"Oktober im November". Im Teil 3 geht es um die "Julitage"." /> "Oktober im November". Im Teil 3 geht es um die "Julitage"." />

99 Jahre Russische Revolution, Teil 3: Die Julitage

09.11.2016, Lesezeit 7 Min.
1

Vor 99 Jahren begann in Russland die Revolution – nicht im Oktober, sondern Anfang November 1917. Russland hatte bis 1918 den julianischen Kalender, der 13 Tage hinter unserem (gregorianischem) Kalender liegt. Wir veröffentlichen zur Feier des Geburtstags des "Oktoberaufstands" (der nach altem Kalender in der Nacht vom 25./26. Oktober stattfand) im Laufe der gesamten Woche immer ein Kapitel aus unserer alten Broschüre "Oktober im November". Im Teil 3 geht es um die "Julitage".

Im Sommer schlägt die Reaktion mit einer Repressionswelle zu

Im Februar 1917 hatten die Arbeiter*innen und Soldaten unter der Parole „Nieder mit dem Krieg!“ den Zaren Nikolaj II gestürzt. Doch die reformistischen Sozialist*innen, die die „provisorische Regierung“ gebildet hatten, regierten von Kapitals Gnaden und beendeten den Krieg nicht, sondern begannen am 1. Juli sogar eine weitere, groß angelegte Offensive.

Trotz der Februarrevolution hatte sich die Kriegsführung Russlands nicht grundsätzlich geändert. Die Kriegskosten waren auf zehneinhalb Milliarden Rubel gestiegen und es fehlte an allem Lebensnotwendigen. An der Front meuterten die Soldaten – Streiks und Betriebsbesetzungen sowie Landbesetzungen zeugten von der Unfähigkeit der bürgerlichen Regierung, die Probleme des Landes zu lösen. Selbst die Oberschichten waren unzufrieden mit ihr, denn die Zugeständnisse an die Ausgebeuteten waren ein schmerzhafter Stachel im Fleisch der Ausbeuter*innen.

Unter den Arbeiter*innen wurden die Radikalen immer stärker; der Petrograder Arbeiterbezirk Wyborg gehörte ganz der revolutionären Partei der Bolschewiki. „Lenin und Trotzki walten dort wie die Herren“, sagte der französische Journalist Claude Anet. Die Ungeduld der Massen wuchs von Tag zu Tag, besonders bei den Soldaten, die in Scharen für Kapital und Vaterland ihr Leben lassen mussten.

Die Parteien gaben sich viel Mühe, die Flammen klein zu halten. Selbst die Bolschewiki, die schon im April den Sturz der provisorischen Regierung zum Ziel erklärt hatten, versuchten, die Massen zurückzuhalten: „Wir begreifen die Erbitterung der Petrograder Arbeiter. Aber wir sagen ihnen: Genossen, ein Hervortreten jetzt wäre unzweckmäßig“, schrieb Lenin im Juni in der Parteizeitung Prawda. Die Bolschewiki sahen, dass die Verhältnisse in Petrograd nicht denen im gesamten russischen Reich entsprachen. Je ländlicher die Region, desto weniger revolutionär war die Situation.

Doch die Ausgebeuteten hatten immer weniger Sinn für die taktischen Überlegungen der Parteien. Selbst viele Mitglieder der bolschewistischen Partei wurden von der Ungeduld ihrer Kolleg*innen erfasst und beklagten sich, „Feuerwehr“ spielen zu müssen.

Der Aufstand

Dem 1. Maschienengewehrregiment fiel schließlich die zündende Rolle zu. Am 3. Juli organisierten sie eine große Versammlung, um über eine bewaffnete Demonstration zu beraten. Alle Versuche, die Aktion wenigstens zu verzögern, schlugen fehl. Auf der Versammlung stritt ein Anarchist für ein sofortiges Losschlagen, und sprach damit den Soldaten und auch nicht wenigen Bolschewiki aus der Seele.

Wieso auf die Organisationen warten? Auch im Februar hatten sie doch alle, einschließlich der Bolschewiki, zur Zurückhaltung aufgefordert, und dennoch war der Zar gestürzt worden. Die Versammlung beschloss eine Demonstration für den nächsten Tag. Delegierte wurden zu den verschiedenen Kasernen und Betrieben gesandt, um sie zu mobilisieren. Am Mittag veranstalten die Soldaten eine großes Meeting vor dem riesigen Putilow-Werk und erklärten den begeisterten Arbeiter*innen, dass sie beschlossen hatten, „nicht an die deutsche Front zu fahren gegen das deutsche Proletariat, sondern gegen die eigenen Minister-Kapitalisten“. Am Abend war ganz Wyborg auf den Beinen. Das Bezirkskomitee der Bolschewiki entschied sich: „Wir werden keine Aktionen beginnen, doch die Arbeiter ihrem Schicksal überlassen können wir nicht, deshalb gehen wir mit ihnen zusammen.“ Am Abend schoben sich die Massen durch die Straßen der Hauptstadt, bewaffnete Arbeiter­*innen und Soldaten unter roten Fahnen und Bannern mit der Aufschrift: „Alle Macht den Sowjets!“

An verschiedenen Stellen kam es zu Zusammenstößen mit patriotischen Kräften. Die Bolschewiki beschlossen, zu einer friedlichen Demonstration zum Taurischen Palais aufzurufen. In diesem Palais hatte das Allrussische Zentral-Exekutivkomitee der Sowjets (also die gewählte Führung der Arbeiterräte aus ganz Russland, die zu dem Zeitpunkt in Händen der ReformistInnen war) seinen Sitz.

Sowjetmacht?

Am späten Abend begann eine große Versammlung vor dem Taurischen Palais. Nieder mit den zehn bürgerlichen Ministern! Alle Macht den Sowjets! Einstellung der Offensive! Verstaatlichung von Grund und Boden! Produktionskontrolle! Kampf gegen den Hunger! – das waren die Forderungen, die beschlossen wurden. Doch die Reformist*innen, die in den Sowjets noch die Führung stellten, wollten die Staatsmacht nicht haben, die ihnen angeboten wurde. Stattdessen warteten sie auf Truppen von der bürgerlichen Regierung, um sich vor diesen Arbeiter*innen zu schützen.

Am Tage der Demonstration tagte im Palais der Arbeiter*innensowjet von Petrograd, in dem die Bolschewiki inzwischen die Mehrheit erobert hatten, und dieser beschloss eine Resolution, die das Exekutivkomitee zur Machtübernahme aufforderte, obwohl dieses Komitee sich weiterhin weigerte. Das Zentralkomitee der Bolschewiki fällte am Abend eine bedeutende Entscheidung: Zum nächsten Tage rief die revolutionäre Partei zu einer weiteren Demonstration auf.

Die zweite Demonstration war weitaus größer und besser organisiert als die erste. Von den umliegenden Garnisonen kamen Matrosen und Soldaten mit Waffen und Bannern. Diesmal kam es vermehrt zu Schießereien und Überfällen, auf dem Litejny-Prospekt kam es zu einer regelrechten Schlacht zwischen Demonstrant*innen und Kosaken. Schließlich waren die Massen erschöpft vom Kampf mit Toten und Verletzen, ohne die Aussicht auf Erfolg. Denn die „Sozialist*innen“, denen sie die Macht übergeben wollten, warteten weiter auf Truppen von der Front. So folgten fast alle dem Beschluss des Zentralkomitees der Bolschewiki, die Demonstration abzubrechen, und kehrten in ihre Viertel zurück.

Das Ende

Am frühen Morgen des 5. Juli kamen die ersten konterrevolutionären Armeeabteilungen am Taurischen Palais an, entwaffneten die noch zurückgebliebenen revolutionären Arbeiter*innen und der „Sozialist“ Dan konnte erleichtert erklären: „Keine Gefahr! Es sind der Revolution treue Regimenter angekommen.“ Nun begann die Konterrevolution. Arbeiter*innen, Soldaten und Matrosen wurden verhaftet, wie jede*r, der*die positiv von den Bolschewiki sprach. Besonders als die deutschen Truppen bei Tarnopol die russischen Linien durchbrachen, steigerte sich die Hetze gegen die bolschewistischen „Spione Deutschlands“. Die Druckerei der Bolschewiki wurden verwüstet, die Partei in den Untergrund getrieben.

Die Julitage waren eine der wichtigsten Erfahrungen für das russische Proletariat während der Revolution. Der Aufstand war spontan und verfrüht: Petrograd und die wenigen anderen Zentren, in denen die Revolutionär*innen auf die Barrikaden gingen, waren dem Bewusstsein der Mehrheit der Arbeiter*innen, Soldaten und Bauern*Bäuerinnen voraus. Wäre die Kerenski-Regierung und mit ihr der Reformisten-Sowjet gestürzt worden, so wäre die gewonnene Macht nicht zu halten gewesen, die Revolution wäre im Blut ertränkt worden. Die Bolschewiki verhinderten dies, indem sie sich an die Spitze der Bewegung stellten, sie rechtzeitig beendeten und die Verantwortung übernahmen.

Die Ereignisse bewiesen zudem, auf wessen Seite die reformistischen „Sozialist*innen“ standen. Die Bolschewiki waren im Juli von den Ereignissen mitgerissen worden, hatten aber genau das Richtige getan. Es sollte nur noch Monate dauern, bis die Voraussetzungen günstig genug sein würden, für den erfolgreichen Sturz der Regierung und des Kapitalismus.

Mehr zum Thema