„Wir waren elf Stunden lang im Kessel“: Leipzig übt den Polizeistaat

04.06.2023, Lesezeit 6 Min.
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Elf Stunden lang wurden gestern Nacht hunderte Leute in Leipzig von der Polizei eingekesselt, darunter auch Genoss:innen von Klasse Gegen Klasse. Unter den Gekesselten befanden sich auch viele Minderjährige. Wir solidarisieren uns mit den Betroffenen und verurteilen diese vollkommen unverhältnismäßige Repression.

Bis in den frühen Morgen waren hunderte Leute bei sieben Grad massiver Polizeigewalt ausgesetzt. Viele hatten nicht ausreichend warme Klamotten dabei, weil niemand mit solch einer Situation in der Art gerechnet hat. Die Demonstration richtete sich gegen das Urteil gegen Lina E. und ihre Genoss:innen. Einem Demonstranten wurde sogar ein Sack über den Kopf gezogen – angeblich als Spuckschutz. Aber nennen wir das Kind doch beim Namen: Das sind Foltermethoden.

Während des Kessels sagt die Polizei mehrmals durch, dass alle Anwesenden Anzeigen wegen Landfriedensbruch erwarten. Es dauerte etwa bis fünf Uhr morgens, bis alle Gekesselten von der Polizei teilweise unter Schmerzgriffen abgeführt und erkennungsdienstlich behandelt wurden. Auch am Sonntag saßen noch einige Leute in der Gefangenensammelstelle. Fünf Personen befinden sich in Haft. Sogar Anwohner:innen, die sich spontan solidarisierten, wurden von der Polizei bedroht. Auch als Klasse Gegen Klasse beteiligten wir uns an dem Protest, mehrere unserer Genoss:innen wurden ebenfalls für 11 Stunden eingekesselt. Sie berichteten live auf Twitter von der Repression.

Wir fordern die Freilassung aller Gefangenen und die Rücknahme der in die Wege geleiteten Anzeigen. Wir solidarisieren uns mit allen Betroffenen der Repression und rufen dazu auf, uns eure Erfahrungsberichte zu schicken. Die Repression ist noch nicht vorbei, sondern es stehen auch juristische Verfahren an, für die es möglichst viel Öffentlichkeit und Solidarität aus Gewerkschaften und linken Organisationen braucht.

Die LINKE ist mitverantwortlich

Die Außerkraftsetzung des Versammlungsrechts in Leipzig ist nichts weiter als ein politisch motivierter Skandal. Aus Berlin und Hamburg gab es sogar Berichte, dass die Polizei gegenüber Aktivist:innen Meldeauflagen verhängt hat, damit sie gar nicht erst nach Leipzig reisen.

Begriffe wie Linksterrorismus geistern seit Wochen unentwegt durch die Medien. Vollkommen abgekoppelt davon bleibt letztlich die Frage des Rechtsrucks. Dabei findet der Rechtsterrorismus auf den Straßen weltweit in rechten Parteien würdige Vertreter:innen. Wir halten es für notwendig, sich den Rechten auch physisch gegenüberzustellen und sind solidarisch mit allen, die das tun – auch wenn wir nicht die Strategie vieler autonomer Linker teilen, sich nur individualistisch den Rechten auf den Straßen zu stellen.

Das Urteil gegen Lina E. und ihre Genossen ist nichts weiter als ein Einschüchterungsversuch gegen die gesamte Linke, die sich unabhängig von Staat und Polizei dem Rechtsruck entgegenstellen wollen. Die Demoverbote in Leipzig und die Einkesselung von Demonstrant:innen über Stunden hinweg reihen sich nahtlos ein. Mitten in der Nacht hat die Polizei dann angefangen, in die Demonstration hinein zu prügeln.

Daphne Weber, Mitglied des Parteivorstands der LINKEN, kritisiert zwar richtigerweise, dass an Lina E. ein Exempel statuiert wurde und die Bedrohung von Rechts vernachlässigt wird. Dennoch kann diese Kritik nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Linke selbst dafür verantwortlich ist, selbstorganisierten, vom Staat unabhängigen Widerstand zu ersticken. Es war eben nicht einfach die Stadt Leipzig, die die Demonstration am Samstag verboten hat, sondern explizit das Ordnungsamt, das dem Bürgermeister und Beigeordneten für Umwelt, Klima, Ordnung und Sport der Stadt Leipzig Heiko Rosenthal* von der LINKEN unterstellt ist. Auch in Berlin, Brandenburg oder Thüringen war und ist die Linke Teil von Regierungen, die antifaschistischen Widerstand von der Polizei angreifen lassen und selbst für Räumungen von linken Hausprojekten oder Anti-Nazi-Blockaden verantwortlich sind.

Dass Demonstrant:innen, die gegen das Urteil und die Demonstrationsverbote protestierten, nun selbst die ganze Nacht im Polizeikessel festsaßen, ohne Informationen oder Möglichkeit den Kessel zu verlassen, setzt dem Ganzen die Krone auf.

„Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen.“ Die prägenden Worte der verstorbenen jüdischen und antizionistischen Antifaschistin Esther Bejarano müssen hier ergänzt werden: „Wer gegen Nazis kämpft, kann sich nicht auf den Staat und die LINKE verlassen.“

Für eine antifaschistische Einheitsfront in den Gewerkschaften

Stattdessen müssen wir gegen den Rechtsruck eine breite Front der Linken und Arbeiter:innen aufbauen, die in der Lage ist, einer solchen Repression zu trotzen, aber auch antifaschistischen Selbstschutz zu organisieren – gegen Nazis und Polizei. Dafür reicht es nicht aus, wenn sich der DGB symbolisch von Rechten abgrenzt. Die hohe Zustimmung in der Bevölkerung zu den Razzien gegen die Letzte Generation ist ein weiterer wichtiger Indikator für diesen enormen Rechtsruck.

Die Gewerkschaften sind heute immer noch die Organisationen, die die meisten organisierten Arbeiter:innen unter einem Banner vereinen. Die Gewerkschaftsbürokratien hingegen verweigern immer wieder aufs Neue die Einheit aller Arbeiter:innen – insbesondere auch der Kolleg:innen, die noch nicht gewerkschaftlich organisiert sind – voranzutreiben. Damit sind sie letztlich mitverantwortlich für den Rechtsruck. Doch nur eine konsequente Einheit der Arbeiter:innen über parteipolitische Grenzen hinweg verbunden mit einem Programm, das auch neue Teile der Klasse, Geflüchtete oder sonst zugewanderte Kolleg:innen, in die Kämpfe einbezieht und eine Politisierung von Streiks, wie es in Ansätzen bei der Klimabewegung passiert ist, können die Gewerkschaften zu antifaschistischen Bollwerken gegen den Rechtsruck machen.

Denn was heute Lina E. oder den Aktivist:innen der Letzten Generationen widerfährt, kann morgen schon uns Arbeiter:innen treffen, die sich gegen die Regierung und das Kapital auflehnen. Denn es ist eben nicht nur einfach ein Problem von vermummten Autonomen. Jeder Widerstand, der das Potential hat, den Staat und die kapitalistische Ordnung in Frage zu stellen, wird früher oder später staatlichen Angriffen ausgesetzt sein. Die Polizei ist hier kein Freund und Helfer: Ganz im Gegenteil ist es Aufgabe der Polizei, sich schützend vor Rechte und Unternehmen zu stellen und diese mit Gewalt zu verteidigen. Deshalb kann und wird die Polizei kein Teil einer antifaschistischen Einheitsfront in den Gewerkschaften sein. Die sogenannte Gewerkschaft der Polizei (GdP) muss deshalb aus unseren Gewerkschaften ausgeschlossen werden und wir müssen mit den Gewerkschaften selbst den Schutz unserer Demonstrationen organisieren.

*In einer ersten Version des Artikels haben wir Heiko Rosenthal als Stadtrat benannt. Das war natürlich ein Fehler.

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