Argentinien: Präsident Milei und sein Handbuch der internationalen extremen Rechten

21.12.2023, Lesezeit 10 Min.
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Grafik: Ideas de Izquierda

Der neue argentinische Präsident Javier Milei reiht sich in eine Gruppe von Figuren wie Trump oder Bolsonaro ein, über die das liberale Lager bestürzt ist. Doch in was für einer geopolitischen Situation befindet sich Milei in der Zeit der Krisen, Kriege und Revolutionen und was bedeutet sein Aufstieg über seine Ästhetik hinaus?

Nach der ersten Woche im Amt zu urteilen, gleicht die Regierung von Javier Milei einem Kuriositätenmuseum aus der Zeit des neoliberalen argentinischen Präsidenten Carlos Menem: eine orthodoxe Kombination aus Sparmaßnahmen, „Stagflation“ und dem Versprechen von Repression im Inneren. Außenpolitisch bedeutet seine Regierung eine automatische Ausrichtung auf die Vereinigten Staaten (eine Art Rückkehr zu „intimen Beziehungen“), vor allem gegen China und Russland und den informellen Block des so genannten „globalen Südens“. Hinzu kommt ein bedingungsloses Bündnis mit dem Staat Israel, einschließlich des Versprechens, die argentinische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, eine Politik aus dem rechtsextremen Handbuch von Donald Trump und Jair Bolsonaro.

Die US-Regierung hat den Amtsantritt von Milei mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Einerseits begrüßt sie die Tatsache, dass das dritte lateinamerikanische Land – nach Mexiko und Brasilien – in den Orbit der bedingungslosen Diener Washingtons im Rahmen seines Wettbewerbs mit China zurückgekehrt ist. Dies ist umso wichtiger, als die USA ihre Hegemonie immer weiter verlieren und alternative Blöcke wie die BRICS entstanden sind, zu deren Beitritt Argentinien ab Januar 2024 eingeladen ist. Andererseits befürchtet US-Präsident Biden, der sich auf dem Tiefpunkt seiner politischen Unterstützung befindet, dass die rechtsextreme Regierung von Milei (für den Biden eine Art „Kollektivist“ wäre) nach seiner Niederlage gegen Bolsonaro bei den Wahlen im Jahr 2024 ein Anlaufpunkt für Trumps Rückkehr ins Weiße Haus sein könnte.

Diese Veränderung der politischen Landschaft wird regionale Auswirkungen haben und wahrscheinlich zu Spannungen in Lateinamerika führen. Wir sollten nicht vergessen, dass Macris Regierung den Putsch in Bolivien gegen Evo Morales im Jahr 2019 unterstützt hat, der von der lokalen Rechten und der Trump-Regierung unterstützt wurde.

Im Wahlkampf übertrieb Milei die ausschließliche Ausrichtung auf Washington bis zu dem Punkt, dass er selbst die Beziehungen zu Brasilien und China in Frage stellte, die für den Staat und die argentinische Bourgeoisie unverzichtbare Handelspartner sind. Nachdem er zum Präsidenten gewählt wurde, rückte Milei jedoch von diesem extremen Fundamentalismus ab und bat in einer „pragmatischen“ Wendung den chinesischen Präsidenten XI Jinping – den angeblichen „kommunistischen Tyrannen“ –, den Währungsswap zu erneuern, um die Zahlungen an den IWF zu leisten. Und trotz seines schlechten Verhältnisses zum brasilianischen Präsidenten Lula hat Milei bisher eine „aufgeschlossene“ Haltung eingenommen, wenn auch nur im Rahmen seiner Politik, den Mercosur-Handelspakt aufrechtzuerhalten.

Doch jenseits von Zukunftsspekulationen hat die zutiefst reaktionäre Außenpolitik der libertären Regierung bereits ihren ersten konkreten Ausdruck gefunden. Am 12. Dezember stimmte die UN-Generalversammlung zum zweiten Mal innerhalb von weniger als zwei Monaten mit einer Mehrheit von 153 von 193 Ländern für den Aufruf zu einer humanitären Waffenruhe im Gazastreifen. Im Vergleich zur letzten Abstimmung am 27. Oktober schlossen sich 30 zusätzliche Länder dem Aufruf zur Waffenruhe an, darunter strategische Verbündete der USA wie Japan, Kanada, Südkorea und Australien. Die argentinische Regierung beschloss jedoch, die Abstimmung in die entgegengesetzte Richtung zu lenken und enthielt sich der Stimme. Nur 23 Länder enthielten sich der Stimme (in Lateinamerika: Argentinien, Uruguay und Panama). Nur 10 Länder stimmten dagegen, darunter die Vereinigten Staaten und der Staat Israel (Guatemala und Paraguay in Lateinamerika).

Das Ausmaß des von Netanjahu verübten Massakers nimmt erschreckende Dimensionen an. Wie eine kürzlich durchgeführte Untersuchung auf der Grundlage von Interviews mit Mitgliedern des israelischen Geheimdienstes zeigt, handelt es sich um ein „geplantes Massaker an der Zivilbevölkerung“ und nicht um „Kollateralschäden“: Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels wurden mindestens 18.800 Zivilist:innen (darunter 8.000 Kinder und 6.200 Frauen) getötet, darüber hinaus 51.000 Menschen schwer verletzt – ohne Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung – 1,8 Millionen Menschen wurden vertrieben (80 Prozent der Bevölkerung). Hinzu kommt die Zerstörung der zivilen Infrastruktur und des Trinkwassernetzes. Eine humanitäre Katastrophe, die an die „Nakba“ von 1948 erinnert.

Diese UN-Resolutionen haben kein praktisches Ergebnis, um den Genozid Israels am palästinensischen Volk zu stoppen. Aber sie haben den symbolischen Effekt, dass sie internationale Zusammenhänge und vor allem das Ausmaß der imperialistischen Hegemonie der USA aufzeigen. Aufgedeckt wurde die zunehmende Isolierung der USA und Israels bei der Rechtfertigung des Völkermordes in Gaza, was die enorme Heuchelei der westlichen Regierungen angesichts des Aufkommens einer Massenbewegung gegen den Krieg und in Solidarität mit dem palästinensischen Volk offenbart.

Das Bündnis zwischen der extremen Rechten und dem Staat Israel

Auch wenn es wie ein Widerspruch erscheint, hat das Bündnis der extremen Rechten – viele von ihnen bekennende Antisemit:innen – mit dem Staat Israel und der Regierung Netanjahu eine eiserne politische Logik. Einem Leitartikel der Tageszeitung Haaretz zufolge hat Netanjahu mit den europäischen rechtsextremen Parteien einen „faustischen Handel“ geschlossen, der im Wesentlichen darin besteht, Antisemitismus zu dulden und Holocaust-Leugner:innen zu ignorieren, um im Gegenzug die Politik der kolonialen Expansion und des Apartheidregimes zu unterstützen und die Verlegung der europäischen Botschaften nach Jerusalem voranzutreiben. Dieses Bündnis wird auch durch eine gemeinsame islamfeindliche Agenda untermauert, die mit der migrationsfeindlichen Politik der rechtsextremen Gruppierungen in der EU übereinstimmt.

Für die Trumpsche Rechte in den USA geht die Unterstützung insbesondere durch die verschiedenen evangelikalen Kirchen weit über die strategische Allianz des US-Imperialismus mit dem Staat Israel und die Gründe der pro-zionistischen und neokonservativen Sektoren des demokratischen und republikanischen Establishments hinaus. Diese Unterstützung beruht auf religiösen Überzeugungen, auf der Auslegung biblischer Prophezeiungen, die in geopolitische Positionen umgesetzt werden, und auf ideologisch-politischer Affinität auf der Grundlage eines sozialen Konservatismus. Organisationen wie Christians United for Israel haben einen entscheidenden Einfluss auf die Politik der republikanischen Partei, so auch auf die Verlegung der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem unter der Präsidentschaft von Donald Trump, der offen zugab, dass er dies „den Evangelikalen zuliebe“ getan habe, da diese die wichtigste Komponente der republikanischen Wähler:innenbasis sind. In seiner aktuellen Kampagne zur Rückkehr ins Weiße Haus im Jahr 2024 nutzte Trump erneut die israelische Karte für den Wahlkampf und zog eine direkte Verbindung zwischen seiner Kandidatur und denjenigen, die „Israel lieben“, seien es Jüd:innen oder Evangelikale. Bolsonaro scheint ähnliche Wahlmotive wie Trump gehabt zu haben, da die evangelikale Rechte in seiner Wähler:innenschaft ein erhebliches Gewicht hat, obwohl er seinen Vorschlag, die brasilianische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, nie umgesetzt hat.

Milei hat sich nicht nur bedingungslos auf die Seite des zionistischen Staates gestellt, sondern sich auch mit der orthodoxen religiösen Ultrarechten verbündet, was ihn dazu veranlasste, seinen persönlichen Rabbiner zum Botschafter in Israel zu ernennen. Außerdem beruft er sich auf messianische Beschwörungen wie den Beistand der „Kräfte des Himmels“, um die von ihm angestrebte brutale Kürzungspolitik im Innern durchzusetzen.

Ein Neoliberaler, der aus der Zeit gefallen ist

In seiner Antrittsrede verglich Milei die historische Situation, in der er an die Macht gekommen ist, mit dem Fall der Berliner Mauer. Doch die Situation könnte nicht unterschiedlicher sein als die von 1989-91. Der Sieg der USA im Kalten Krieg, die Auflösung der Sowjetunion und die kapitalistische Restauration machten den Weg frei für ein Jahrzehnt der unipolaren Hegemonie der USA. Letztlich wurde der Neoliberalismus mit schweren Niederlagen im Klassenkampf durchgesetzt: Diktaturen in Lateinamerika, Großbritanniens Triumph im Falkland-Krieg, die Niederschlagung des Fluglots:innenstreiks in den USA durch die Reagan-Regierung und der britischen Bergarbeiter:innen durch Margaret Thatcher. Hegemonial wurde der Neoliberalismus jedoch erst in den 1990er Jahren mit der Ausbreitung der „Globalisierung“ und der „liberalen Demokratie“, die nach Fukuyamas berühmter Schrift die angeblich letzte Evolutionsstufe der kapitalistischen Gesellschaften einläutete. Das neoliberale Credo – freie Märkte, Deregulierung und Privatisierung – wurde unterschiedslos von konservativen Parteien wie von sozialdemokratischen oder reformistischen Parteien im Rahmen des sogenannten „dritten Weges“. So entstand das, was Tariq Ali einmal als „extreme Mitte“ bezeichnet hat.

Die kapitalistische Krise von 2008 hat die Erschöpfung dieser von Washington geführten globalisierten Welt deutlich gemacht. Nicht nur China trat als Macht und Hauptkonkurrent der USA auf, sondern auch eine Reihe von Mittelmächten – wie die Türkei, Brasilien, Indien oder Indonesien –, die ihre eigenen nationalen Interessen verfolgen.

Die anhaltende Tendenz zu organischen Krisen im Kontext einer tiefgreifenden politischen und sozialen Polarisierung spaltete die herrschenden Klassen und führte zur Entwicklung bonapartistischer und protektionistischer Tendenzen in den zentralen Ländern, deren höchster Ausdruck die Präsidentschaft Trumps und der Handelskrieg mit China ist, der unter der Präsidentschaft Bidens ohne größere Veränderungen weitergeht. Diese Situation hat wiederum eine neue intensive Periode von Arbeiter:innenkämpfen, Volksaufständen und neuen politischen Phänomenen sowohl in den zentralen Ländern als auch in der kapitalistischen Peripherie eingeleitet.

Die Pandemie, der Russland-Ukraine/NATO-Krieg und der Krieg Israels im Gazastreifen haben diese Tendenzen noch verstärkt, wobei sich ein Bündnis zwischen Russland und China gebildet hat, das sich als „multilaterale“ Alternative zur US-Ordnung präsentiert und das Feld für „multiple Bündnisse“ und fluide Allianzen eröffnet hat.

Auf der internationalen Bühne herrscht Ungewissheit. Obwohl man mit Sicherheit sagen kann, dass die zunehmende Wahrscheinlichkeit eines Trump-Sieges bei den Wahlen 2024 die Situation noch heftiger machen wird. Selbst Intellektuelle der Trumpschen Rechten sprechen von der Notwendigkeit einer Art „Cäsarismus“, also einer autoritär-bonapartistischen Lösung, was bei den liberalen Medien die Alarmglocken schrillen lässt.

Die Kehrseite des Erstarkens rechtsextremer Tendenzen ist die Entwicklung von Klassenkampfphänomenen, die es in den Jahren zuvor so nicht gegeben hatte, wie zum Beispiel Streiks und gewerkschaftliche Organisierung in den Vereinigten Staaten. Und das Entstehen einer Massenbewegung gegen Israels Krieg in Gaza und in Solidarität mit dem palästinensischen Volk, vor allem in den zentralen Ländern, mit einer antiimperialistischen Prägung, wie es sie seit der Anti-Vietnam-Bewegung nicht mehr gegeben hat.

Der US-amerikanische Historiker Adam Tooze hat den ursprünglich von Edward Morin formulierten Begriff „Polykrise“ entstaubt, um die Situation der letzten 15 Jahre zu definieren. Dem Autor zufolge handelt es sich um eine komplexe Situation, in der mehrere Krisen – wirtschaftliche Instabilität, Klimakrise, Rivalität und Konfrontation zwischen Mächten – in einer Weise zusammenwirken, die „das Ganze gefährlicher macht als die Summe seiner Teile“, weil die partielle Lösung einer der Dimensionen einige der anderen verschlimmern kann. Eine liberale Sicht auf das, was wir Marxist:innen als Erneuerung der Grundlagen einer Epoche der Krisen, Kriege und Revolutionen definieren.

Dieser Artikel erschien zuerst am 17. Dezember 2023 auf Spanisch bei Ideas de Izquierda.

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