Wertschöpfungsketten, Klassenkampf und Einheitsfront

14.05.2020, Lesezeit 20 Min.
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Das Coronavirus hat sich über die Kapitalkreisläufe und die Wertschöpfungsketten weltweit verbreitet, die Arbeiter*innenklasse gespalten und Millionen von Arbeiter*innen an der Front in Gefahr gebracht. Die Kräfte des Proletariats neu zu organisieren, um auf diese Bedrohung zu reagieren, ist der einzige Weg nach vorn.

Belokamenka ist eine ländliche Gemeinde in der russischen Arktis mit einer ständigen Bevölkerung von nur 85 Menschen. Die Ortschaft ist Hunderte von Kilometern von allem entfernt, was einer Stadt ähnelt, und ist einer der letzten Orte, an dem man einen grösseren Ausbruch von COVID-19 erwarten würde. Und doch wurde Ende April bei mehr als 200 temporären Bewohnern – Arbeiter*innen auf einer Baustelle einer Flüssiggasversorgungsanlage – die Krankheit diagnostiziert. Der Ausbruch breitete sich schnell auf der etwa 2,5 Quadradtkilometer großen Baustelle aus, was hauptsächlich auf die beengten Lebensbedingungen der Arbeiter*innen und das völlige Fehlen jeglicher sozialer Abstandsmaßnahmen zurückzuführen war. Aber wie gelang es dem Virus überhaupt, an einen so abgelegenen Ort zu gelangen? Wie schaffte es eine Krankheit, die ursprünglich in Wuhan, China, diagnostiziert wurde, trotz aller Bemühungen, sie einzudämmen, in so kurzer Zeit bis in die entlegensten Winkel der Erde vorzudringen? Die Antwort ist einfach: Die Krankheit verbreitete sich so schnell – schneller als jedes frühere Virus –, indem sie den gleichen Kreisläufen folgte, die die globale Just-in-time-Lieferkette verbinden, einer Kette, die von der Art billiger Energie, die die Anlage in Belokamenka bereitstellt, und von der Art billiger eingewanderter Arbeitskräfte, die für den Bau einer solchen Anlage benötigt werden, angetrieben wird. Während menschliche Viren oft den Warenströmen gefolgt sind – die Beulenpest zum Beispiel wanderte jahrelang entlang der Handelsrouten – hat die Geschwindigkeit und das massive Ausmaß des globalisierten Kapitalismus ein Szenario geschaffen, in dem sich Krankheiten innerhalb weniger Wochen über den gesamten Planeten ausbreiten können. In dieser Hinsicht ist COVID-19 die erste große Pandemie im Zeitalter des globalen Kapitalismus.

Doch wie Kim Moody erklärt, werden genau dieselben Kreisläufe, die sowohl Produkte als auch Krankheiten blitzschnell über den Globus reisen ließen, nur durch die hochausgelastete Arbeit von Millionen von Logistiker*innen in einer Handvoll von Unternehmen ermöglicht, und diese Kreisläufe sind daher extrem störungsanfällig. So erklärt Moody:

«Drei Jahrzehnte der Rationalisierung und Verfeinerung des Warenverkehrs entlang technisch hochentwickelter, aber arbeitsintensiver Lieferketten haben die Geschwindigkeit der Krankheitsübertragung sowie der Waren- und Geldströme beschleunigt. Aber gerade die Geschwindigkeit dieser angespannten Handelsadern hat auch ihre Anfälligkeit für Störungen erhöht.»

Der wettbewerbsmässige Vorteil, den diese Lieferketten bieten, hängt fast ausschliesslich von ihrer Fähigkeit ab, Waren und Rohstoffe dorthin zu bringen, wo sie genau dann benötigt werden, wenn sie gebraucht werden. Jede kleinere Unterbrechung auf diesem Weg kann den gesamten Prozess ins Chaos stürzen und die Unternehmen täglich Millionen oder Zehnmillionen Dollar an Ausgaben oder entgangenen Gewinnen verursachen. Für Moody ist der Zusammenhang hier offensichtlich. Das Streben des Kapitalismus nach Effizienz und seine Versuche, aus jeder Minute des Produktions- und Zirkulationsprozesses Wert herauszuquetschen, bedeutet, dass die Lohnabhängigen in den Branchen, die diese Lieferketten bereitstellen (ganz zu schweigen von denjenigen, die in der Produktion mit hoher Wertschöpfung in der Nähe von Logistikzentren arbeiten, und denjenigen, die bei der Produktion und Instandhaltung der logistischen Infrastruktur helfen), eine enorme potenzielle Hebelwirkung haben. Tatsächlich zeigt das Wesen der globalen Lieferketten, dass es trotz all der fortschrittlichen Technologie, die hinter dem globalen Kapitalismus steht, immer noch die arbeitenden Menschen sind, die die Welt am Laufen halten, und es sind die arbeitenden Menschen, die die Macht haben, sie stillzulegen.

Es überrascht nicht, dass diese systemrelevanten Arbeiter*innen, diejenigen, die sich in den vielen Verästelungen der globalen Lieferkette abmühen oder helfen, sie zu unterstützen, auch zu den Schwächsten gehören. Während Millionen von Werktätigen entlassen und in die Armut geworfen wurden, sind diejenigen, die noch immer an vorderster Front in den Bereichen Vertrieb, Transport sowie Nahrungsmittel- und Energieproduktion stehen, gezwungen werden, oft mit den geringsten Schutzmaßnahmen die grössten Risiken einzugehen. Die Wanderarbeiter*innen in Belokamenka zum Beispiel hatten keine persönliche Schutzausrüstung, keine Handschuhe, Masken oder Desinfektionsmittel. In den USA sind die Lohnabhängigen der Verteilzentren und Lieferfirmen gezwungen, oft ohne angemessene persönliche Schutzausrüstung in Umgebungen zu arbeiten, in  denen das Virus bereits entdeckt wurde. Mittlerweile haben die Arbeitenden in der landesweiten Lebensmittelindustrie, insbesondere in Fleisch- und Geflügelfabriken, an einigen Arbeitsplätzen Infektionsraten von über 50 Prozent festgestellt. Viele dieser Beschäftigten an vorderster Front sind arme farbige Menschen und Migrant*innen, die von Lohnzahlung zu Lohnzahlung leben und die sich die Quarantäne schlichtweg nicht leisten können. Vor allem Lohnabhängige ohne Papiere haben keinen Zugang zu Unterstützung aus dem «Konjunkturpaket» und zur Arbeitslosenversicherung und können jederzeit abgeschoben werden; sie sind somit gezwungen, unter unsicheren Bedingungen zu arbeiten, oder stehen vor dem wirtschaftlichen Ruin.

Klassenkampf in der Pandemie

Als Reaktion auf diese schrecklichen Bedingungen haben sich Arbeiter*innen, die im ganzen Land weiterhin an der Front arbeiten, in den Kampf getreten, um ihr Leben und ihre Lebensgrundlage zu schützen. Laut Payday Report hat es seit Anfang März landesweit mehr als 190 wilde Streiks gegeben. Viele dieser Arbeitskämpfe und Streiks fanden in Industrien statt, die für die Produktion und Verteilung von Gütern des Grundbedarfs von entscheidender Bedeutung sind. Von Lager- und Fabrikarbeiter*innen bis hin zu Pfleger*innen in Pflegeheimen, Tischler*innen, Verkäufer*innen in Lebensmittelgeschäften und Zusteller*innen haben die Beschäftigten Streiks, Arbeitsniederlegungen und Arbeitsverweigerungen im Krankheitsfall angeführt; ihre Forderungen reichten von sichereren Arbeitsbedingungen und persönlicher Schutzausrüstung bis hin zu bezahlter Krankschreibung, Gefahrenzulage und höheren Löhnen. In Massachusetts weigerten sich beispielsweise 13.000 Zimmerleute wegen der unsicheren Bedingungen aufgrund der Pandemie, zu arbeiten. Die Beschäftigten von General Electric in Massachusetts  protestierten ebenfalls für die Herstellung dringend benötigter Beatmungsgeräte und zeigten damit, dass die Arbeiter*innen Lösungen für die Bekämpfung der Pandemie haben. In Kalifornien streikten Hunderte von Fast-Food-Beschäftigten für Gefahrenzulage und bezahlten Krankheitsurlaub, während in Nebraska die Fleischzerleger*inne eines Schweinefleischverarbeitungsbetriebs in Smithfield in den Streik traten, trotz Präsident Trumps Aufruf, Fleischverpackungsbetriebe zu zwingen, geöffnet zu bleiben; dies nachdem fünfzig ihrer Kolleg*innen positiv auf COVID-19 getestet worden waren. Am 1. Mai riefen die Arbeiter*innen einiger der größten Logistik- und Lieferunternehmen des Landes, darunter Amazon, Whole Foods und Target, zu branchenweiten Streiks auf. Obwohl diese Aktionen und Demonstrationen erfolglos blieben (sie erwiesen sich eher als Proteste denn als Streiks), zeigen sie doch, dass viele Lohnabhängige zunehmend offen für kollektive Aktionen eintreten und kampfbereit sind.

Zusätzlich zu solchen Aktionen am Arbeitsplatz haben sich auch andere Arbeiter*innen im ganzen Land, darunter viele Beschäftigte im Gesundheitswesen, zur Verteidigung der am stärksten Unterdrückten organisiert. In Krankenhäusern im ganzen Land hat das Personal protestiert, um angemessene persönliche Schutzausrüstung (PSA) zu fordern; sie haben sich sogar mit streikenden Lagerarbeiter*innen an vorderster Front bei Amazon sowie mit anderen wichtigen Sektoren der Arbeiter*innenklasse und Farbigen, die von der Krise am meisten betroffen sind, zusammengetan. In der Zwischenzeit haben viele andere beschäftigte und arbeitslose Lohnabhängige unermüdlich Bewegungen für einen Massenmietstreik und für die Freilassung inhaftierter Arbeiter*innen aufgebaut, die in überfüllten und unsicheren Haftanstalten und Gefängnissen für Migrant*innen gefangen sind. Dies ist der Fall bei den Mieterstreiks zum Einfrieren der Mieten oder bei der Bewegung Free Them All für die Schließung von Migrant*innengefängnissen bzw. die Abschaffung von Gefängnissen.

Wie bei den Streiks am 1. Mai handelt es sich bei den meisten dieser Aktionen um illegale oder wilde Streiks, oft an nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitsplätzen, wo es keine bürokratische Führung gibt, die sie zurückhalten könnte. Außerdem waren sie meist defensiver Natur und konzentrierten sich auf Gesundheit, Sicherheit, Krankengeld und Lohnschutz während der Pandemie. Und mit Ausnahme der Streiks am 1. Mai, die bis zu einem gewissen Grad in der gesamten Lebensmittel- und Zulieferindustrie koordiniert wurden, waren die meisten auf diesen oder jenen Arbeitsplatz beschränkt. Die schiere Zahl der Streiks ist sicherlich historisch, aber ein Großteil dieses Kampfes war weitgehend spontan, wurde von einem kleinen Sektor der fortschrittlicheren Arbeiter*innen geführt und ist immer noch weit entfernt von einem Massenkampf, der notwendig ist, um wirkliche Gewinne für ganze Industrien, geschweige denn für die Klasse als Ganzes zu erzielen. In der Tat hat die Pandemie zwar den Klassenkampf unter den so genannten «systemrelevanten» Segmenten der Arbeiter*innenklasse erheblich verstärkt, aber sie hat auch die bereits bestehenden Spaltungen innerhalb der Arbeiter*innenklasse im weiteren Sinne verschärft und stark aufgewühlt.

Die Art der Pandemie und die Quarantäne haben die Arbeiter*klasse in mehrere Sektoren gespalten. Auf der einen Seite gibt es die Millionen von Arbeiter*innen, die sicher von zu Hause aus arbeiten können, mit – zumindest vorläufig – minimalen wirtschaftlichen oder sozialen Rückschlägen. Auf der anderen Seite gibt es die unentbehrlichen Arbeiter*innen, viele von ihnen in der Logistik, der Produktion und der Auslieferung, die kaum eine andere Wahl haben, als weiter zu arbeiten, wodurch es anderen ermöglicht wird, an ihrem Arbeitsplatz geschützt zu bleiben. Zu dieser zweiten Gruppe gehören natürlich auch Lohnabhängige an vorderster Front im Gesundheitswesen, Pflegepersonal und Ärzt*innen, die wirtschaftlich sicherer, aber oft auch exponierter gegenüber Infektionen sind. Es gibt aber auch eine dritte Gruppe von Lohnabhängigen: die Arbeitslosen. Bis letzten Donnerstag haben seit März mehr als 33 Millionen Arbeiter*innen in den USA einen Antrag auf Arbeitslosenversicherung gestellt. Diese Zahl ist zwar riesig, aber in dieser Zahl sind noch nicht einmal diejenigen enthalten, die dafür nicht berechtigt sind, wie z.B. die Millionen zugewanderter Lohnabhängigen, die im Gastgewerbe entlassen wurden, oder diejenigen, die keinen Antrag stellen konnten, weil die staatlichen Arbeitsämter mit Anträgen so überlastet sind.

Indem das Kapital bestimmte Segmente der Arbeiter*innenklasse (oft entlang rassischer Linien) privilegiert und eine Reservearmee überschüssiger Arbeitskräfte aufrechterhält, deren schiere Armut als Warnung für andere Arbeiter*innen fungiert und deren Verzweiflung in der Suche nach Arbeit die Löhne senkt und den Kampf der Klasse lähmt, schwächt das Kapital die kollektive Macht der Klasse. Aber die Pandemie und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Auswirkungen haben diese Spaltungen noch verschärft. Gleichzeitig hat die Krise aber auch die kollektive Macht der Arbeiter*innenklasse offensichtlicher denn je gemacht. Wir stehen vor folgender Herausforderung: Wie verbinden wir die Kämpfe der Arbeiter*innen, die derzeit in Bewegung sind (insbesondere der prekären Arbeiter*innen an vorderster Front) mit den Kämpfen und Interessen der gesamten Klasse, einschließlich derer, die derzeit ohne Arbeit sind? Und wie nutzen wir diese Einheit, um eine Klasse aufzubauen, die fähig ist, für den Sozialismus zu kämpfen und diesen zu gewinnen und den Rahmen für eine kommunistische Zukunft zu schaffen?

Das Hindernis der Gewerkschaftsbürokratie

Es ist zwar verführerisch, die Spontaneität des gegenwärtigen Klassenkampfes als eine Absage an die Notwendigkeit der für den Klassenkampf organisierten Arbeiter*innenklasse im grossen Maßstab zu sehen. Aber Tatsache bleibt, dass jede koordinierte Aktion, die die Stärke der Arbeiter*innenklasse aufbauen kann, ohne die organisatorische Massenfähigkeit der nationalen Gewerkschaften und ihrer Mitgliedsorganisationen unmöglich ist. Leider bedeutet der konservative Charakter der Gewerkschaftsführung, dass eine solche kollektive Aktion ohne eine direkte Konfrontation mit der Gewerkschaftsbürokratie wohl unmöglich ist.  Von einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, haben sich die meisten der grossen nationalen Gewerkschaften, darunter die United Auto Workers, die Teamsters, die American Federation of Teachers und die Service Employees International Union, bisher damit begnügt, die Bedingungen der Quarantäne im Rahmen der üblichen Verfahren der Tarifverhandlungen, der Lobbyarbeit und der Vereinbarungen hinter geschlossenen Türen zwischen den Gewerkschaftsführungen, dem Management und den Regierungen der Bundesstaaten und des Bundes auszuhandeln. So hat zum Beispiel der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB), dem die AFL-CIO angehört, einen – wie er es nennt –  «sozialen Dialog»  und eine Koordinierung zwischen «Gewerkschaften, Unternehmern und Regierungen» gefordert und behauptet, eine solche Koordinierung sei der einzige Weg, um sicherzustellen, dass die Menschen «das Vertrauen in ihre Regierungen behalten» und «um eine Zukunft nach der Pandemie zu garantieren, die niemanden zurücklässt». Eine solche Sprache zeigt deutlich, in welchem Masse der gesamte Apparat der Gewerkschafsbürokratie sich der Bourgeoisie unterworfen hat.

Diese Krise ist jedoch anders als alle, die wir bisher erlebt haben. Der bevorstehende wirtschaftliche Einbruch und die harten Sparmaßnahmen, die wahrscheinlich folgen werden, sind genau die Art von Ereignissen, die die Gewerkschaften nach links drängen können. Es ist zum Beispiel sehr wahrscheinlich, dass die Gewerkschaften im Zuge der Pandemie unter enormen Druck geraten werden, Zugeständnisse zu machen. Staatliche und föderale Kürzungen vor allem im Bildungswesen und im öffentlichen Dienst werden die Beschäftigten im öffentlichen Sektor besonders hart treffen – und der öffentliche Sektor ist bei weitem der grösste Sektor der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen in den USA. Um sich gegen die existenzielle Bedrohung durch solche Angriffe zu verteidigen, werden die Gewerkschaften in der kommenden Zeit mit ziemlicher Sicherheit gezwungen sein, deutlichere Positionen einzunehmen und sich für radikalere Abwehrmassnahmen einzusetzen.

Und hier kommt die breite Masse ins Spiel. Wenn die Gewerkschaften diese Krise überleben wollen, müssen sie von ihren Mitgliedern dazu gedrängt werden, sich zu umfassenderen, konfrontativeren Kämpfen gegen den Staat zu verpflichten, die auch den Kampf für die Klasse als Ganzes einschliessen. Die Basis der Gewerkschaften muss verlangen, dass die Gewerkschaftsführungen ihren Waffenstillstand mit der Regierung und den Unternehmen brechen und ihre Organisationen wieder zu Waffen des Klassenkampfes schmieden. Das bedeutet, für Gesundheit, Sicherheit und wirtschaftlichen Schutz für alle Arbeiter*innen, ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht, einschließlich der Arbeitslosen, zu kämpfen. Es bedeutet aber auch, dass die Gewerkschaften den Kampf gegen die rassistischen Angriffe aufnehmen müssen, unter denen Schwarze und Latinx-Gemeinschaften leiden, und dass sie einen Kampfplan entwickeln müssen, damit die Organisationen der Arbeiter*innenklasse die Führung im Kampf für die Verteidigung der Schwarzen und Latinx-Bevölkerung übernehmen.

Solche Aktionen, die es in den USA seit vielen Jahrzehnten nicht gegeben hat, finden bereits überall auf der Welt statt, und es gibt keinen Grund, warum sie nicht auch hier stattfinden können. In Frankreich kamen nationale Gewerkschaftsverbände und Gelbwesten zusammen, um an der Seite der gesamten Arbeiter*innenklasse  für den Schutz der nationalen Renten zu kämpfen. In Chile und Kolumbienmarschierten die Gewerkschaften an der Seite nicht gewerkschaftlich organisierter Arbeiter*innen, Arbeitsloser und Student*innen, um sich ihren nationalen Regierungen zu widersetzen und dringend notwendige Reformen durchzusetzen. Und vor kurzem halfen die Gewerkschaften in Italien bei der Organisation eines Massengeneralstreiks zur Stilllegung der nicht lebensnotwendiger Produktion. In der Zwischenzeit hat es in den USA bei den massiven Lehrer*innenstreiks von 2018 und 2019 bereits Gerüchte über solche Aktionen gegeben. Wenn diese Streiks auch ein Anzeichen für den Kampfgeist der US-Arbeiter*innenklasse sind, dann können wir erwarten, dass  der Klassenkampf weiter zunehmen wird, da die Arbeiter*innen langsam an ihre Arbeitsplätze zurückkehren.

Die Notwendigkeit der Einheitsfront

Trotz zunehmender Klassenkämpfe hat die Epidemie einen schweren Tribut an die Arbeiter*innenklasse gefordert, die gegenwärtig  von der Arbeitslosigkeit verwüstet wird. Und leider steht das Schlimmste wahrscheinlich erst noch bevor. Aus diesem Grund müssen die Werktätigen eine kollektive Abwehrreaktion zur Bewältigung der Krise entwickeln. Um die Schwäche der Produktionsketten des Kapitals und die steigende Welle des spontanen Klassenkampfes auszunutzen – die sicher noch zunehmen wird, wenn die Arbeiter*innen langsam an ihre Arbeitsplätze zurückkehren – müssen revolutionäre Sozialist*innen und Werktätige für eine breite Klasseneinheit agitieren, die gewerkschaftlich organisierte und nicht organisierte Arbeiter*innen, Lohnabhängige ohne Papiere, inhaftierte Arbeiter*innen und Arbeitslose umfasst, um der Macht der Bosse und des Staates entgegentreten zu können. Allein können die Gewerkschaften vielleicht diese oder jene kleine Forderung an ihren eigenen Arbeitsplätzen durchsetzen, aber solche Errungenschaften werden andernorts leicht ausgehöhlt. Wie Moody vorschlägt, mögen Logistik- und Produktionsarbeiter*innen, selbst diejenigen ohne Gewerkschaften, ein Druckmittel haben, um höhere Löhne oder eine grössere Arbeitsplatzsicherheit zu erreichen, aber ohne eine vereinigte Arbeiter*innenklasse werden sie in ihrem täglichen Leben immer noch Unterdrückung und Ausbeutung ausgesetzt sein. Der jahrzehntelange Angriff auf den öffentlichen Dienst und die explodierenden Kosten für Gesundheitsversorgung, Medizin, Bildung und Miete sind nur einige Beispiele dafür, dass selbst gut bezahlte Arbeiter*innen ausserhalb des Arbeitsplatzes weiterhin ausgeblutet werden. Auf der Ebene einiger kommunaler Organisationen ist es vielversprechend, dass sie sich für die Rechte der armen Stadtbevölkerung, der Schwarzen und der Latinx-Gemeinschaften mobilisieren, aber lokale Errungenschaften können auch leicht zunichte gemacht werden, und es ist eine einheitliche klassenweite Reaktion erforderlich, um der Regierung einen Mietstopp aufzuerlegen und alle Rechte der schwarzen und Latinx-Arbeiter*innenklasse zu erringen, die weiterhin unter der Armut und dem Rassismus des Staates und der Gewalt der von Donald Trump unterstützten  weißen Bürgerwehren leiden.

Jede Strategie, um die grösstmögliche Einheit der Arbeiter*innenklasse zur Verteidigung gegen kapitalistische Angriffe zu gewinnen – in diesem Fall verschärft durch die Pandemie und die Gefahr einer wirtschaftlichen Depression – muss die Taktik der Arbeiter*inneneinheitsfront enthalten. Obwohl die Gewerkschaften der Schlüssel zur Förderung dieser Einheit sind, besteht die wahre Aufgabe der Einheitsfront darin, alle Sektoren der Arbeiter*innenklasse zu organisieren, einschließlich derer, die nicht bereits organisiert sind. Das bedeutet nicht nur, neue Gewerkschaften zu organisieren oder mehr Arbeiter*innen für die traditionellen Gewerkschaften zu rekrutieren, sondern auch kreative Wege zu finden, um grössere Sektoren der Arbeiter*innenklasse zu erreichen, insbesondere die riesige Armee von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten, die in der Hitze der Krise täglich wächst. Um dies zu tun, wird es zumindest teilweise notwendig sein, sich die Lehren aus der Arbeiter*innenbewegung der 1930er Jahre  wieder anzueignen. Als die Weltwirtschaftskrise die Arbeiter*innenklasse in den Abgrund stieß, begann sie mit der Einrichtung von Arbeitslosenräten, die von der Trade Union Unity League (TUUL) gefördert wurden – einer von der Kommunistischen Partei Amerikas (KP) gegründeten Organisation. Dieses Beispiel breitete sich auf andere Gruppen aus, und es entstanden Organisationen und Räte in Chicago, Seattle, Ohio, West Virginia und Pennsylvania.

Zusätzlich zur Schaffung solcher Organisationen der Arbeitslosen bedeutet der Aufbau einer Einheitsfront der Werktätigen in der Zeit des Coronavirus die konkrete Organisation von Gewerkschaften und gemeinschaftlichen, sozialen und politischen Organisationen, die die Interessen der Arbeiter*innenklasse vertreten (Anmerkung: Dazu gehört keinesfalls die Demokratische Partei), auf der Grundlage eines nationalen Kampfplans und eines einheitlichen Forderungskatalogs. Eine solche Plattform müsste Folgendes beinhalten: die Schliessung nicht lebenswichtiger Industrien, die Verstaatlichung des Gesundheitssystems unter der Kontrolle der Arbeiter*innenklasse, die Eindämmung der Arbeitslosigkeit, die Umstellung der Produktion zur Bekämpfung der Krise, das Einfrieren der Zahlung aller Mieten und die Schaffung von Komitees zur Selbstverteidigung der Arbeiter gegen rassistische Angriffe und Polizeibrutalität gegen Farbige. Diese Forderungen können jedoch nicht nur von oben kommen, genauso wenig wie ein Generalstreik durch das Dekret der linken Intellektuellen ausgerufen werden kann; er muss durch Diskussion und politischen Kampf in allen Bereichen der Klasse entwickelt und erkämpft werden.

Die Aufgaben der Sozialist*innen

Um zum Aufbau der Einheitsfront beizutragen, müssen Sozialist*innen in Gewerkschaften, Verbänden und an den Arbeitsplätzen für diese Perspektive kämpfen. Die dringende Aufgabe der Sozialist*innen in der Arbeiter*innenbewegung besteht darin, die grösstmögliche Einheit der Arbeiter*innenschaft zu gewährleisten, indem sie die Gewerkschaftsbürokratie dazu drängen, über ihre eigenen Interessen hinauszugehen und sich an den Interessen der Klasse im weiteren Sinne zu orientieren. Aber damit ist unser Ziel noch nicht erreicht. Unsere Aufgabe ist es, den Einfluss der Sozialist*innen in der Arbeiter*innenbewegung und den sozialen Bewegungen auszuweiten, um die Führungen des politischen Reformismus und der Gewerkschaftsbürokratie anzugreifen. Wir streben jedoch nicht nach einer Einheit, die den Irreführern der Arbeiter*innenklasse, den Reformist*innen und Gewerkschaftsbürokrat*innen einfach die Kontrolle überlässt. Wir wollen die Art von Einheit, die das Bewusstsein und die Erwartungen der arbeitenden Menschen schärft, sich über das hinaus zu bewegen, was ihre Führungen gegenwärtig zulassen. Wie Leo Trotzki sagte: «In dem Augenblick, in dem die Reformisten beginnen, den Kampf zum Nachteil der Bewegung zu bremsen und gegen die Situation und den Willen der Massen zu handeln, werden wir uns als unabhängige Organisation immer das Recht vorbehalten, den Kampf bis zum Ende zu führen, auch ohne unsere zeitweiligen Halbbündnisse» (Trotzki, 1921).

Während einige Sektoren der Linken behauptet haben, dass Kampagnen der Demokratischen Partei wie Sanders Vorwahlkämpfe 2016 und 2020 dazu genutzt werden könnten, die Arbeiter*innenklasse zu vereinen, haben solche Taktiken zwangsläufig den gegenteiligen Effekt. Selbst mit einer Kriegskasse von 200 Millionen Dollar, die fast ausschließlich von Spendern aus der Arbeiter*innenklasse gesammelt wurde, scheiterte Sanders Kampagne, so dass die Spender*innen aus der Arbeiter*klasse an genau dieselbe Partei gebunden waren wie ihre Ausbeuter*innen. Was wir stattdessen brauchen, ist eine unabhängige Partei der Arbeiter*innenklasse, die für den Sozialismus kämpft. In diesem Sinne hat die Einheitsfront als Taktik auch ein strategisches Element, das darin besteht, den Weg für das Entstehen einer neuen Führung zu ebnen, die in der Lage ist, ganze Sektoren der Klasse zur revolutionären Militanz zu bewegen. Gleichzeitig ermöglicht der Kampf für die Einheitsfront den Sozialist*innen auch, die Arbeiter*innenklasse zu beeinflussen, ihr Vertrauen in die bürgerliche Demokratie, die Bosse, die Regierung und alle kapitalistischen Parteien zu brechen und damit zu beginnen, die politische Klassenunabhängigkeit aufzubauen, die wir brauchen, um eine sozialistische Welt zu gewinnen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf LeftVoice am 11. Mai 2020 und dann in Maulwürfe am 12. Mai 2020.

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