden*Jüdinnen durch den Faschismus zeigte besonders in den Augen der Überlebenden, dass sie keine Zukunft mehr in Europa haben würden (zumal es auch in der siegreichen Sowjetunion erhebliche antisemitische Tendenzen gab) und sie daher nach Palästina in einen eigenen Staat auswandern müssten.

Im Unterschied zu Estland, Litauen, Armenien oder Georgien nach dem Ersten Weltkrieg war Israel von Anfang an keineswegs ein „Vasallenstaat“, sondern von so großer Bedeutung, dass die imperialistischen Mächte es bis heute mit Milliarden über Milliarden an US-Dollar finanzieren. Ein weiterer wichtiger Unterschied ist, dass die Gründung des Staates ein siedlerkolonialistisches Projekt war (vergleichbar mit den USA, Neuseeland, Australien etc.), während bei besagten Ländern die nationalen Forderungen von der Bourgeoisie für die Zeit der Staatsgründung pervertiert aufgegriffen wurden. Die imperialistischen Staaten hatten ihre Lektion jedoch gelernt: Israel musste so gut wie möglich gestützt werden, waren doch die vier erwähnten Staaten infolge revolutionärer Bewegungen von Anfang an instabil gewesen (Armenien und Georgien schlossen sich nach revolutionären Umwälzungen gar der Sowjetunion an). Ihre Mittel: das Schüren von Rassismus, um die Arbeiter*innenklasse zu spalten, gekoppelt mit großer finanzieller und militärischer Unterstützung für die zionistische Bourgeoisie.

Ein halbes Jahr nach der Staatsgründung wurden fast alle Araber*innen teilweise mit blutigen Massakern aus den Gebieten vertrieben, die die UNO Israel zugesprochen hatte und wo Juden*Jüdinnen teilweise nur eine Minderheit bildeten. Doch die Zionist*innen gaben sich nicht mit dem westlichen Teil Palästinas zufrieden und schlugen den Weg der Expansion ein. Im zweiten Nahost-Krieg 1956 führte der zionistische Staat im Verbund mit Großbritannieneinen Angriffskrieg gegen Ägypten, der auch als „Sinai-Feldzug“ bekannt ist. Das perfekte Beispiel für die Ausführungen oben, da sich die Interessen Großbritanniens und Frankreichs ergänzten: Während die imperialistischen Einsatzkräfte am 31. Oktober bei Port Said landeten, nutzte Israel die Gunst der Stunde, um in den Sinai einzumarschieren. Während es damit seine eigenen expansionistischen Interessen verfolgte, ging es den westlichen Imperialismen in ihrem Krieg gegen Ägypten darum, die Nationalisierung des Suez-Kanals (vorher kontrolliert durch ein Konsortium britisch-französischer Konzerne) unter Staatspräsident Gemal Abder Nasser wieder rückgängig zu machen. Dieser hatte vorher die palästinensischen Guerilla-Kämpfer unterstützt.

Der militärische Erfolg konnte jedoch nicht garantieren, dass die Sinai-Halbinsel israelisch wurde. Ende des Jahres mussten sich die israelischen Streitkräfte gegen die Garantie freier Schifffahrt im Golf von Aqaba aus dem Sinai zurückziehen, im März 1957 auch aus dem Gaza-Streifen, wo fortan UN-Truppen stationiert wurden.

Der Krieg hatte jedoch gezeigt, dass die imperialistischen Mächte absolut hinter dem zionistischen Staat stehen würden und dass die nationale Frage Palästinas längst einen internationalen Charakter erreicht hatte, der weit über den Nahen Osten hinausging. Das Schicksal der Palästinenser*innen war nicht nur aufgrund der vielen Geflüchteten in den arabischen Nachbarländern von identitätsstiftender Bedeutung, sondern stellte auch die Frage nach der Zukunft des damals vorherrschenden Panarabismus, der langsam, aber sicher in seinen letzten Atemzügen war.

Das zweite nationale Trauma

Die Existenz Israels alleine war damit eine Provokation für die arabischen Länder in der Region. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich die Spannungen in einem Krieg entladen sollten. Vorbereitungen wurden auf beiden Seiten getroffen; am 5. Juni 1967 schließlich gelang es dem israelischen Staat, die miteinander verbündeten Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien mehr oder weniger zu überraschen. Dabei hatten sich diese schon davor auf einen etwaigen Krieg vorbereitet, Nasser verkündete etwa kurz davor: „Unser grundlegendes Ziel ist die Vernichtung Israels. Das arabische Volk will kämpfen.“ Auch der syrische Präsident Nureddin Mustafa al-Atassi hatte schon am 22. Mai 1966 verkündet: „Wir wollen einen totalen Krieg ohne Einschränkungen, einen Krieg, der die zionistische Basis zerstören wird.“

Der „Sechs-Tage-Krieg“ oder „Juni-Krieg“ sollte letzten Endes dazu führen, dass weitere 900.000 Palästinenser*innen unter die israelische Besatzung kommen. Das Westjordanland, der Gaza-Streifen, die Golan-Höhen, wiederum die Sinai-Halbinsel sowie Ost-Jerusalem wurden aufgrund der Niederlage der arabischen Staaten besetzt. Das Ergebnis war also eine beträchtliche Expansion des zionistischen Staates, das besonders die Herzen der zionistischen Siedler*innen schneller schlagen ließ – die Idee eines „Großisrael“ (Eretz Israel) nahm weitere Gestalt an. Erst recht, da sich Israel bezüglich aller Gebiete bis auf die Sinai-Halbinsel bis heute weigert, die Gebiete wieder zurückzugeben. Die bekannte Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates ist bis heute nichts weiter als ein Papier geblieben, was übrigens auch die nichtsnutzige Rolle der UN für die Interessen der Palästinenser*innen nochmals betont.

Diese Besatzung sollte den Grundstein für die Erweiterung der rassistischen Siedlungen werden, die einhergehen mit Vertreibung, Enteignung, Entrechtung etc. – kurz: ein Apartheidssystem etablieren, unter dem das palästinensische Volk bis heute zu leiden hat.

Während keine der umliegenden arabischen Staaten Israel bis dato anerkannt hatte und sie alle im Verbund darauf aus waren, diesen Staat zu zerstören (nicht selten mit antisemitischen Untertönen), konnten sie nach dem Juni-Krieg nicht umhin, sich einzugestehen, dass Israel unter massiver Mithilfe des Imperialismus an beträchtlicher Stärke hinzugewonnen hatte, die sie offensichtlich nicht besaßen. Die Politik der langsamen „Entspannung“ der Beziehungen begann und sollte letztlich dazu führen, dass keiner dieser Staaten heute das „Existenzrecht“ Israels in Frage stellt. Der Krieg schuf alle Voraussetzungen dafür und die nun über 50 Jahre andauernde Besatzung über die angesprochenen Gebiete ebenso, dass Israel inzwischen nur noch hinsichtlich dieser Gebiete als Besatzungsmacht angesehen wird.

Sowohl Fatah als auch Hamas haben sich heute dieser verräterisch-versöhnlerischen Position angeschlossen und fordern heute einen Staat im Rahmen der Grenzen von 1967. Mit den Jahrzehnten hat der Zionismus also Fakten geschaffen, was jedoch nichts an der Tatsache ändert, dass die Position der Anerkennung des zionistischen Staates von vorne bis hinten falsch ist.

Zum einen lässt diese Position im Dunkeln, was mit den rund sechs Millionen palästinensischen Geflüchteten passieren soll, ob für sie noch das Rückkehrrecht gilt und sie einen Anspruch auf Entschädigung haben. Zum anderen passt sich diese Position dem zionistischen Narrativ an, wonach die Juden*Jüdinnen aller Welt nur in Israel ihren „Schutz“ finden könnten … Schutz inmitten eines nach wie vor rassistischen Kolonialstaates, der es sich zugleich auch nicht nehmen lässt, die verschiedenen (auch jüdischen) Bevölkerungsgruppen (besonders hinsichtlich der Mizrachim, also der Juden*Jüdinnen, die aus dem Orient und Asien stammen) gegeneinander auszuspielen. Wozu auch? Schließlich ist es das israelische Kapital, das dort regiert und Rassismus als willkommenes Herrschaftsinstrument benutzt, um die Arbeiter*innenklasse zu spalten. So kommt es, dass Aschkenasim mehr als Drittel mehr verdienen als die Mizrachim. Oder dass 50 Prozent der äthiopischstämmigen jüdischen Frauen (Beta-Israel) keinen Schulabschluss haben(in Vergleich zu 2 Prozent aller israelischen Frauen).

Nein, ein solcher Staat hat keine Existenzberechtigung und verdient nichts weniger als zerschlagen zu werden, sodass die israelische Bourgeoisie ihres mächtigsten Unterdrückungsinstrumentariums beraubt wird.

Dieser Artikel ist Teil einer dreiteiligen Reihe. Teil II erscheint am Freitag, Teil III am Samstag.

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