„Welt in Aufruhr“: Strategiebuch zur europäischen Großmachtpolitik

25.02.2024, Lesezeit 35 Min.
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Biden, Putin und Xi Jinping in Form von Matrojschka. Bild: UladzimirZuyeu / Shutterstock.com.

Herfried Münkler analysiert in seinem Buch „Welt in Aufruhr“ den Übergang zu einer multipolaren Weltordnung. Der Politikwissenschaftler will eine ambitionierte europäische Außenpolitik. Einen entscheidenden Akteur lässt er aber außer Acht.

Der Vorzug der neuen Richtung ist, dass wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen.

Mit diesem Zitat von Karl Marx aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern beginnt Herfried Münkler, Politikwissenschaftler und emeritierter Professor der Freien Universität Berlin, sein 2023 erschienenes Buch Welt in Aufruhr – Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Er beschreibt die Mechanismen der Geopolitik und blickt auf große historische Umwälzungen, wie wir sie auch jetzt erleben.

Mit Verweis auf die europäische Ordnung vom 17. bis frühen 20. Jahrhundert, eine „Pentarchie“ von fünf Großmächten, skizziert Münkler die sich derzeit herausbildende multipolare Weltordnung, für die er ebenso fünf zentrale Akteure benennt: USA, EU, China, Russland, Indien. Ob sie ihren Platz in dieser Konstellation tatsächlich einnehmen, hängt aber davon ab, ob sie ihre eigenen Schwächen überwinden können – die EU etwa ihre Uneinigkeit. 

Münkler sucht mit historischen Vergleichen nach den Bedingungen, unter denen eine solche Ordnung ein stabiles Gleichgewicht finden kann. Dafür konstruiert er Modelle, in denen er die „Möglichkeit von Friedensordnungen [umreißt], zugleich aber auch die Risiken politischen Scheiterns infolge von Fehlentscheidungen oder falschen Beurteilungen“ (S. 41; die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die 2023 im Rowohlt Verlag erschienene Ausgabe). Münkler orientiert sich damit an der Spieltheorie, nach der ein Akteur – in diesem Fall Staaten oder ihre Führungen – zwischen Handlungsoptionen wählt und wie in einem Brettspiel bestimmte Konsequenzen kalkuliert. Demnach entscheidet sich die Frage von Krieg und Frieden daran, ob die Akteure die ihnen zugeschriebenen Rollen korrekt spielen. 

Eine EU mit Atomwaffen

Welt in Aufruhr ist ein ideengeschichtliches Werk. In ihm kommen antike bis moderne Denker, Philosophen und Militärhistoriker zu Wort. Münkler sucht in ihren Überlegungen nach einer Grand Strategy, um die globale Ordnung der Mächte zu diskutieren. Mit wenigen Ausnahmen verzichtet er in seinem Buch auf Handlungsempfehlungen.

Doch aus seinen Theorien zieht er bei Auftritten durchaus politische Ergebnisse. Münkler ist SPD-Mitglied, trat in der Vergangenheit bei Veranstaltungen etwa mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf und hat Bedeutung als Vordenker für die sozialdemokratische Linie deutscher Außenpolitik. In einem aufschlussreichen Interview mit dem Deutschlandfunk sprach Münkler davon, dass Russland von seinen Maximalzielen nur durch die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine abgehalten wird. Verliert die Ukraine, stehe die Tür für weitere Kriege offen:

Eine Niederlage der Ukraine würde vermutlich zur Folge haben, dass die Kremlführung zum Ergebnis kommt, wir haben hier die Blaupause, die uns in die Lage versetzt, unseren imperialen Phantomschmerz zu stillen, indem wir das Imperium – sei es nun nach Zarengrenzen bemessen oder an denen der Sowjetunion – wiederherstellen. 

Sollte Russland siegen, könne es neue Kriege führen, um seinem Traum von imperialer Größe nachzukommen. Der Westen müsse Russland – und potentiell auch China – zeigen, dass die Kosten eines Angriffs höher seien als der Nutzen. Hier wendet Münkler die Spieltheorie an: Der russische Akteur muss damit rechnen, dass die westlichen Akteure auf den „Spielzug“ Angriff mit entsprechenden Maßnahmen reagieren. Heißt also: Waffenlieferungen an die Ukraine. Im Stern fordert Münkler sogar Atomwaffen für Europa. Diese Diskussion findet nun auch Raum in Medien und Politik. Die EU müsse unabhängig vom Nuklearschirm der USA werden. Gibt es keine andere Wahl zur Militarisierung, wenn sich Außenpolitik nach bestimmten Modellvorstellungen verhalten muss? Marschieren sonst Putins Armeen ins Baltikum und nach Berlin?

Münkler spricht von einem „Unterwerfungs-Pazifismus“ derjenigen, die Waffenlieferungen ablehnen. Er richtet sich damit gegen die Denkschule des Idealismus, die eine internationale Ordnung vor allem auf Verhandlungen aufbauen will. Seine Logik steht dem Klassischen Realismus der internationalen Beziehungen nahe. Demnach befinden sich souveräne Staaten in einem ständigen Machtkampf untereinander. Wir werden sehen, in welchen Pessimismus über die kommende Weltordnung Münklers Betrachtungen führen müssen, aber auch, welchen Faktor er unterschlägt. Denn er hätte beim Blick in die Vergangenheit auch ein anderes Zitat von Marx und Engels berücksichtigen sollen: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“

Zeitenwende

Nun ist Münkler das Werk von Marx bestens bekannt, mehr als zwei Jahrzehnte war er führend an der Neuedition der Marx-Engels Gesamtausgabe beteiligt. Über seine Auseinandersetzung mit den beiden Revolutionären stellte er 2008 fest:

Kapitalistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft großer sozialer Ungleichheit. Aber es ist nicht gesagt, dass diese soziale Ungleichheit sich formiert im Klassenkampf. Das hat der Marx natürlich aus bestimmten Gründen gehofft. Aber wenn man das abzieht, dann ist Marx eigentlich vom Kommunistischen Manifest bis zu dem Buch ‚Kapital‘ – ich mein, er hat ja nicht das Buch geschrieben: ‚Die sozialistische Zukunftsgesellschaft‘ oder so etwas, sondern es heißt: Das Kapital – eigentlich der Theoretiker einer Welt, in der wir immer noch leben.

Den Klassenkampf aus Marx Werk „abzuziehen“ ist mehr als ein rhetorischer Kniff. Münkler lehnt schlicht die politische Schlussfolgerung ab – die Revolution. Als Denker des Klassischen Realismus hat er dennoch gewisse Parallelen zum historischen Materialismus, wenn er davon spricht, dass jede Ordnung endlich ist und zerfallen wird. Sein Buch steht im Kontext des sich vor unseren Augen abspielenden historischen Umbruchs, dem Niedergang der US-Hegemonie und der Rückkehr der zwischenstaatlichen Konflikte; das, was Olaf Scholz als „Zeitenwende“ betitelte: 

Was daran tatsächlich ‚Aufruhr‘ ist und was auf eine sich verändernde ‚Ordnung der Mächte‘ hinausläuft, soll nachfolgend untersucht werden. Es sind diese einander entgegengesetzten Perspektiven, die im Titel des Buches annonciert werden: der Rückfall in eine ‚Anarchie der Staatenwelt‘ und die Herausbildung einer neuen ‚Ordnung der Mächte‘ in den globalen Verhältnissen. (Münkler, S. 18)

Münklers politische Vorstellung der Zukunft spielt sich zwischen diesen beiden Polen ab: Für ihn wäre eine Fünfer-Konstellation der Großmächte unter den gegebenen Umständen des voranschreitenden 21. Jahrhunderts die stabilste mögliche und erstrebenswerteste Ordnung. Sollte sie scheitern, wären die Folgen „freilich furchtbar“, so Münkler in seinem Fazit.

Aufstieg und Fall historischer Ordnungen

In einem Exkurs zum Dreißigjährigen Krieg beschreibt Münkler die Konsequenzen einer fehlenden Ordnung: Verschiedene Kriegsinteressen überlappen sich und werden undurchschaubar, Söldnerbanden verselbstständigen sich, staatliche Akteure verlieren das Heft des Handelns. Beendet wurde der Krieg mit dem Westfälischen Frieden 1648, der erste Ansätze einer regelbasierten Ordnung schuf, auf der die Nationalstaaten mit ihren stehenden Heeren aufbauen sollten. Unterbrochen wurde sie von den napoleonischen Kriegen, wiederhergestellt durch die Wiener Friedenskonferenz 1815 und galt schließlich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Der Friede der Pariser Vororte von 1919 schuf keine stabile Ordnung. Münkler identifiziert für die Zwischenkriegszeit Deutschland, aber auch Italien und die Sowjetunion als revisionistische Mächte. Sie sahen sich in dem Ordnungsgefüge benachteiligt und zielten auf dessen Änderung ab, was in den Zweiten Weltkrieg führte. Die Ordnung von Jalta 1945 brachte schließlich das bipolare System hervor, das bis zum Untergang der Sowjetunion 1989/91 bestehen sollte. Der Westen schien gesiegt zu haben: 

Für eine begrenzte Zeit war viel von dem ‚unipolaren Moment‘ die Rede, das den USA zugefallen sei und das der ‚einzig verbliebenen Supermacht‘ die Chance eröffne, zum ‚Hüter‘ einer globalen Ordnung zu werden, einer Ordnung, die nicht wesentlich durch Feindschaften und Gegensätze, durch Konfrontation und den sie begleitenden Zwang zur Parteinahme gekennzeichnet sei, sondern in der die bis dahin im politischen Bereich bloß rhetorische Formel von der Menschheit und ihren Herausforderungen politische Gestalt annehmen werde. (Münkler, S. 13)

Doch mit den Kriegen insbesondere in Afghanistan und dem Irak überdehnten die USA ihre Macht. Donald Trumps „America First“ und der chaotische Abzug aus Kabul 2021 wiesen auf das unrühmliche Scheitern dieser weltgeschichtlichen Etappe hin, der Ära des globalisierten Neoliberalismus. Heute sei keine Macht mehr willens oder in der Lage, die Funktion als „Hüter“ für eine regelbasierte Ordnung wahrzunehmen, so Münkler, auch nicht die Vereinten Nationen, die sich chronisch selbst blockierten.

Derzeit leben wir in einer Übergangsphase. Die alte Ordnung ist gescheitert, eine neue noch nicht konsolidiert. Der Krieg in der Ukraine ist für Münkler ein Ausdruck dessen, dass an ihren „Bruchlinien und Überlappungszonen“ der Streit um Einfluss geführt wird. Auch den aktuellen Krieg in Gaza betrachtet er in einem Interview für die Neue Züricher Zeitung als Ausdruck dieser Umbruchperiode.

Für Europa haben diese Veränderungen dramatische Auswirkungen. Über Jahrzehnte hatte man es sich in der Rolle hinter den USA bequem gemacht, gleichzeitig aber auch die Verbindungen nach Russland und China gesucht. Europa sei in einem „weltpolitischen Biedermeier“ versunken, das Denken der Grand Strategy und die politische und militärische Potenz sei vernachlässigt worden, was sich nun sträflich am Ukraine-Krieg zeige.

Russland als revisionistische Macht

Der russische Einmarsch in die Ukraine überraschte Europa, trotz der Krim-Annexion 2014 und den lang vorbereiteten Truppenaufmärschen. Fraglich ist jedoch, ob dies an einer „naiven“ Haltung lag:

Nach dem Zerfall der Sowjetunion war im Grunde zu erwarten, dass Russland eine autoritäre Wende nehmen und in jeder sich neu entwickelnden Friedensordnung, einer europäischen oder einer globalen, ein potentiell revisionistischer Akteur sein würde. (Münkler, S. 70)

Für den Revisionismus Russlands führt Münkler den Zerfall seines Imperiums an, ein Umstand, den Putin in seinen geschichtlichen Ausführungen selbst hervorhebt. Hinter den nationalistischen Narrativen steckt im Kern die Verdrängung Russlands auf einen „Platz in der zweiten Reihe“, nachdem die USA alleinige Weltmacht wurden. Ein Platz, auf dem Russland in den 1990ern und 2000ern erheblich die Entscheidungen des Westens hinnehmen musste.

In Europa war man wegen der revisionistischen Tendenzen bemüht, Russland seine geschrumpfte Rolle in der Welt durch wirtschaftliche Zusammenarbeit schmackhaft zu machen. In seiner Theoretisierung greift Münkler auf August Comte und Herbert Spencer zurück, die ihrerseits an die Vorstellungen von Adam Smiths Wealth of Nations und Immanuel Kants Zum ewigen Frieden anknüpften:

[D]er englische Soziologe Herbert Spencer hat Ende des 19. Jahrhunderts die Auffassung vertreten, die Konstitutionsprinzipien freier Gesellschaften – Vertragsfreiheit und freier Warentausch – seien mit denen kriegerischer beziehungsweise militaristischer Gesellschaften unvereinbar. Im Unterschied zu Comte ließ er beides jedoch nicht zeitlich aufeinanderfolgen, sondern verband es mit geographischen Konstellationen, was auf eine geopolitische Konkurrenz hinauslief: Während Seemächte die Träger von Handel und Industrie seien und einem wirtschaftlich wie politisch liberalen Denken zuneigten, seien Landmächte, die nur einen prekären oder gar keinen Zugang zu den Weltmeeren haben, dem Geist und Gestus des Militärischen verpflichtet und bedienten sich auch weiterhin des Eroberungskrieges, um ihre Macht zu steigern. (Münkler, S. 57)

In der liberalen Konzeption, wie sie Comte und Spencer vertreten, sind Industrie und Handel progressive Faktoren. Sie sind auf die „umfassende Optimierung der Systemergebnisse ausgerichtet, wie es in der spieltheoretischen Ablösung des Nullsummenspiels durch Win-win-Konstellationen beschrieben ist.“ Heißt: Beide Akteure gewinnen durch den Handel dazu, es gibt keinen Grund mehr für sie, Krieg zu führen. Münkler bescheinigt diesem Modell, nur unter bestimmten Voraussetzungen zu funktionieren, wie mit der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg, die auf dem Handel aufbaute. 

Ein Großteil der politischen Eliten, insbesondere Deutschlands, hatte darauf gehofft, dass der Kauf russischer Rohstoffe und die Einbindung Russlands in die europäische Kapitalzirkulation ausreichen werden, um es von einem militärischen Weg abzuhalten. Immerhin bescherten sie auch den russischen Eliten unermesslichen Reichtum, während westliche Funktionäre auf russischen Gehaltslisten landeten. Münkler nennt dies ein „mafiöses Arrangement“ beider Seiten. Selbst nach der Annexion der Krim 2014 wollte man – trotz mancher Sanktionen – diese Strategie nicht aufgeben, Münkler spricht von „Pfadabhängigkeit“. Den einmal gewählten Kurs zu ändern, hätte nur Misstrauen geschürt und alle bisherigen Bemühungen zunichtegemacht.

Trotzdem scheiterte dieser Weg. Münkler nennt zwei zentrale Denkfehler: Zum einen sei das russische Gas nur als Übergangslösung gedacht gewesen, bis die EU ihre Wirtschaft von fossilen Rohstoffen unabhängig gemacht hätte. Die aufgebaute Energieabhängigkeit Europas würde sich mit der Zeit erledigt haben, und damit auch eines der wichtigsten Finanzierungs- und Druckmittel des russischen Regimes. Zum anderen sei der „postimperiale Phantomschmerz“ – die revisionistischen Absichten Russlands nach dessen Fall zu einer Macht zweiten Ranges – unterschätzt worden. Anders als die Sowjetunion sei es eben kein saturierter Akteur. 

„Wer Frieden will, muss auf den Krieg vorbereitet sein“

Die EU unternahm nach 2014 verschiedene Versuche, mit der neuen Situation umzugehen. Das Minsker Abkommen bemühte sich, den Konflikt in der Ostukraine einzufrieren mit einer Hinnahme des Status quo und der russischen Kontrolle über die Krim. Münkler bezeichnet dies als Appeasement-Politik. Andererseits setzte die EU Repressionen in Form von Sanktionen um. Mit dem Einmarsch 2022 wurde der Versuch der Befriedung durch wirtschaftliche Verflechtung aufgegeben. Jede der Strategien folgt nach Münkler „unterschiedlichen Zeitrhythmen“, abhängig davon, ob die revisionistischen Tendenzen akut oder latent sind. Obwohl die Sanktionen nach Beginn des Krieges einige der umfangreichsten der Geschichte waren, beendeten sie den Krieg nicht. Als zentralen Grund dafür nennt Münkler, dass sich wichtige Mächte den Sanktionen nicht angeschlossen haben, darunter China und Indien – ein Indiz für die fehlende Durchsetzungskraft des Westens. 

Der Strategiewechsel bedeutet eine umfangreiche Militarisierung Europas, die auch langfristig als Abschreckungspotenzial, insbesondere gegenüber Russland, gedacht ist. Kann daraus eine neue stabile Ordnung hervorgehen? Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius meinte im Interview mit dem Stern: „Wer Frieden will, muss auf den Krieg vorbereitet sein.“ Er zitiert damit den antiken römischen Militärtheoretiker Flavius Vegetius („si pacem vis para bellum“), möglicherweise nach der Lektüre von Münklers Buch. In der Vorstellung von Vegetius ist ein Frieden die Folge daraus, dass die Kosten eines Angriffskrieges höher sind als der Ertrag, insbesondere wenn sich dadurch Allianzen gegen den Angreifer bilden. Dieses Modell bringt ein Sicherheitsdilemma mit sich: Der Aufbau von militärischer Macht zur Abschreckung kann wahrgenommen werden als Vorbereitung eines Angriffs. Die Logik der Politik nach Vegetius birgt weitere Gefahren:

Zu den strukturellen Risiken des Vegetius-Modells gehört aber auch, dass gar nicht Rüstungsanstrengungen selbst, sondern der ökonomische Aufstieg eines Akteurs in Friedenszeiten bei stetigem Zurückfallen seines potentiellen Kontrahenten dazu führt, dass dieser sich zu einem Krieg entschließt, von dem er hofft, er werde die Nachteile wettmachen, welche er im Frieden hinnehmen muss. Man wechselt dann, spieltheoretisch betrachtet, die Konkurrenzbedingungen, um die Bahn des strukturellen Abstiegs zu verlassen. Das ist zurzeit das politische Risiko im Verhältnis zwischen den USA und China (Münkler, S. 46)

Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Graham Tillett Allison diskutierte einen möglichen Krieg zwischen China und den USA mit dem Begriff der „Thukydides-Falle“. Er orientierte sich damit an dem antiken griechischen Historiker Thukydides, der die Tendenz zum Krieg zwischen einer aufstrebenden Macht (Athen) und der dominierenden Macht (Sparta) beschrieb. Demnach könnten sich die USA also zu einem Krieg gegen China genötigt sehen, um etwa einem Angriff auf Taiwan zuvorzukommen.

Eine Ordnung mit fünf Mächten

Gibt es trotz dieser Risiken die Aussicht auf eine stabile neue Ordnung? Wir wollen dafür auf das Zusammenspiel der fünf Akteure blicken, denen Münkler am ehesten einen Platz in der „ersten Reihe“ zuschreibt: 

[Wir haben es] – vermutlich – mit einer besonderen Konstellation der Fünferordnung zu tun, nämlich einer mit starken bipolaren Komponenten, insofern die USA mit der EU und weiteren Mächten, also der ‚Westen‘, einen demokratisch-rechtsstaatlichen Block und China mitsamt Russland und einigen anderen Staaten einen autoritär-autokratischen Block bilden dürften. (Münkler, S. 206)

Hinzu komme Indien als „Zünglein an der Waage“. In der Herleitung sucht Münkler den Vergleich mit zwei Pentarchien in Europa: Im 15. Jahrhundert bildeten fünf Mächte in Italien ein fragiles Gleichgewicht, in dem Mailand, Florenz, Venedig, der Vatikan und Neapel alle italienischen Angelegenheiten unter sich klärten. Als sich Mailand 1494 einer Vierer-Koalition gegenüber sah, suchte es Unterstützung bei Frankreich, das einmarschierte und diese Ordnung zerstörte. Florenz als schwächster Akteur hatte seine Rolle als „Zünglein an der Waage“ nicht gespielt und hätte Mailand unterstützen müssen, um den Zusammenbruch des Systems zu verhindern und das Gleichgewicht zu bewahren, so die spieltheoretische Annahme.

Die zweite Analogie zieht Münkler zur europäischen Pentarchie von Mitte des 17. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Nach dem Dreißigjährigen Krieg bildete sich eine Konstellation aus Frankreich, England, Spanien, Schweden und Österreich. Über die Jahrhunderte wechselten einige der Akteure, doch die Zahl von fünf Hauptmächten blieb bestehen. Um 1900 waren es schließlich Frankreich, Großbritannien, Österreich-Ungarn, Deutschland und Russland.

Für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges führt Münkler zwei Gründe an. Großbritannien sei in die „Thukydides-Falle“ geraten: Den Aufstieg Deutschlands vor Augen, schien ein Krieg zur Sicherung der eigenen Vormacht unausweichlich. Zugleich nennt er das spieltheoretische Problem, dass Großbritannien seine Rolle als Balancemacht nicht wahrgenommen habe. Statt sich auf die Seite Frankreichs und Russlands zu schlagen, hätte es als neutrale Macht eine politische Vermittlung einnehmen müssen, um den Krieg zeitig zu beenden. 

Mit Machiavelli zur Großmacht Europa

Für eine Pentarchie im 21. Jahrhundert zeigen diese beiden historischen Beispiele die Verwundbarkeiten: Jede Macht müsse die Notwendigkeiten vor Augen haben, richtig zu balancieren, um das Gesamtsystem nicht kippen zu lassen. Gleichzeitig bestehe aber auch eine gewisse Flexibilität. Schwächelnde Mächte könnten durch Akteure aus der zweiten Reihe ausgetauscht werden, die bis dahin nur eine Rolle als Regionalmacht einnehmen wie Brasilien oder Indonesien.

Tatsächlich attestiert Münkler allen potentiellen Mächten der ersten Reihe erhebliche Schwächen: Die Europäische Union setzte in den vergangenen Dekaden auf wirtschaftliche Macht und internationale Institutionen zur Durchsetzung ihrer Interessen. Militärisch hingegen sei sie ein Zwerg, abhängig von den USA. Während sie nun gewaltige Anstrengungen zur Aufrüstung unternimmt, bleibt eine entscheidende Schwäche weiter bestehen: ihre fehlende Entscheidungskraft. Münkler bedient sich an Niccolò Machiavellis Vorstellung von der Einigung Italiens im angehenden 16. Jahrhundert, der nach dem Zusammenbruch der Pentarchie davon sprach, dass ein „Retter“ die politische und militärische Macht zentralisieren müsse, um den ausländischen Invasoren zu trotzen:

Sicherlich sind Machiavellis Ratschläge nicht eins zu eins auf die Europäische Union zu übertragen. Sie braucht gewiss keinen Diktator, aber sie muss das Einstimmigkeitsprinzip aufgeben, das jedem noch so kleinen Akteur die Option einer Vetomacht eröffnet und ihm die Chance zur politischen Erpressung der anderen EU-Mitglieder verschafft. Machiavelli dachte in scharfen Gegensätzen und spitzte politische Optionen zu antagonistischen Alternativen zu. Kompromisse, so seine Überzeugung, würden nicht mehr helfen, sondern erst recht in die Katastrophe führen. Das in der EU übliche Verfahren ist aber eine gigantische Kompromissmaschine, von der die Union zusammengehalten wird. Mit dieser Kompromissmaschine wird die Transformation der EU aus einem Regelgeber und Regelbewirtschafter in eine handlungsfähige politische Macht nicht möglich sein. (Münkler, S. 383)

Die Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips innerhalb der EU ist einer der wenigen expliziten Handlungsvorschläge in Münklers Buch, durchaus aber mit dem ambitionierten Ziel, Europa als Großmacht zu etablieren. Dabei hat Münkler nicht die Illusion, dass die europäischen Nationalstaaten ihre Souveränität und ihre Eigeninteresse aufgeben. Für ihn ist ein geeintes Europa insbesondere für Deutschland mit seiner geopolitischen Lage in der Mitte des Kontinents zentral, um seine Interessen durchzusetzen. Mit dieser Geografie müsse es sich stets davor hüten, vom Zugang zum Weltmarkt abgeschnitten zu werden und in einen Zweifrontenkrieg zu geraten, wie die beiden gescheiterten Versuche im 20. Jahrhundert zeigten, nach der Weltmacht zu greifen. Für Deutschland komme es darauf an, die auseinander strebenden Tendenzen der Europäischen Union zu bändigen, dabei gegebenenfalls kurzfristige Eigeninteressen zurückzustellen, um den politischen Zusammenhalt zu stärken im Sinne der langfristigen deutschen Interessen.

In Münklers Vorstellung könne es auch einen Zirkel aus fünf Entscheidungsmächten geben, die den außenpolitischen Kurs der EU bestimmten: Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen. Jedenfalls könne es unter dem Druck der USA, Russlands und Chinas kein Weiter-So mehr geben. Ein schroffes Entweder-Oder bahne sich an: „[E]ntweder ein handlungsfähiger Akteur oder ein Platz in der zweiten Reihe, auf dem die Europäer hinnehmen müssen, was andere entschieden haben“ (Münkler, S. 383). 

Mit einer solchen Rolle könne sich die EU aber kaum begnügen, da die anderen Mächte Europa nicht in Ruhe lassen würden. Russlands Ziel sei ein zerstrittenes Europa, um seinen eigenen Einfluss Richtung Westen auszuweiten. China wolle sich an europäischen Märkten und Technologien bedienen. In den USA habe ein Teil der Republikanischen Partei kein Interesse an einem verbündeten, sondern an einem folgsamen Europa. Trump habe in seiner ersten Präsidentschaft eine Weltordnung von drei Akteuren vorgezogen – eine Koalition der USA mit Russland gegen China. Dieses Projekt nennt Münkler „auf ganzer Linie gescheitert“. 

Die Schwächen der großen Fünf

Über eine Rückkehr Trumps ins Weiße Haus spekuliert Münkler nicht; auch nicht über die Option, dass es eine pro-russische Politik unter Trump geben könnte, gerade im Falle der fortgesetzten Schwäche Europas. Welche Auswirkungen hätte dies auf den Ukraine-Krieg? Mit seinem Ermattungskrieg scheint Putin auf genau dieses Szenario zu setzen, in der Hoffnung, dass die USA die Militärhilfen für die Ukraine einstellen werden. Für Europa könnte dies bereits zu einem entscheidenden Wendepunkt werden, ob es willens und in der Lage sein wird, den Krieg mit eigenen Anstrengungen fortzusetzen und in Verhandlungen eine gewichtige Rolle einzunehmen – oder ob Moskau und Washington den Ausgang des Krieges über europäische Köpfe hinweg entscheiden, womöglich mit einer ruinierten Ukraine. Diese Perspektive könnte weitere schwelende Konfliktregionen entzünden, wie den Kaukasus und den Balkan.

Zurück zu Münkler: Angesichts seiner Schwächen müsse sich Europa „erheblich anstrengen“, um seinen Platz in der ersten Reihe einzunehmen. Doch auch für die anderen Mächte sieht Münkler große Schwierigkeiten: Für die USA diagnostiziert er eine „Selbstlähmung“ aufgrund der politischen Spaltung des Landes als zentrales Problem. China sehe sich mit möglichen ethnischen Konflikten sowie einem explosiven Subproletariat von Wanderarbeiter:innen konfrontiert. Russland wiederum habe kaum die nötige wirtschaftliche Substanz, um im Konzert der Mächte vorne mitzuspielen, seinen Einfluss sichere es sich vor allem durch sein Atomwaffenarsenal sowie militärische Interventionen. 

Damit die Konstellation stabil sein kann, braucht es nach Münkler eine Balancemacht. Die Gefahr bestehe, dass sie „notorisch überfordert“ ist. Nun soll ausgerechnet Indien diese Rolle einnehmen, das noch keineswegs als Weltmacht gelten kann. Das Land habe gewaltige Entwicklungspotenziale, die sich aber erst realisieren müssten. Die junge Bevölkerung dürfte in den kommenden Jahrzehnten zu einer wichtigen Ressource werden, während der Westen und auch China überaltern. Andererseits dürfte der Klimawandel Indien und seine Küsten besonders hart treffen. Hilfreich für Indiens Entwicklung könnte hingegen seine Rolle als „Zünglein an der Waage“ werden, umworben von den großen Mächten und in der Lage, kleinere Staaten in wechselnden Beziehungen gegenüber den beiden großen Blöcken anzuführen. So geht Münkler zum Beispiel davon aus, dass Europa einen Teil seines China-Geschäftes nach Indien verlagern wird, um sich aus der Abhängigkeit von China zu lösen.

Entsprechend prognostiziert Münkler, dass sich die bisher global verflochtenen Wirtschaftskreisläufe voneinander entkoppeln: 

Mit dem System der Fünf wird sich anstelle der zeitweilig erwarteten und auch erhofften global integrierten Wirtschaft ein Nebeneinander von mehreren ökonomisch hochgradig integrierten Großräumen entwickeln, die untereinander zwar Verbindungen haben, aber diese werden, verglichen mit der Integration im Innern dieser Räume, eher schwach und dünn sein. Jede Seite wird darauf achten, dass sie den Export von Hochtechnologie wie strategisch relevanten Rohstoffen, etwa Seltenen Erden, unter Kontrolle behält und gleichzeitig in beiden Bereichen strategische Autonomie aufbaut. (Münkler, S. 424)

Die Krise der liberalen Erzählung

Woher kommt diese Rivalität der Großmächte? Münkler beschreibt eine Gegenüberstellung des US-amerikanisch-europäischen Blocks und des russisch-chinesischen Blocks aufgrund ihrer Werte: liberale Demokratien versus autoritäre Systeme. Er geht allerdings nicht darauf ein, dass die weltweite Militarisierung einen heftigen Rechtsruck mit sich bringt, der die demokratischen Freiheiten untergräbt und die Tendenz zu bonapartistischen Lösungen auch im Westen stärkt. Die Rückkehr Trumps könnte ein Ausdruck davon sein.

Die liberale Erzählung lässt auch die Frage offen, wie es überhaupt zu dem Verlust der US-Dominanz kommen konnte, die Münkler mit einer Überdehnung des Imperiums infolge der neokonservativen Abenteuer in Afghanistan und dem Irak begründet. Zweifelsfrei ein zentraler Aspekt, der die Leser:innen aber noch nicht zufriedenstellen kann. Denn die inhärenten Widersprüche des neoliberalen Kapitalismus nimmt sich Münkler nicht vor. Im Gespräch mit der NZZ gibt er auf die Frage, ob China und Russland den Westen seit 2008 in einer ihn schwächenden Dauerkrise sähen, die bemerkenswerte Antwort: „Die Krise des Kapitalismus ist nicht besonders relevant.“ Er begründet dies damit, dass auch die Gegenseite keine fundamentale Alternative bieten würde mit dem Modell des chinesischen Staatskapitalismus, also einer Wirtschaft, die durch die dortige Parteibürokratie gelenkt wird. Münkler stellt die Staatsform – liberale Demokratie oder Diktatur – vor den Klassencharakter und leitet daraus ihre Handlungen ab:

Autoritäre Regime verfolgen in der Regel längerfristige Zielsetzungen als liberaldemokratische Ordnungen, sind dafür aber überwiegend an ihren eigenen Interessen orientiert und nicht an den Erfordernissen einer auf humanitäre Werte verpflichteten Weltordnung. (Münkler, S. 219)

Abgesehen davon, dass Münkler selbst anerkennt, dass diese humanitären Werte oftmals nicht eingehalten werden, attestiert er den demokratischen Ordnungen eine erhebliche Schwankungsbreite bis hin zu illiberalen Tendenzen. Wesentlich sei aber die „Rückbindung der Bürgerschaft“ an die politische Willensbildung, im Gegensatz zu den autokratischen Systemen, die von einer Bürokratie oder Technokratie geleitet würden. Demnach ist die liberale, wertegebundene Außenpolitik nicht in erster Linie eine humanitäre Weltanschauung, sondern sie ist der ideologische Ausdruck der bürgerlichen Interessen, die Welt nach ihrem Bedarf zu formen.

Um dies zu verstehen, lohnt wiederum ein Blick auf Marx und Engels, die bereits 1848 im Kommunistischen Manifest davon sprachen, dass die große Industrie den Weltmarkt hergestellt hatte. Die Bourgeoisie gestaltet die Welt nach den Erfordernissen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse: Gewinnung von Ressourcen in abhängigen Ländern, Mobilisierung von Arbeitskräften, Schaffung von Infrastruktur, Angebot, Nachfrage und Absatzmärkten, Etablierung von staatliche und zivilen Institutionen, Errichtung von Grenzen und Gewaltapparaten, ideologische Legitimationen und so weiter.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion schien das neoliberale Freihandelssystem unter der Führung der USA gewonnen zu haben. Ihr Niedergang lässt sich indes nicht hauptsächlich ideologisch begründen, wo doch China und Russland keineswegs ein attraktiveres System in den Augen der Massen zu bieten haben. Und auch die Betrachtung einer militärischen Überdehnung greift zu kurz, wenn sie nicht eingebettet ist in die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus als Ganzes.

Spieltheorie versus Imperialismustheorie

Im Kapital beschreiben Marx und Engels die Tendenz zur Konzentration der Kapitale durch Akkumulation von Profiten. Das Wachstum einzelner Unternehmen ist jedoch beschränkt durch die kapitalistische Konkurrenz. Sie wird teils aufgehoben durch die Zentralisation: „Zentralisation ist das Verschlucken der kleinen Kapitalisten durch die großen und Entkapitalisierung der ersteren.“1 Dieser Mechanismus von Konzentration und Zentralisation führt unweigerlich zu einer Dominanz von großen Unternehmungen, die den Markt unter sich aufteilen.

Wladimir Iljitsch Lenin argumentiert, dass zum Ende des 19. Jahrhunderts die Tendenzen zur Konzentration und Zentralisation soweit entfaltet waren, dass die großen Monopole eine beherrschende Stellung in Wirtschaft und Gesellschaft einnehmen. Die Staaten versuchen den Einfluss ihres Kapitals in der Welt zu sichern, wo nötig mit Gewalt – nach Lenin die Epoche des Imperialismus:

Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf jener Entwicklungsstufe, in der die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport hervorragende Bedeutung gewonnen, die Aufteilung der Welt durch die internationalen Trusts bereits begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde durch die größten kapitalistischen Länder abgeschlossen ist.

Lenin nutzt damit vor allem eine ökonomische Definition, auf deren Grundlage er die Tendenz des Imperialismus zum Krieg beschreibt: Das Finanzkapital verschmilzt mit dem Industriekapital und führt es an, die „freie“ Konkurrenz der kleinen und mittleren Betriebe weicht der Dominanz der Monopole, welche ihre Einflusssphären unter sich aufteilen. Sie verschärfen die bestehenden Ungleichgewichte an Produktivkräften und Kapitalakkumulation und geraten damit in Widerspruch zu den bestehenden Einflusszonen. Der nationale Rahmen und die beschränkte Kontrolle über wenige Kolonien behindern das Wachstum der Monopole, die sich unter der militärischen Macht ihrer Staaten in einem imperialistischen Raub- und Plünderungskrieg die Besitzungen anderer Staaten aneignen.

Den Ersten Weltkrieg bezeichnet er als einen Kampf um die (Neu-)Aufteilung der Welt. Haben die Entente und die Mittelmächte den Krieg in der Julikrise 1914 damit aktiv gesucht, um ihren Einfluss auszuweiten? Diese Debatte unter Historiker:innen bleibt bis heute aktuell, wie Münklers spieltheoretische Interpretation zeigt, nach der die britische Regierung den Krieg mit einem anderen Verhalten hätte eindämmen können.

Die Imperialismustheorie Lenins sucht die Erklärung für den Krieg nicht in erster Linie im Handeln der Akteure – auch wenn es im konkreten Fall große Unterschiede machen kann. Doch definiert sie die grundlegende Tendenz der Epoche, des modernen Monopolkapitalismus im Weltmaßstab, auf dessen wirtschaftlicher Grundlage: „[S]olange das Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht, [sind] imperialistische Kriege absolut unvermeidlich […].“

Krieg und Klassenkampf 

Unter der Annahme der Imperialismustheorie muss auch die Stabilität der Konstellation während des Kalten Krieges betrachtet und ein Stück weit relativiert werden. Die tiefe Krise des Kapitalismus 1929 hatte sich im Aufstieg des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges entladen. Der Wiederaufbau erlaubte einen nie dagewesenen Nachkriegsboom, der Ende der 1960er Jahre einbrach. Revolutionäre Aufstände und antikoloniale Befreiungsbewegungen erschütterten die darauffolgenden Jahre, ehe die Bourgeoisie mit der – keineswegs friedlichen – Durchsetzung des Neoliberalismus ab den 1980ern wieder in die Offensive gehen konnte. 

Die Bedingung hierfür war nicht zuletzt die konterrevolutionäre Rolle der stalinistischen Bürokratie, die schon im Zweiten Weltkrieg und auch später jede selbständige Regung der Arbeiter:innenbewegung unterdrückte, sei es durch den Einfluss der Kommunistischen Parteien im Westen oder den Ländern des Warschauer Pakts. Die Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse unter Duldung oder Unterstützung Moskaus erlaubten überhaupt erst die Stabilisierung des Kapitalismus, dem die Bürokratie mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Öffnung Chinas in den 1990ern gewaltige Märkte öffnete – die Etappe der bürgerlichen Restauration. Sie brachte Globalisierung des Handels, imperialistische Kriege in Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak, einen schwindelerregenden Finanzsektor, Vermögensungleichheit, die Neoliberalisierung der Arbeitswelt und die Individualisierung des Massenbewusstseins. Doch 2007/08 endete die Goldgräberstimmung mit der weltweiten Bankenkrise, die Welt geriet an die „Grenzen der bürgerlichen Restauration“ wie Emilio Albamonte und Matías Maiello schrieben. Der Kapitalismus offenbarte seine Schranken, „seine Reproduktion als System zu gewährleisten“.

Damit entstanden aber um 2011 herum auch neue Phänomene des Klassenkampfes: Die Generalstreiks in Griechenland, die Occupy-Bewegung, der sogenannte Arabische Frühling. Letzterer bildete den Anlass für diktatorische Regime und ausländische Mächte, zu militärischer Gewalt zu greifen wie in Libyen, Syrien, Irak. Besonders in Syrien entwickelte sich ein russisch-amerikanischer Stellvertreterkrieg. Diese Welle des Klassenkampfes endete in blutigen Niederlagen, doch ab 2018 gab es eine neue Reihe von Aufständen in Südostasien, im arabischen Raum und Nordafrika, in Lateinamerika und selbst in Frankreich mit den Gelbwesten und den USA mit Black Lives Matter.

Münkler verliert über all diese Bewegungen in seinem Buch kein Wort. Dabei geht er durchaus auf die historische Rolle ein, die die Massen spielten, wenn er der Englischen, Amerikanischen und Französischen Revolution „identitätskonstitutive Narrative“ beimisst – als Begründer der liberalen Ordnung, während er der Russischen Revolution den Platz als messianisches Erlösungsversprechen der Linken zuweist. Zur Rolle der Massen geht Münkler auf Carl von Clausewitz ein, der beschreibt, wie mit der „Entfesselung der Volkskraft“ durch die Französische Revolution das Gleichgewicht der Mächte auf europäischer Ebene für zwei Jahrzehnte abhanden kam, ehe ein neues Gleichgewicht hergestellt wurde. Doch hat das Volk bei Clausewitz eine Bedeutung als mobilisierbare Manövriermasse und nicht als eigenständiges politisches Subjekt.

Gemäß der Spieltheorie sind die Stimmungen im Volk allenfalls als Bonus- oder Kostenpunkt für außenpolitisches Handeln einzukalkulieren. So lassen sich bestimmte Entscheidungen prognostizieren. Aber das (Un-)Gleichgewicht der internationalen Ordnung steht in Zusammenhang mit sehr viel dynamischeren Faktoren. Berühmt wurde Marx‘ Formel in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Er beschreibt mit Verweis auf die 1848er Revolution, wie brüchig die bürgerliche Herrschaft ist angesichts des Aufschwungs des Proletariats. In Frankreich konnte dieser nur durch den Staatsstreich des Louis Napoleon gebremst werden. Die Klassenwidersprüche werden in dieser Logik zum treibenden Faktor der Geschichte. Auf das Verhältnis der Klassen zu Geopolitik und Wirtschaft ging Leo Trotzki im Eingangsreferat zum Weltkongress der III. Internationale 1921 ein:

Das Gleichgewicht des Kapitalismus ist eine sehr komplizierte Erscheinung: der Kapitalismus erzeugt dieses Gleichgewicht, stört es, stellt es wieder her und stört es von Neuem, indem er zugleich den Rahmen seiner Herrschaft erweitert. Auf dem Wirtschaftsgebiete bilden solche beständigen Störungen und Wiederherstellungen die Krisen- und Prosperitätsperioden. In den Beziehungen zwischen den Klassen nimmt die Störung des Gleichgewichtes die Form von Streiks, Aussperrungen, revolutionärem Kampfe an. In den Beziehungen zwischen den Staaten sind die Gleichgewichtsstörungen: Krieg oder in schwächerer Form wirtschaftlicher Zollkrieg oder Blockade. Der Kapitalismus hat also ein bewegliches Gleichgewicht, das stets entweder gestört oder wiederhergestellt wird. Zugleich aber besitzt dieses Gleichgewicht eine große Widerstandskraft; der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass die kapitalistische Welt bis jetzt nicht zusammengebrochen ist. 

Die Rückkehr der Revolutionen

Der Marxismus betrachtet Geopolitik, Wirtschaft und Klassenkampf als dialektische Einheit. Das heißt nicht, dass in jeder Situation diese drei Faktoren gleichermaßen entwickelt sind. Trotz mancher Revolten in den letzten Jahren ist der Klassenkampf aktuell das am schwächsten ausgeprägte Element. Trotz allmählich rückkehrender Kampferfahrungen ist das Massenbewusstsein zersplittert und die revolutionäre Tradition weitgehend verloren gegangen. Eine Gegentendenz sehen wir in Argentinien, wo die Avantgarde der Arbeiter:innenbewegung mithilfe trotzkistischer Organisationen den Kampf gegen die extrem rechte  Regierung von Javier Milei führt. Es braucht weltweit solche Kräfte, um nicht nur die Verteidigung gegen Rechts zu führen, sondern auch, um die Vision des Sozialismus wieder in die allgemeine Vorstellungskraft zurückzubringen.

Der Stalinismus hat die Idee vom Kommunismus nachhaltig in den Dreck gezogen. Doch angesichts der immer stärker zu Tage tretenden Widersprüche des Kapitalismus, seiner Aufrüstung, seines Rechtsrucks und der Rückkehr der Kriege auf zwischenstaatlicher Ebene ins Zentrum des Weltgeschehens, ist auch der Liberalismus ideologisch infrage gestellt. Der Umbruch, den wir vom unipolaren zu einem multipolaren oder anarchischen Weltsystem erleben, muss zwangsläufig auch alte Gewissheiten zerstören. Die Krise der etablierten Parteien wird sich verstärken, während faschistische Ideen wieder Attraktivität erfahren als reaktionäre Schein-Antwort auf die Welt in Aufruhr.

Es fehlt heute eine hegemoniale Ideologie, die in der Lage wäre, einer neuen Weltordnung Legitimität zu geben. Nach der Krise von 2008 sind die Möglichkeiten der „friedlichen“ Kapitalakkumulation erschöpft. Eine neue wirtschaftliche Stabilität ist nicht in Sicht. Ohne sie ist fraglich, ob sich Münklers Ordnung der Fünf etablieren kann. Mit der Klimakatastrophe, der chinesisch-amerikanischen Rivalität und einem Berg an Altlasten aus der Ära der bürgerlichen Restauration steht sie vor unvergleichlich schwierigeren Herausforderungen als die Pentarchie im alten Europa zu bewerkstelligen hatte. Es ist kein Zufall, dass diese genau in dem weltgeschichtlichen Moment im Inferno von zwei Weltkriegen zerbrach, als der Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium eintrat; ein Stadium der Fäulnis, das sich nur durch Raub und Gewalt erhalten kann. Schon jetzt sieht Münkler den Weg zur Etablierung der neuen Ordnung in Aufrüstung – ein Weg, der eher einen Dritten Weltkrieg vorbereiten als Frieden schaffen dürfte.

Der Verfall der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Abbau sozialer und demokratischer Errungenschaften, dem Erstarken der extremen Rechten und der Tendenz zu zunehmenden Kriegen wird aber auch die Abwehr der weltweiten Arbeiter:innenklasse hervorrufen. Der Klassenkampf wird also zwangsläufig wieder eine entscheidende Rolle in der Weltgeschichte einnehmen. Nicht die Politstrategen der Großmächte werden die Rückkehr des Faschismus und einen Dritten Weltkrieg verhindern. Die Zukunft wird davon abhängen, ob es der Arbeiter:innenbewegung gelingt, eine eigenständige politische Rolle einzunehmen, die die Perspektive der Revolution wieder öffnet.

Herfried Münkler: Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.

Fußnoten

  1. 1. Karl Marx und Friedrich Engels: Das Kapital, Bd. III, in: Dies.: Werke, Band 25, Dietz Verlag, Berlin 1983, S. 256.

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