Argentinien: Milei setzt Arbeitsmarktreform in Abgeordnetenkammer durch, während der Peronismus Däumchen dreht

01.05.2024, Lesezeit 10 Min.
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Von links nach rechts: Nicolás del Caño, Myriam Bregman, Alejandro Vilca, Christian Castillo. Quelle: La Izquierda Diario

Die Regierung und die mit ihr kollaborierende bürgerliche Opposition stimmten in der Abgeordnetenkammer für eine Konterreform, die historische Arbeiter:innenrechte angreift. Die vom Peronismus angeführten Gewerkschaftszentralen verfolgten die Abstimmung im Fernsehen, statt zu Mobilisierungen und Streiks aufzurufen. Die Linke hingegen kämpfte im Parlament und auf der Straße. An diesem 1. Mai wird die PTS an einer unabhängigen Kundgebung auf der Plaza de Mayo teilnehmen, zusammen mit kämpferischen Gewerkschaften, Nachbarschaftsversammlungen, sozialen Organisationen, der Studierendenbewegung und der Linken.

Am Dienstag, den 30. April, nur wenige Stunden vor dem Internationalen Kampftag der Arbeiter:innen, sandte die argentinische Abgeordnetenkammer eine deutliche Botschaft der Bosse an die arbeitenden Massen. Es stimmte für das „Grundlagengesetz“ (Ley de Bases) und eine darin enthaltene Konterreform, die historische Arbeiter:innenrechte abschafft. Dazu gehören unter anderem einfachere, billigere und diskriminierende Entlassungen, mehr Ausbeutung in der Landwirtschaft, freies Outsourcing und längere Probezeiten, während Arbeitgeber, die ihre Beschäftigten nicht bei der Sozialversicherung anmelden, begnadigt werden. 

Zusätzlich zu der reaktionären Arbeitsmarktreform beinhaltete das Gesetzespaket eine weitreichende Übertragung von Befugnissen an den ultrarechten Präsidenten Javier Milei, in den Bereichen Verwaltung, Wirtschaft, Finanzen und Energie per Dekret zu regieren. Öffentliche Einrichtungen dürfen mittels einer „Reorganisation der Verwaltung“ per Dekret nach Belieben geändert oder aufgelöst werden. Vier bisher staatliche Unternehmen sollen vollständig privatisiert, weitere teilprivatisiert werden. Massenentlassungen im öffentlichen Dienst werden erleichtert. Die Ein- und Ausfuhr von Kohlenwasserstoffen wird vollständig liberalisiert, d.h. die Großkonzerne dürfen nach Belieben Öl und Gas exportieren, ohne die inländische Versorgung sicherstellen zu müssen. Außerdem gewährt ein „Anreizregime für Großinvestitionen“ massive Steuervorteile und eine freie Verfügung über Dollardevisen für Großkonzerne. Zuletzt wird auch das sogenannte Rentenmoratorium abgeschafft, d.h. dass das Renteneintrittsalter für Frauen auf 65 Jahre angehoben wird, wenn sie nicht alle Beiträge entrichtet haben, d.h. für 9 von 10 Frauen, und das bei sehr viel niedrigeren Einkommensverhältnissen.

Das „Grundlagengesetz“ war der zweite Anlauf der ultraneoliberalen Regierung von Javier Milei, nachdem sie im Februar ein „Omnibusgesetz“ mit weitreichenden Privatisierungen, Kürzungen und Angriffen auf die Arbeiter:innenklasse und die Massen nach massiven Streiks und Protesten auf der Straße zurückziehen musste. Die Regierung konnte in diesem zweiten Versuch zwar nicht alle Artikel ihres ursprünglichen Gesetzentwurfs durchsetzen – so musste sie beispielsweise nach Vorverhandlungen die Anzahl der zu privatisierenden Unternehmen von 40 auf vier reduzieren –, das macht das Maßnahmenpaket jedoch nicht weniger arbeiter:innenfeindlich. Damit das Gesetz in Kraft tritt, muss es allerdings noch im Senat bestätigt werden.

Die allgemeine Abstimmung über das Omnibus-Gesetz ergab nach mehr als 20 Stunden Sitzung 142 Ja-Stimmen, 106 Nein-Stimmen und 5 Enthaltungen. Die Abstimmung der einzelnen Kapitel, die ebenfalls alle angenommen wurden, dauerte fast fünf Stunden. Die ultrarechte neoliberale Regierungspartei La Libertad Avanza hatte feste Verbündete in der bürgerlichen „Opposition“, die ihr die nötigen Stimmen gab, darunter die die rechte Partei des Ex-Präsidenten Mauricio Macri oder die Mehrheit der bürgerlich-liberalen UCR. Allerdings stimmten teilweise auch Abgeordnete der peronistischen Unión por la Patria für einzelne Kapitel des Gesetzespakets.

Das verräterische doppelte Spiel des Peronismus

Obwohl die peronistischen Abgeordneten mehrheitlich gegen das Gesetz stimmten, drehten die vom Peronismus geführten Gewerkschaftszentralen CGT und CTA Däumchen. Sie organisierten keine Versammlungen in den Betrieben, sie mobilisierten weder vor noch während der Behandlung des Gesetzes vor dem Kongress. Der von ihnen angekündigte landesweite Streik am 9. Mai, der überhaupt nur durch den Druck der Basis zustande kam, findet zehn Tage nach der Abstimmung über dieses reaktionäre Gesetzespaket statt. Mit anderen Worten, sie haben keinen einzigen Finger gekrümmt, um dieses arbeiter:innen- und massenfeindliche Gesetz zu kippen. Schlimmer noch, in verschiedenen Medien wurde berichtet, dass Führungsmittglieder der CGT in Zusammenarbeit mit dem peronistischen Abgeordneten Miguel Angel Pichetto die Artikel des Gesetzespakets mit ausgehandelt haben, die sie tolerieren würden.

Diese kriminelle Haltung war Teil eines doppelten Spiels. Während der peronistische Block „Unión por la Patria“ im Plenarsaal mit „guten“ Reden gegen das Gesetz ankämpfte, blieb die peronistische Gewerkschaftsbewegung, die sogar mehrere Abgeordnete hat, in ihren bequemen Büros und „sah sich das Ganze im Fernsehen an“. Das Gleiche gilt für die peronistischen Vertreter:innen der sozialen Organisationen. 

Aber was wäre, wenn die LKW-Fahrer:innen, die Transportarbeiter:innen, die Seeleute, die Luftfahrtarbeiter:innen, die Energiearbeiter:innen und Millionen anderer Arbeiter:innen in diesen Tagen das Land lahmlegen und mobilisieren würden? Wenn sie sich den Studierenden und Bildungsarbeiter:innen anschließen würden, die am 23. April zu Hunderttausenden auf der Straße waren? Das Gesetz würde fallen.

Der Kampf der revolutionären Abgeordneten der FIT

Für genau diese Perspektive traten jedoch die Abgeordneten der Front der Linken und der Arbeiter:innen (FIT) ein: Myriam Bregman, Nicolás del Caño, Christian Castillo, Alejandro Vilca (alle vier von der Partei Sozialistischer Arbeiter:innen, PTS) und Romina del Plá (Partido Obrero) . Und zwar nicht nur im Parlament selbst, wo sie in scharfen Reden die Angriffe anklagten, sondern mit Aufrufen zur Mobilisierung und vor dem Kongress selbst, wo sie sich den Arbeiter:innen, Rentner:innen, Jugendlichen und Nachbarschaftsversammlungen anschlossen, die gegen die Abstimmung der Konterreform demonstrierten. Erst durch die Abgeordneten der FIT erfuhren Millionen von Menschen überhaupt in letzter Minute, wie ernst der Angriff war. 

Damit sich unsere Leser:innen in Deutschland ein Bild davon machen können, geben wir an dieser Stelle einen Teil der Rede des Abgeordneten der PTS in der FIT, Christian Castillo, wieder, der im Kongress erklärte

„Letzten Dienstag hat eine Menschenflut in Buenos Aires, aber auch in San Salvador de Jujuy und in allen anderen Städten des Landes die Straßen gefüllt, um dieser Regierung zu sagen, dass sie sich nicht mit der öffentlichen Universität anlegen soll. Um die brutale Kürzung der Universitätsfinanzierung abzulehnen. Aber das war nicht der einzige Grund. Der Marsch für die Universitäten war der Katalysator für eine wachsende Unzufriedenheit. […] Diese Gesetze sind ein Affront gegen die gesamte Arbeiter:innenklasse. Sie sind ein Angriff enormen Ausmaßes, wenn man die Änderungen der Arbeitsreform, die Rückkehr der Lohnsteuer für Arbeiter:innen und die Aufhebung des Rentenmoratoriums und der Privatisierungen hinzurechnet. Diesen Gesetzen hätte man heute mit einem aktiven Streik und Millionen von Arbeiter:innen auf der Straße entgegentreten müssen. Heute geben die Ölarbeiter:innen ein Beispiel. Es gibt Streikposten bei Renova, bei Vicentin und in anderen Unternehmen, die die Behandlung des Grundgesetzes ablehnen. […] Wenn man sich an den Verfassungstext hält, kann dieser Kongress die Befugnis, Gesetze zu erlassen, überhaupt nicht delegieren. Die Tatsache, dass frühere Regierungen gegen die Verfassung verstoßen haben, bedeutet nicht, dass jede neue Regierung, die ihr Amt antritt, sich selbst die Befugnis zur Gesetzgebung zuschreiben kann. In diesem Fall ist es doppelt schwerwiegend, weil wir bereits wissen, wie Milei diese Befugnisse nutzen will. Er will sie nutzen, um Mega-Dekrete durchzusetzen. Er wird sie für die Preiserhöhungen in öffentlichen Dienstleistungen verwenden. Um Arbeiter:innen aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen. Um Unternehmen zu schließen. Um Finanzgeschäfte zu machen. Für die Verschuldung. Alle, die für die übertragenen Befugnisse stimmen, werden mitverantwortlich dafür sein, was Milei mit diesen übertragenen Befugnissen macht. […] Diese Gesetze sind ein brutaler Angriff auf die Arbeiter:innenklasse; sie sind Gesetze, die die Ausplünderung von Ressourcen begünstigen; sie sind Angriffe auf die Rechte der Frauen. Und auf der anderen Seite kommen sie den reichsten Menschen in diesem Land zugute. Das Finanzkapital, die große nationale Bourgeoisie, die internationalisiert ist, sie ist diejenige, die mit all diesen Plänen, die die Regierung anwendet, begünstigt werden soll. […] In diesem Kampf kommen drei Auffassungen des Landes oder drei politische Perspektiven zum Ausdruck. Auf der einen Seite der direkte Ausdruck des internationalen Finanzkapitals, das den Plan der Regierung umsetzt und von einem ganzen Sektor unterstützt wird, der sie unterstützt. Auf der anderen Seite diejenigen, die sagen: ‚Wir müssen das regulieren‘. Wir drücken die nationale Bourgeoisie aus, sagt der Peronismus. Und es gibt uns, die wir in der Tat eine Minderheitskraft sind. Aber eine Minderheitskraft, die von einer Mehrheitsklasse unterstützt wird. Wir sind die Kraft, die die soziale Kraft, die die argentinische Geschichte geprägt hat, politisch zum Ausdruck bringen will. Jene soziale Kraft, die an den großen Streiks zu Beginn des Jahrhunderts beteiligt war, aus denen das so genannte rebellische Patagonien oder die Tragische Woche von 1919 hervorging. Diese soziale Kraft, die sich dem Staatsstreich von 1955 widersetzte und die im Cordobazo zum Ausdruck kam. Diese Kraft wird, wenn sie regiert, wenn sie an die Macht kommt, in der Lage sein, Argentinien auf den Kopf zu stellen.“

Ein 1. Mai gegen den Plan von Milei und gegen den Verrat der CGT

Im Gegensatz zum Peronismus hat die Linke, allen voran die PTS, zusammen mit der kämpferischen Gewerkschaftsbewegung, den sozialen Organisationen, den Nachbarschaftsversammlungen und anderen Sektoren, nicht spekuliert. Sie haben kein doppeltes Spiel gespielt. Sie leisteten einen harten Kampf im Plenarsaal, sie nutzten die sozialen Medien und die Zeitung La Izquierda Diario, um zu verbreiten, was auf dem Spiel stand, und um zur Mobilisierung aufzurufen, sie marschierten zum Platz vor dem Kongress. Dort forderten sie von der CGT und der CTA einen Generalstreik für die Tage, an denen das Gesetz diskutiert wurde. Und sie fordern ihn erneut angesichts der bevorstehenden Behandlung im Senat.

Die Freude der Mächtigen über die Verabschiedung der Konterreform ist verfrüht. In wenigen, aber intensiven Tagen der Politisierung begannen Millionen von Menschen zu erkennen, was vor sich geht und dass noch Zeit ist, es zu stoppen. Die Abgeordneten der PTS, ihre Mitglieder in den Betrieben, Schulen, Universitäten und Nachbarschaftsversammlungen treten dafür ein, einen nationalen Streik und eine Mobilisierung zu erzwingen, wenn der Senat sich mit dem Gesetz befasst.

Die PTS und die Linke waren in diesen Tagen auf der Straße, zusammen mit den Stadtteilversammlungen, den Rentner:innen, den Studierenden und den kämpferischen Gewerkschaftssektoren. Die Führungen der CGT und der CTA, die die Arbeitsreform zur Wahrung ihrer bürokratischen Interessen ausgehandelt haben und während der Behandlung des Gesetzes wieder einmal von der Straße verschwunden sind, könnten gegensätzlicher nicht sein. Jetzt rufen sie zu einer Routine-Kundgebung am 1. Mai auf, obwohl das Gesetz bereits verabschiedet wurde. Die Abgeordneten der Unión por la Patria hielten zwar Reden im Parlament, riefen aber weder zur Mobilisierung noch zu etwas anderem auf. Einige stimmten sogar in bestimmten Punkten für das Gesetz. Die Anführer:innen des Peronismus sind unbestreitbar der Schlüssel zur „Regierbarkeit“ von Milei. Sie wollen die Pläne von Milei nicht vereiteln, sondern sich auf die nächsten Wahlen vorbereiten. In der Zwischenzeit wird die arbeitende Bevölkerung jeden Tag ärmer.

Aus diesem Grund wird die PTS nicht an der Aktion teilnehmen, zu der die CGT für den 1. Mai nach einem solchen Verrat aufgerufen hat. Sie wird ab 13:30 Uhr an einer unabhängigen Aktion auf der Plaza de Mayo teilnehmen, zusammen mit anderen linken Parteien, Sektoren der kämpferischen Gewerkschaften, Nachbarschaftsversammlungen, sozialen Organisationen und der Studierendenbewegung.

Die Stimme der Linken wurde in diesen Tagen von Millionen gehört. Es hat nicht gereicht, um den Angriff in der Abgeordnetenkammer zu stoppen, aber es ist ein sehr wichtiger Beitrag für das, was kommen wird: nämlich die Unterstützung jedes Kampfes gegen den Kahlschlag von Milei, gegen die Rezession und die Preiserhöhungen, die Teilnahme am Generalstreik am 9. Mai und der Kampf, um von unten – indem überall Versammlungen durchgeführt werden – der CGT und der CTA den landesweiten Streik und die Mobilisierung aufzuzwingen, wenn die Gesetze im Senat behandelt werden.

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