Was wir in der Betreuungskrise von den Bolschewiki lernen können. Ein Exkurs

06.03.2021, Lesezeit 6 Min.
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Sowjetische Kinderbetreuungspropaganda, 1930. Links: "Ich langweile mich zuhause." Rechts: "Ich bin fröhlich im Kindergarten!" Quelle: Flickr.

Die Frage der Vergesellschaftung der Hausarbeit hat bei Sozialist:innen Tradition. Gerade in der Pandemie lohnt ein Blick zurück.

Die Pandemie betrifft seit über einem Jahr alle Bereiche unseres Lebens. Auf den Familien lastete dabei mit Distanzunterricht und Kitaschließung eine besondere Last. Die Pandemie verschärfte auch hier Probleme, die bereits vorher bestanden hatten. Wie also sollte die Betreuungsarbeit verteilt sein? Die Bolschewiki gaben darauf vor über einhundert Jahren eine klare Antwort: Nicht die Familien sollen in der Pflicht sein, sondern der Staat.

Die Bolschewiki waren längst nicht die ersten Sozialist:innen, die sich die Vergesellschaftung der Hausarbeit zum Ziel gesetzt hatten. Bereits im utopischen Sozialismus war die Frage aufgeworfen worden. In den alternativen Gemeinschaften nach den Ideen Charles Fouriers oder Robert Owens sollten sowohl die Unterkünfte als auch die Reproduktionsarbeit gemeinschaftlich sein. Allerdings stellten die Utopist:innen der ersten Jahrzehnte der 19. Jahrhunderts die geschlechtliche Arbeitsteilung nicht grundsätzlich in Frage. So sollte die Hausarbeit zwar gemeinschaftlich, aber immer noch von Frauen verrichtet werden. Auch Karl Marx und Friedrich Engels griffen die Frage bereits in ihrem Frühwerk „Die Deutsche Ideologie“ auf, in dem sie sich für eine „gemeinschaftliche Hauswirtschaft“ auf Grundlage der Entwicklung der Produktivkräfte aussprachen.1

Auf dieses Erbe bezogen sich die Bolschewiki. Sie verstanden die Vergesellschaftung der Hausarbeit als einen zentralen Punkt ihres Programms der Frauenbefreiung. Ihrer Vision lagen eine Reihe von Prinzipien zugrunde:

Das erste Prinzip ist, dass die Emanzipation der Frauen eine zentrale Aufgabe der Revolution und keine Nebensache ist. Das zweite Prinzip besagt, dass die Frauen sich nur durch den Einbezug in die gesellschaftliche Produktion emanzipieren können und nicht durch rechtliche Anerkennung des Wertes der in der kapitalistischen Gesellschaft geringgeschätzten Hausarbeit. Und zuletzt, dass die Abschaffung der Hausarbeit die Voraussetzung dafür ist, dass die Frauen ins öffentliche Leben einbezogen werden können.2

Für den revolutionären Flügel der Arbeiter:innenbewegung war die Vergesellschaftung der Hausarbeit stets ein so selbstverständlicher Teil des Programms, dass Trotzki 1923 in „Fragen des Alltagslebens“ davon sprach, dass die Familien von Kindererziehung, Küche und Waschküche, „wie es sich gehört“, entlastet werden müssten.3 Die Russische Revolution ist das klassische Beispiel, wie erste Schritte in Richtung der Verwirklichung dieses Programms gegangen werden konnten. Kindertagesstätten, Krippen und Schule wurden geschaffen. Aber auch in späteren revolutionären Aufschwüngen wurde die Frage immer wieder aufgeworfen. Raquel Varela beschreibt in ihrem Buch „A People’s History of the Portuguese Revolution“, wie Arbeiter:innen in der Nelkenrevolution den Mangel an Kinderbetreuung selbst in die Hand nahmen:

In Nova Oeiras, einem Vorort von Lissabon, beklagte die Bevölkerung den Mangel an Kindertagesstätten. Die bestehenden Einrichtungen kosteten 1.500 Escudos im Monat, was mit einem Arbeiter:innenlohn völlig unbezahlbar war. Sie entschieden sich also, ein leerstehendes Haus zu besetzen: ‚Wir begannen unseren Kampf für diese Kindertagesstätte, um den Menschen zu helfen. […] In nur zwei Tagen wurden 23 Kinder angemeldet, im Alter zwischen einem Monat und sechs Jahren.‘4

Für Marxist:innen konnte diese Frage jedoch nie von anderen Fragen der Analyse oder des Programms insgesamt losgelöst sein oder sich auf ambitionierte Formulierungen beschränken. In dem oben erwähnten Text verweist Trotzki auf die Notwendigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung des jungen Sowjetstaates, um eine Vergesellschaftung der Hausarbeit und der Betreuung leisten zu können. Denn die Maßnahmen zur Vergesellschaftung der Hausarbeit in der jungen Sowjetunion waren in den ersten Jahren zwar von einer starken Vision geprägt gewesen. In der Praxis jedoch war der junge Staat gezwungen, mit den Auswirkungen der wirtschaftlichen Zerrüttung durch den Weltkrieg und den folgenden Bürgerkrieg fertig zu werden. Vergesellschaftung der Hausarbeit bedeutete vor allem den verzweifelten Versuch, hunderttausende Waisen und obdachlos gewordene Kinder in staatlichen Einrichtungen zu versorgen. Mit der durch die widrigen Umstände erzwungenen Wiedereinführung beschränkter Marktmechanismen in der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) nach 1921 ging schließlich auch eine Beschränkung staatlicher Mittel für die Unterbringung und Betreuung von Kindern einher. Wendy Goldman fasst diese widersprüchliche Situation in „Women, the State and Revolution“ so zusammen:

Der Einsatz für sozialisierte Kindererziehung existierte auch 1926 noch, doch er konnte nicht umgesetzt werden. Die praktischen Lehren der sozialen Wohlfahrtspolitik wurden unter harten Bedingungen entwickelt, aufgezwungen durch eine ruinierte Wirtschaft. […] Die anhaltende Weigerung von Erzieher:innen und Rechtsgelehrten während der 1920er Jahre, Strafen gegen Jugendkriminalität anzuwenden, und ihre Unterstützung für rehabilitierende, progressive, kindzentrierte Institutionen legt Zeugnis ab von der Stärke dieser früheren Visionen.5

Die widrigen Bedingungen des Bürgerkriegs und der internationalen Isolation setzten nicht nur der Umsetzung der bolschewistischen Vision enge Grenzen. Sie leisteten auch der Bürokratisierung des jungen Staats Vorschub, die mit der Figur Josef Stalins verbunden ist. Der Stalinismus vertrat in Fragen des Geschlechts eine zunehmend konservative Position. 1936 erklärte Stalin: „Die sowjetische Frau hat dieselben Rechte wie der Mann, aber das entbindet sie nicht von der großen und edlen Pflicht, die die Natur ihr auferlegt hat: Sie ist Mutter, sie schenkt Leben.“6 Fortschritte in der Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit wurden zunichte gemacht, Frauen in ihrer Rolle als Mütter glorifiziert. 1944 wurde in der Sowjetunion der Titel der „Heldenmutter“ für Frauen mit zehn oder mehr Kindern eingeführt.

1918/19 war es u.a. eine Typhusepidemie gewesen, mit der die junge Sowjetmacht zu kämpfen gehabt hatte. In einer durch Hunger geschwächten Bevölkerung fielen ihr rund 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. Die Pandemie, die wir derzeit durchleben, hat nicht dieselbe tödliche Kraft entwickelt. Doch auch heute befinden wir uns in einer Ausnahmesituation. Die Voraussetzung echter Vergesellschaftung ist die gemeinschaftliche Arbeit, der zwischenmenschliche Kontakt. Wie kann das funktionieren, wenn die Eindämmung der Pandemie die Einschränkung ebensolcher Kontakte erfordert? Wie können Schritte zu einer tatsächlichen Vergesellschaftung der Betreuung unter den pandemischen Bedingungen der Gegenwart unternommen werden? Der Artikel „Betreuung in Zeiten der Pandemie“ aus der aktuellen Nummer des Klasse Gegen Klasse Magazins sucht nach Antworten in der Betreuungskrise.

Fußnoten

1. Karl Marx und Friedrich Engels (1969): Die Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, Berlin, S. 5 – 530, online abrufbar bei MLWerke.de

2. Andrea D’Atri (2019): Brot und Rosen. Geschlecht und Klasse im Kapitalismus, Hamburg, Argument, S. 139.

3. Leo Trotzki (1923): Von der alten Familie – zur neuen, in: Ders.: Fragen des Alltagslebens, Hamburg, online abrufbar bei Sozialistische Klassiker 2.0

4. Raquel Varela (2019): A People’s History of the Portuguese Revolution, London, Pluto Press, S. 129. Eigene Übersetzung.

5. Wendy Goldman (1993): Women, the State and Revolution. Soviet Family Policy and Social Life, 1917-1936, Cambridge, S. 100. Eigene Übersetzung.

6. Zitiert nach D’Atri: Brot und Rosen, S. 147.

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