Was steht hinter den Massendemonstrationen in Rumänien?

10.02.2017, Lesezeit 6 Min.
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Seit einer Woche finden die größten Proteste seit 1989 in Rumänien statt. Sie richten sich gegen die Regierung und ihren Vorstoß, Anti-Korruptionsgesetze zu lockern. Doch was steckt hinter den massiven Mobilisierungen?

Selbst das scheinbare Einlenken hielt sie nicht auf: Seit nun schon mehr als einer Woche beteiligen sich in ganz Rumänien Hunderttausende an der größten Protestwelle seit dem Sturz von Nicolae Ceaucescu 1989. Auslöser war das Dekret der Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Sorin Grindeanu, der die Strafen für „leichten“ Amtsmissbrauch und Korruption aufheben wollte. Darunter fallen Hunderte verurteilte Politiker*innen, auch der Vorsitzende der regierenden Sozialdemokratie, Liviu Dragnea. Eine Maßnahme zum Schutz der politischen Kaste und zur Legalisierung der verbreiteten Korruption.

Auf die Aussage hin versammelten sich seit vergangenem Dienstag immer wieder Zehn- bis Hunderttausende im Zentrum der Hauptstadt Bukarest und dutzenden weiteren Städten. Die Forderungen der Demonstrant*innen gingen schnell von der Rücknahme des Gesetzes bis zum Rücktritt der Regierung über. Der regierungskritische Präsident Klaus Iohannis, die Orthodoxe Kirche und die EU versuchten daraufhin, den Protest für sich zu vereinnahmen.

Doch auch nachdem die Regierung am Wochenende die Rücknahme des Dekrets und die Erstellung eines neuen Gesetzesentwurfs ankündigte, gingen die Proteste weiter. So fanden am Sonntag die bisher größten Proteste mit mehr als 500.000 Menschen im ganzen Land und alleine 300.000 in Bukarest. Diese Chronologie deutet darauf hin, dass die aktuelle Regierungskrise strukturelle Grundlagen in dem Aufbau der kapitalistischen Regime der osteuropäischen Länder hat.

Wir zitieren deshalb aus einer Artikelreihe aus dem Sommer 2015 über Massenmobilisierungen, politische Krise und Kapitalismus in Osteuropa (Teil eins und Teil zwei), die sich mit den Ursachen verschiedenster Mobilisierungen in den letzten Jahren auseinandersetzt.

Meistens entstand der Unmut aufgrund punktueller Probleme – wie der Erhöhung der Elektrizitätspreise, harter Repression, Korruptionsskandale, vermuteter Wahlfälschung –, wurde jedoch sehr schnell zu einer Infragestellung der politischen Elite.

Diese Bewegungen haben enge Grenzen. Doch die Massen aus der Region machen es sich mit der Zeit zur „Gewohnheit“, gegen ihre korrupten und repressiven Regierungen zur direkten Aktion und zum Straßenkampf zu greifen. Es ist offensichtlich, dass die Massenmobilisierungen gegen die Angriffe der Kapitalist*innen in Südeuropa und in Nordafrika Osteuropa mit diesem „Virus“ angesteckt haben.

Dieses Element unterscheidet sie von den sogenannten „Farbenrevolutionen“, die von NGOs und imperialistischen Stiftungen angetrieben wurden, um pro-westliche Regierungen an die Macht zu bringen. Natürlich versuchen die Imperialist*innen trotzdem durch ihre internationalen Institutionen, Stiftungen und politische Verbündete der lokalen Zivilgesellschaft, die Unzufriedenheit der Massen in Richtung ihrer eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen zu lenken – wofür der ukrainische Fall emblematisch ist.

Diese neue Tendenz der Massenmobilisierungen in Osteuropa drückt den Beginn einer Veränderung in der Kampfbereitschaft der Massen aus. Das wird besonders deutlich, wenn wir die große Demoralisierung und den Vertrauensverlust in die kollektive Kampfkraft der Arbeiter*innenbewegung betrachten, die sich in der Region in den 1990er-Jahren und zu Beginn der 2000er ausweitete. Natürlich wiegt das Erbe der stalinistischen Periode und des Prozesses der kapitalistischen Restauration immer noch schwer; sie bedeuteten einen tiefgreifenden sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rückschritt. Das deuten die objektiven und subjektiven Grenzen der aktuellen Mobilisierungen an. Aber es ist genauso wichtig im Auge zu behalten, was der aktuelle Wandel in Bezug auf die Möglichkeiten der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten in der Region bedeuten kann.

In den Ländern des „ehemaligen sozialistischen Blocks“, dessen Staaten wir korrekter als ehemalige bürokratisierte Arbeiter*innenstaaten bezeichnen, bedeutete die Wiedereinführung des Kapitalismus einen großen Rückschlag für die Lebensbedingungen der Massen: Privatisierungen, mafiös und legal, die zu Fabrikschließungen und massiven Entlassungen führten. Im ehemaligen Jugoslawien löste die Restauration zudem die blutigste Auseinandersetzung auf dem europäischen Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg aus.
Der Restaurationsprozess fand zeitgleich mit der Einführung von bürgerlich-demokratischen Regimes statt. Dies war ein weiteres wichtiges Element der politischen Propaganda, die neoliberalen Kapitalismus und „Demokratie“ gleichsetzte, den Kommunismus und jegliches nicht bürgerlich-demokratisches Regime dagegen mit Totalitarismus und Diktatur.

Die bürgerlich-demokratischen Regimes in den ehemals bürokratisierten Arbeiter*innenstaaten waren jedoch selbst von bürgerlichem Gesichtspunkt her von sehr geringer Qualität. Der verkommene Charakter ihrer „Demokratien“ lässt sich nicht nur an ihrer endemischen Korruption und ihrem Klientelismus erkennen, sondern an der Qualität ihrer Institutionen selbst. Der sogenannte „Rechtsstaat“ ist in diesen Ländern sehr schwach. Nicht nur die Arbeiter*innen, sondern die Massen insgesamt können nicht in die Institutionen des Staates wie Justiz oder Parlament vertrauen, die den Regierungen und Oligarch*innen vollkommen untergeordnet sind.

Die Komplizenschaft zwischen der Justiz und den großen lokalen und multinationalen Unternehmen ist vollkommen offen und skrupellos. Den Arbeiter*innen ist klar, dass die Justiz ihnen in Sachen der ständigen Verstöße gegen die ohnehin schon geringen Arbeitsrechte nicht helfen wird.

Die direkte Verbindung zwischen Bourgeoisie und Staat spiegelt sich in vielen Fällen darin wider, dass Magnat*innen Abgeordnete oder Minister*innen sind. Im ukrainischen Fall ist der aktuelle Präsident Petro Poroschenko Boss einer großen Süßwarenkette. Die lokale Bourgeoisie, die vor allem aus dem ehemaligen bürokratischen Apparat des Stalinismus stammt, übt in vielen Fällen direkt die politische Macht aus. Die totale Kontrolle über die großen Kommunikationsmedien durch Oligarch*innen-Gruppen, die mit der Regierung und dem Imperialismus verbunden sind, tut ihr übriges, nicht zu sprechen von den direkten Repressionsfällen gegen oppositionelle oder kritische Journalist*innen.

Auch wenn die Ablehnung der politischen Kaste sich in immer mehr Ländern auf der Welt verbreitet und durch die Krise stark zunahm, muss im Fall von Osteuropa eine wichtige Besonderheit hervorgehoben werden: Da die politischen Regimes in den letzten 25 Jahren in Form von „demokratischen Konterrevolutionen“ und bürgerlichen Restaurationen eingeführt wurden, ist die Infragestellung der politischen Parteien und der Regierungen direkt mit dem Prozess der Wiedereinführung des Kapitalismus verbunden. Die politische Kaste, im Sessel seit Beginn der 90er, kann nicht einfach infrage gestellt werden, ohne auch die Privatisierungen, die Fabrikschließungen, die Entlassungen, die Zerstörung des öffentlichen Dienstes, den Verlust sozialer Errungenschaften und die Verschlechterung der Lebensbedingungen zu hinterfragen.

Das bedeutet natürlich nicht, dass die Massenmobilisierungen in den ehemaligen bürokratisierten Arbeiter*innenstaaten in Osteuropa mechanisch zu einer Infragestellung des Kapitalismus führen. Es gibt aber sehr wohl eine Tendenz zur Verbindung zwischen Fragen des politischen Regimes und der wirtschaftlichen Ordnung, fast als wären sie ein und dasselbe.

Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Tendenzen in Rumänien weiter entwickeln werden. Doch alles deutet daraufhin, dass die aktuelle Regierungskrise und Massenmobilisierungen gekommen sind, um zu bleiben.

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