Zur Situation in Deutschland I: Ordnung der Parteien, Ordnung der Klassen

21.04.2016, Lesezeit 9 Min.
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Zum ersten Mal wird Merkel angegriffen – aber ausschließlich von rechts. Eine rechte Massenbewegung gibt es nicht nur auf der Straße – sie zieht auch in die Parlamente ein. Im ersten Teil eines dreiteiligen Artikels geht es um Verschiebungen in der Parteienlandschaft.

Die Union und die SPD sind die beiden hauptsächlichen bürgerlichen Parteiblöcke Deutschlands. Deren Netzwerke ziehen sich durch das gesamte Regime, also tief in die Vereins-, Gerichts-, Verwaltungs- und Medienlandschaft. Das hat sich nicht geändert, obwohl die „Volksparteien“ seit den Neunzigern radikal eingebüßt haben. Die Union ist die traditionelle Partei der Bourgeoisie, mit vielen Verbindungen zum konservativen Teil des Kleinbürgertums. In Bayern ist sie kleinbürgerlicher, ländlicher und konservativer geprägt, bleibt aber auch hier hauptsächlich Vertreterin der Großbourgeoisie. Die SPD ist ihre linksliberale Ergänzung, deren Mehrwert für das Bürgertum im Link zu den Gewerkschaftsbürokratien besteht, wie sie mit den Hartz-Gesetzen eindrucksvoll zur Schau stellte. Sie ist mehr oder weniger noch eine bürgerliche Arbeiter*innenpartei, deren Übergang zur bürgerlichen Partei fließend ist, da ihre von der Bürokratie vermittelte Arbeiter*innenbasis dank Sozialpartnerschaft nie auf dem Prüfstand steht.

Im Osten wird die SPD in Regierungen teils durch die Linkspartei stellvertretend, mit der Besonderheit vieler ehemaliger Staatsbürokrat*innen und Rentner*innen. Im Westen ist sie weniger konservativ und spielt seit der Fusion der PDS mit der WASG für das Aufsaugen linker Gruppen und Bewegungen eine gewisse Rolle. Materiell ist sie aber vor allem für die unteren Etagen der Gewerkschaftsbürokratie wichtig, besonders in den prekären und linkeren Gewerkschaften NGG, ver.di und GEW. „Die Linke“ befindet sich derzeit in einem stetigen Rechtsdrift: Europaparteitag, Unterstützung für den Syrien-Einsatz der Bundeswehr, Ramelow-Regierung, rechtspopulistische Äußerungen von Lafontaine und Wagenknecht, Ramelows neuestes Statement gegen Antifa usw. Die einzige Großmobilisierung dieser Legislatur war die zusammen mit den Gewerkschaftsbürokratien gegen TTIP – ohne jegliche Klassenabgrenzung.

Die traditionelle gehoben-kleinbürgerliche Vertretung im Parlament, die FDP, wurde ab den 1980er Jahren durch ein linkeres kleinbürgerliches Projekt ergänzt, die Grünen, deren historische Aufgabe das Aufsaugen von Protestbewegungen war. Beide dienen der Mehrheitsbeschaffung für Union und SPD, die durch die Linkspartei und jetzt die AfD schwieriger geworden ist. In der jetzigen Großen Koalition sind sie überflüssig; ob die FDP wieder ins Parlament kommt, wird sehr von der AfD und Union abhängen, da sie nur eine Stammwähler*innenschaft von drei Prozent hat. Durch den Aufschwung der AfD in Landtagswahlen und Sonntagsfragen wird eine Koalition mit diesen Parteien immer unwahrscheinlicher und die Große Koalition bleibt die erste Wahl der Bourgeoisie.

Groß- und Kleinbourgeoisie

Die Große Koalition (Kabinett Merkel III, seit 2013) steht einerseits für den Willen der deutschen Bourgeoisie zur Stärke und andererseits für relative Popularitätsprobleme ihrer parlamentarischen Hauptstützen seit Hartz IV und der Krise. Sie drückt zugleich die objektive Stärke des deutschen Imperialismus und die subjektive Schwäche des Regimes aus. Sie hat folgende Projekte auf den Weg gebracht:

  • die Eroberung eines wirtschaftlich hegemonialen Standpunkts in Europa, die eine Menge Kapitalexport nach Südeuropa und eine EU-Finanzpolitik zugunsten des deutschen Finanzkapitals ermöglicht;
  • eine aggressivere Außenpolitik als es die schwarz-gelbe Regierung leisten konnte, sowie eine teilweise innere und äußere Militarisierung Deutschlands auf niedrigem Grundniveau;
  • einen sehr geringen Mindestlohn, der die Gewerkschaftsbürokratie ruhig stellte, sowie eine marginale Verbesserung in der Rente im Verhältnis zu vorangehenden Angriffen mit ausreichend Ausnahmen und bei Fortsetzung der Prekarisierung;
  • einen Präventivschlag gegen die Arbeiter*innenklasse mit dem Tarifeinheitsgesetz;
  • das ergebnislose Aussitzen der NSU-Affäre;
  • die zeitweise „Öffnung der Grenzen“ für Geflüchtete bei gleichzeitiger Asylverschärfung im Jahr 2015, also ökonomisch die Schaffung einer Konkurrenz auf dem Niedriglohnsektor bei rassistischer Spaltung der Klasse zur Verhinderung ihrer Verteidigung;
  • jetzt den Deal mit der Türkei.

Das alles ist aus Perspektive des Großkapitals zunächst eine sehr positive Bilanz. Doch durch die schwelenden gesellschaftlichen, institutionellen und auch ökonomischen Ausläufer der Krise in ihrer „Dritten Phase“ wird sie getrübt.

Dem Kleinbürger*innentum dagegen fehlt in der aktuellen Krise ein Angebot, denn es gewinnt wenig bei den großen Auslandsüberschüssen des deutschen Kapitals, ist aber durch die Währungs- und EU-Krise bedroht. Es sucht in der AfD nach isolationistischen und irrationalen Lösungen. Nach einer zeitweisen Stabilisierung des Euroraums zulasten der Arbeiter*innenklasse, besonders in der Peripherie, aktualisierte die Geflüchtetenfrage wieder das fremdenfeindliche Paradigma der AfD.

Was der AfD noch fehlt, sind Unterstützer*innen aus dem Kapital. Bisher ist keine Kapitalfraktion erkennbar, die auf dieses neue Pferd setzt. Es wird sehr davon abhängen, wie plausibel Merkels Lösungen für die Geflüchtetenfrage in den Augen der Bourgeoisie aussehen. Mit der Ablehnung des allgemeinen Mindestlohns hat sich die AfD schon mal als Schergin des Kapitals in Stellung gebracht, das diese Karte aber noch nicht braucht – kein großes Verlagshaus plädiert für die AfD, kein Industrie- und Finanzverband unterstützt sie bisher. Die Bourgeoisie profitiert aber davon, dass die AfD die vorhandene Unzufriedenheit der Mittelklassen und eines Teils der Arbeiter*innenklasse aufsaugt und mit einem bürgerlichen, rechten Drall versieht. So ist sowohl ein Anti-Euro- als auch ein Anti-Migrant*innen-Ressentiment der Massen für das Kapital zufriedenstellender als ein Klassenhass.

Angriffe von rechts

Bemerkenswert ist, dass Merkel zum ersten Mal in ihren drei Kabinetten ernsthaft angegriffen wurde – und zwar ausschließlich von rechts, außer von der AfD auch aus der CSU und dem rechten Flügel der CDU. In der Frage der „Souveränität“ steht sie unter Kritik, denn es ergibt sich ein Widerspruch zwischen der hauptsächlich auf die imperialistische Konsolidierung Europas im Sinne Deutschlands gerichteten Unternehmungen Merkels und einem erstarkten deutschen Nationalismus, der die europäischen Unternehmungen nicht versteht oder nicht von ihnen profitiert.

Die Zustimmung der Bourgeoisie zu Merkel, deren möglicher zukünftiger Entzug nicht unbedingt zugunsten der AfD ausfallen muss, steht und fällt letztens mit der Stabilität in ihrem Sinne. Größere Schwankungen deuteten sich in den letzten Monat schon an mit der Gefolgschaftsverweigerung im Grenzregime durch die anderen europäischen Mächte, den wirtschaftlichen Problemen in China und der Deutschen Bank. An diesen Baustellen des Kapitals wird sich entscheiden, ob der Merkel-Kurs der „vermittelnden Expansion“ weiter ihrem Interesse entspricht. Bisher ja, denn der Vertrag mit Ankara kam zustande. Über die EU hinaus fährt Merkel einen aggressiveren Kurs als noch Schröder. Ihr Kurs lehnt aber die offene Konfrontation mit dem Hegemon USA genauso (TTIP) wie die mit dem Wirtschaftspartner Russland (Ukraine) – er drückt eine nicht dauerhaft mögliche Zwischenlösung aus.

Die aktuellen populistischen Angriffe auf Merkel, die sich bis in die „Causa Böhmermann“ spiegeln, stützen sich teils auf eine rechte, kleinbürgerliche Massenstimmung, die ihren radikalsten Ausdruck in PEGIDA findet („Merkel muss weg!“). Sie haben ihre Wurzel aber auch in Widersprüchen innerhalb der herrschenden Klasse, nicht nur im Populismus von Seehofer. Die Fragen des zweifelnden Kapitals sind: Kann Merkel die EU in der Geflüchtetenfrage auf eine Linie im Interesse der deutschen Bourgeoisie bringen? Erlaubt sie ihnen die Aufrechterhaltung der Profitrate durch Überausbeutung und offene Waren-Grenzen, ohne dass die Kosten und sozialen Folgen sie erdrücken?

Die SPD spielt in diesem Szenario eine Rolle als „unsichtbare Stütze“, indem sie die gekaufte Bürokratie und die „zivilgesellschaftlichen“ und „demokratischen“ Banden in einer Reihe hinter Merkel hält. Der Linksliberalismus in Deutschland steht hinter der Kanzlerin fester denn je. Also ist die SPD in der GroKo materiell wichtig für die Sozialpartnerschaft, aber auch ideell für die Hegemonie über den linken Flügel der „Zivilgesellschaft“, die Merkel nun trotz diverser Asylverschärfungen als ihr Bollwerk gegen eine noch rechtere Lösung begreifen und sich hinter ihr versammeln. Nichtsdestotrotz führt die SPD eine sehr rechte Politik durch, die die migrantischen und geflüchteten Teile der Gesellschaft angreift. In der Praxis trägt sie alle „polizeilichen“ Verschärfungen mit, welche die GroKo begleiteten.

Wahlbündnis-Vorschläge aller „demokratischen“ kapitalistischen Parteien gegen die AfD, die sogar aus der radikale Linken kommen und die Verteidigung der rassistischen Merkelschen Geflüchtetenpolitik „gegen Rechts“ fordern, sind Ausdrücke der fortlaufenden „Alternativlosigkeit“ Merkels für das aktuelle deutsche Regime.

Rückendeckung von links

Die Linkspartei selbst erweist sich als undynamisch, was uns anhand unserer bisherigen Analysen wenig verwundern kann. Sie hängt der „sozialdemokratischen“ Klassen- und Parteienordnung der alten BRD an, obwohl sie selbst gerade deren Krise und Umbau entsprungen ist. Sie war unfähig, im Streikjahr 2015 eine Kampfavantgarde hinter sich zu versammeln, weil das ihre eigene Kollaboration konfrontiert hätte.

Die Linkspartei bleibt nur ein „Plan B“ der klassenvermittelnden Strukturen für den momentan wenig wahrscheinlichen Fall, dass es in einer Verschärfung der Krise keine rechte Mehrheit mehr gibt. In der Geflüchtetenfrage offenbart sie ihren Chauvinismus (Gysi, Lafontaine, Wagenknecht), ohne dass ihre sozial amorphe und teils selbst kooptierte Basis davon in der Masse Wind bekäme. Ramelow möchte Geflüchtete aus Idomeni holen, baut aber selbst einen Abschiebeflughafen – er unterscheidet sich im Grundsatz nicht von Merkels Politik.

Da die Linkspartei nur sozialpartnerschaftliche Utopien entwirft („Alles bleibt gleich, nur der Mindestlohn steigt“), wird sie vom großen Teil der Arbeiter*innenklasse zu Recht als „weltfremd“ betrachtet. Ihre Unfähigkeit für eine realistische linke Kampfperspektive verstärkt auch den Rechtsruck in der gesamten Bevölkerung. Ihre vielen Regierungsprojekte im Osten machen es unmöglich, dass sie ernsthaft als „Anti-Establishment“ antritt, diesen Posten gibt sie also an die AfD.

Morgen erscheint Teil II dieses Textes.

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