1,3 Millionen Stimmen für die revolutionäre Linke in Argentinien – was können wir daraus lernen?

08.11.2017, Lesezeit 7 Min.
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Bei den argentinischen Parlamentswahlen holte die trotzkistische Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT) 5,5 Prozent der Stimmen. Ist das ein Vorbild für die Linke in anderen Ländern?

Bei den Wahlen am 22. Oktober erhielt die Front der Linken und Arbeiter*innen (FIT) in Argentinien 1,3 Millionen Stimmen (5,5 Prozent). Für die FIT, ein Bündnis aus drei trotzkistischen Organisationen, war es das beste Ergebnis seit ihrer Gründung im Jahr 2011. Es handelt sich um das mit Abstand erfolgreichste Wahlprojekt der revolutionären Linken in der heutigen Welt.

Doch dieses Ergebnis hat kaum ein Echo ausgelöst bei der Linken in Deutschland. Das ist schon ein bisschen komisch, wenn man sich an die begeisterte Unterstützung für die reformistische Partei „Volkseinheit“ (LAE) aus Griechenland erinnert, die mit drei Prozent bei den Wahlen 2015 deutlich weniger Zuspruch hatte, als die argentinische FIT.

Warum ist die FIT uninteressant? Gut, Argentinien ist weit weg – es liegt so weit im Süden, dass Pinguine an der Küste rumhüpfen.

Vielleicht ticken die „Gauchos“ einfach anders? Vielleicht gehört die Besetzung einer Fabrik dort einfach zum Alltag? Vielleicht sind fünf Prozent der Argentinier*innen seit eh und je für revolutionär-sozialistische Parteien?

Nein, nein, und nein. Natürlich hat Argentinien, wie jedes Land, seine Besonderheiten. Die aktuelle Generation ist vom Sturz der Militärdiktatur im Jahr 1983, aber noch viel mehr von den „revolutionären Tagen“ von 2001 geprägt, die vier Präsidenten innerhalb eines Monats stürzte.

Aber die FIT ist vor allem das Ergebnis einer bestimmten Strategie der Trotzkist*innen in Argentinien. Wir möchten dazu einladen, über die Bedeutung dieses Wahlergebnisses nachzudenken, mit sechs Punkten.

1. Revolutionäre Ideen sind massentauglich

Überall auf der Welt gibt es einen Rechtsruck. Wenn wir heutzutage über die sozialistische Weltrevolution sprechen – werden wir in den Ohren von arbeitenden Menschen nicht so klingen, als kämen wir vom Mars?

Viele revolutionäre Sozialist*innen heute sind der Meinung, wir dürften die Leute nicht mit allzu umstürzlerischen Ideen „verschrecken“. Nein, wir müssten erstmal mit kleinen Reformforderungen Sympathien gewinnen und auf eine zukünftige Radikalisierung warten, bevor wir ein revolutionäres Programm vorstellen.

Aber die FIT trat mit einem Kurzprogramm zur Wahl an, das radikale Maßnahmen beinhaltete, um die dringendsten Probleme der Arbeiter*innen, der Jugend, der Frauen, der LGBTI* und der Migrant*innen zu lösen. Um dieses Programm umzusetzen, fordert die FIT eine Arbeiter*innen-Regierung, die den bürgerlichen Staat zerstört und sich auf Organe der Selbstorganisierung stützt.

2. Unabhängig von Reformist*innen bleiben

Wenn man „die Linke“ in Argentinien sagt, meint man die revolutionäre Linke. Eine andere (reformistische oder sozialdemokratische) Linke gibt es momentan nicht. Die größte Oppositionspartei ist der „Kirchnerismus“, benannt nach der Ex-Präsidentin Cristina Kirchner. Zu ihrem Diskurs gehören durchaus Menschenrechte, Sozialleistungen und Feminismus – aber vor zwei Jahren hatte Kirchner die Präsidentschaft inne, und trug die Verantwortung für ein repressives, sexistisches und ausbeuterisches System.

Über die letzten Jahre gab es kleinere „neue Linke“ Projekte in Argentinien, die einen Mittelweg zwischen reformistischer und revolutionärer Politik gesucht haben. Dazu gehörte etwa die „Sozialistische Partei“ oder das „Proyecto Sur“ vom Filmregisseur Pino Solanas. Aber diese Projekte wurden recht schnell in den Kirchnerismus aufgesaugt. Auf lokaler Ebene bilden sie einen Teil des Regimes und sind nicht weniger korrupt als andere Parteien. Jene sozialistische Gruppen, die über solche reformistischen Projekte hofften, die Massen zu erreichen, wurden mit ihnen herunter gerissen.

Jetzt entsteht die interessante Situation: Gruppen, die die FIT einst wegen ihrer prinzipienfesten, revolutionären Haltung „Sektierertum“ vorgeworfen haben, existieren als kleine Sekten mit zu vernachlässigenden Wahlergebnissen. Die FIT dagegen kann unabhängig vom Reformismus mit Millionen sprechen.

Manche Linke fordern, die revolutionär-sozialistische Linke sollte mit dem Kirchnerismus zusammengehen. Aber das ignoriert genau die Grundlage des bisherigen Erfolges der FIT – die Unabhängigkeit von korrupten „Regierungslinken“.

3. Arbeiter*innen müssen Politik machen

Die Kandidat*innen der FIT gehören nicht zur Kaste der Politiker*innen, die exorbitante Diäten einkassieren, und diese mit Korruption noch ergänzen. Die Kandidat*innen der FIT sind ganz normale Arbeiter*innen – wie der Müllarbeiter Alejandro Vilca, der 18,3 Prozent der Stimmen in der Provinz Jujuy holte. Auch der U-Bahn-Fahrer Claudio Dellacarbonara aus Buenos Aires oder der Fabrikarbeiter Raúl Godoy von der besetzten Keramikfabrik Zanon stehen auf den Wahlzetteln.

Die FIT fordert, „alle Abgeordneten und politischen Funktionär*innen sollen genauso viel verdienen wie Lehrer*innen“. Die Abgeordneten der FIT nehmen nur einen durchschnittlichen Arbeiter*innenlohn – den Rest ihrer Diäten (bis zu 90 Prozent) spenden sie an Streikfonds.

4. Feminismus im Mittelpunkt

Revolutionär*innen kämpfen nicht nur gegen Ausbeutung, sondern gegen jede Art der Unterdrückung. Diese Kämpfe gehören zusammen. Die Arbeiter*innenklasse kann sich nur befreien, wenn sie aktiv gegen jede Art von Diskriminierung vorgeht – auch in den eigenen Reihen. Deswegen ist der Feminismus für die FIT kein „Nebenwiderspruch“.

Für die FIT sitzen prominente Feminist*innen wie Myriam Bregman in den Parlamenten. Als Menschenrechtsanwältin verfolgte sie die Mörder*innen von der Militärdiktatur – sie befragte den heutigen Papst, den argentinischen Kardinal Jorge Bergolio, über seine Verbindungen zur Diktatur.

Die FIT fordert kostenlose Abtreibung auf Verlangen und umfassende Sexualkunde. Um diese Forderungen durchzusetzen, organisiert sie unabhängige Frauengruppen. Die PTS bildet zusammen mit unabhängigen Aktivistinnen die sozialistische Frauenorganisation Pan y Rosas (Brot und Rosen). Diese tritt für die eigenständige Organisierung von arbeitenden Frauen ein, etwa mit Frauenkomitees bei Streiks. Die Löwinnen von PepsiCo, die gegen Entlassungen kämpfen, sind ein Beispiel dafür.

5. Aufbau in unserer Klasse

Die FIT tritt zu Wahlen an. Aber sie ist kein Wahlprojekt. Die Organisationen der FIT bauen sich in Fabriken, an Arbeitsplätzen, an Schulen und Universitäten und in Wohnvierteln auf. Besonders die PTS verfügt über eine starke Verankerung in der Arbeiter*innenbewegung – sichtbar als 20.000 Sozialist*innen ein Fußballstadium füllten.

Die Abgeordneten der FIT lehnen jede Zusammenarbeit mit den Vertreter*innen der Ausbeuter*innen (d.h. der bürgerlichen Parteien) ab. Stattdessen stehen sie in der ersten Reihe, wenn Arbeiter*innen für ihre Rechte kämpfte. Aber als zum Beispiel der Abgeordnete Nicolás del Caño (PTS) beim PepsiCo-Streik war, kam er nicht von außen. Der Betriebsrat wurde ebenfalls von PTS-Genoss*innen geführt, die seit 20 Jahren eine revolutionäre Fraktion in dieser Fabrik aufbauen.

Die FIT ist auch unabhängig von der Gewerkschaftsbürokratie, die in Argentinien wie eine Mafia funktioniert (und hinter den verschiedenen Fraktionen des Peronismus steht). Die FIT baut klassenkämpferische Basisgruppen in den Gewerkschaften auf und versucht, die Bürokrat*innen hinauszuwerfen.

6. Eine Art Anti-Syriza

Vor ein paar Jahren war die reformistische Partei SYRIZA in Griechenland der Hoffnungsträger für viele Linke, besonders in Europa. Aber nach wenigen Monaten hatte sie ihre Versprechen gebrochen. Heute setzt Alexis Tsipras eine brutale Austeritätspolitik durch, verbunden mit rassistischen Angriffen auf Migrant*innen. Zurück bleibt Enttäuschung und Orientierungslosigkeit.

Also wie sollte eine neue Linke aussehen? Wir haben genauso wenige Hoffnungen in den französischen Sozialchauvinisten Jean-Luc Melanchon wie in die spanischen Neoreformist*innen von Podemos. Sie werden höchstens den Verrat von Syriza wiederholen. Wir sind der Meinung, dass die FIT ein Vorbild bietet. Revolutionär*innen sollten nicht in einem Bündnis mit Reformist*innen auftreten. Wir können erfolgreich sein, wenn wir ein unabhängiges Banner aufstellen. Auch in Deutschland wollen wir darauf hinarbeiten.

Siehe auch: Reflexionen eines revolutionären Arbeiters aus den USA, der neulich die FIT besuchte (auf Englisch)

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