Massenmobilisierungen, politische Krise und Kapitalismus in Osteuropa

02.07.2015, Lesezeit 9 Min.
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// OSTEUROPA: Die aktuelle politische Krise in Mazedonien, wo Tausende auf den Straßen den Rücktritt der Regierung fordern, verwundert auf den ersten Blick. Tatsächlich reiht sich Mazedonien damit in eine Serie von politischen und sozialen Krisen ein, die die Region seit Beginn der Weltwirtschaftskrise erschüttern. Ist die soziale und politische Instabilität der Region, die die westlichen Bourgeoisien zu besorgen beginnt, das Ende einer Periode des Stillstandes der Massen? //

In den letzten Krisenjahren erlebten wir Mobilisierungen in Ländern wie Slowenien, Bulgarien, Rumänien, Ukraine, Bosnien-Herzegowina oder Moldavien. Auch in Ungarn, Kroatien, Montenegro und Albanien gab es Demonstrationen.

Sie alle hatten, wie ihre Krisen, verschiedene Tiefen und Intensitäten. In einigen Fällen konnten die Massen lokale oder nationale Regierungen umstoßen, in anderen waren sie nicht stark genug. Die Ukraine-Krise, auch wenn sie Teil der Konfliktserie der Region ist, muss wegen ihrer Schwere und geopolitischen Konsequenzen gesondert betrachtet werden.

In sonst all diesen Fällen haben sich ähnliche Prozesse abgespielt. Meistens entstand der Unmut aufgrund punktueller Problemen – wie der Erhöhung der Elektrizitätspreise, harter Repression, Korruptionsskandale, vermuteter Wahlfälschung –, wurde jedoch sehr schnell zu einer Infragestellung der politischen Elite.

Diese Bewegungen haben enge Grenzen. Doch die Massen aus der Region machen es sich mit der Zeit zur „Gewohnheit“, gegen ihre korrupten und repressiven Regierungen zur direkten Aktion und zum Straßenkampf zu greifen. Es ist offensichtlich, dass die Massenmobilisierungen gegen die Angriffe der KapitalistInnen in Südeuropa und in Nordafrika Osteuropa mit diesem „Virus“ angesteckt haben.

Dieses Element unterscheidet sie von den sogenannten „Farbenrevolutionen“, die von NGOs und imperialistischen Stiftungen angetrieben wurden, um pro-westliche Regierungen an die Macht zu bringen. Natürlich versuchen die ImperialistInnen trotzdem durch ihre internationalen Institutionen, Stiftungen und politische Verbündete der lokalen „Zivilgesellschaft, die Unzufriedenheit der Massen in Richtung ihrer eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen zu lenken – wofür der ukrainische Fall emblematisch ist.

Diese neue Tendenz der Massenmobilisierungen in Osteuropa drückt den Beginn einer Veränderung in der Kampfbereitschaft der Massen aus. Das wird besonders deutlich, wenn wir die große Demoralisierung und den Vertrauensverlust in die kollektive Kampfkraft der ArbeiterInnenbewegung betrachten, die sich in der Region in den 1990er-Jahren und zu Beginn der 2000er ausweitete. Natürlich wiegt das Erbe der stalinistischen Periode und des Prozesses der kapitalistischen Restauration immer noch schwer; sie bedeuteten einen tiefgreifenden sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rückschritt. Das deuten die objektiven und subjektiven Grenzen der aktuellen Mobilisierungen an. Aber es ist genauso wichtig im Auge zu behalten, was der aktuelle Wandel in Bezug auf die Möglichkeiten der ArbeiterInnenklasse und der Unterdrückten in der Region bedeuten kann.

Kapitalistische Restauration und verkommene bürgerliche Demokratie

Die neue Situation der sozialen Agitation steht in direktem Widerspruch zu der vorherigen Periode des bürgerlichen Triumphes, in der der Imperialismus die kapitalistische Restauration im ehemaligen „Sowjetblock“ als ein zentrales Propagandaelement benutzte. Die kapitalistische Restauration in Osteuropa war eine der größten Siege des Kapitalismus im 20. Jahrhundert, deren Konsequenzen noch heute nachhallen.

In den Ländern des „ehemaligen sozialistischen Blocks“, dessen Staaten wir korrekter als ehemalige bürokratisierte ArbeiterInnenstaaten bezeichnen, bedeutete die Wiedereinführung des Kapitalismus einen großen Rückschlag für die Lebensbedingungen der Massen: Privatisierungen, mafiös und legal, die zu Fabrikschließungen und massiven Entlassungen führten. Im ehemaligen Jugoslawien löste die Restauration zudem die blutigste Auseinandersetzung auf dem europäischen Kontinent nach dem Zweiten Weltkrieg aus.

Der Restaurationsprozess fand zeitgleich mit der Einführung von bürgerlich-demokratischen Regimes statt. Dies war ein weiteres wichtiges Element der politischen Propaganda, die neoliberalen Kapitalismus und „Demokratie“ gleichsetzte, den Kommunismus und jegliches nicht bürgerlich-demokratisches Regime dagegen mit Totalitarismus und Diktatur.

Die bürgerlich-demokratischen Regimes in den ehemals bürokratisierten ArbeiterInnenstaaten waren jedoch selbst von bürgerlichem Gesichtspunkt her von sehr geringer Qualität. Der verkommene Charakter ihrer „Demokratien“ lässt sich nicht nur an ihrer endemischen Korruption und ihrem Klientelismus erkennen, sondern an der Qualität ihrer Institutionen selbst. Der sogenannte „Rechtsstaat“ ist in diesen Ländern sehr schwach. Nicht nur die ArbeiterInnen, sondern die Massen insgesamt können nicht in die Institutionen des Staates wie Justiz oder Parlament vertrauen, die den Regierungen und OligarchInnen vollkommen untergeordnet sind.

Die Komplizenschaft zwischen der Justiz und den großen lokalen und multinationalen Unternehmen ist vollkommen offen und skrupellos. Den ArbeiterInnen ist klar, dass die Justiz ihnen in Sachen der ständigen Verstöße gegen die ohnehin schon geringen Arbeitsrechte helfen wird.

Die direkte Verbindung zwischen Bourgeoisie und Staat spiegelt sich in vielen Fällen darin wider, dass MagnatInnen Abgeordnete oder Minister sind. Im ukrainischen Fall ist der aktuelle Präsident Petro Poroschenko Boss einer großen Süßwarenkette. Die lokale Bourgeoisie, die vor allem aus dem ehemaligen bürokratischen Apparat des Stalinismus stammt, übt in vielen Fällen direkt die politische Macht aus. Die totale Kontrolle über die großen Kommunikationsmedien durch OligarchInnen-Gruppen, die mit der Regierung und dem Imperialismus verbunden sind, tut ihr übriges, nicht zu sprechen von den direkten Repressionsfällen gegen oppositionelle oder kritische JournalistInnen.

Diese Situation bedeutet selbst für die Bourgeoisie ein großes Problem. Die grassierende Korruption und das Fehlen minimaler Unabhängigkeit von den Institutionen des Staates, den Regierungen und den lokalen herrschenden Klassen ist die Grundlage für die Legitimitätskrisen des Staates. Krisen können nicht nur von den ArbeiterInnen ausgelöst werden, sondern selbst aus den privilegiertesten Schichten der Mittelklassen kommen. Deshalb fordern die NGOs, imperialistische AnführerInnen und Stiftungen die Stärkung des „Rechtsstaates“ und den Kampf gegen die Korruption mit solchem Nachdruck.

Weltwirtschaftskrise und Krise des bürgerlichen Siegesgeheuls

Die 2007 bis 2008 begonnene Wirtschaftskrise ist eine historische Krise des Kapitalismus. Sie betrifft zentrale imperialistische Länder wie die USA und zahlreiche Mächte der Europäischen Union, auch wenn periphere Staaten wie Griechenland, det Spanische Staat, Portugal und Irland an härtesten getroffen wurden. Auch die halbkolonialen Länder am Rande der EU bekamen die Krise stark zu spüren.

Durch die Angriffe der KapitalistInnen in Form von Sparprogrammen verwandelte sich die Wirtschaftskrise in zahlreichen Ländern in eine soziale und politische Krise. In Griechenland und dem Spanischen Staat wurde die Wirtschaftskrise zu einer Krise des politischen Regimes.

Das war auch der Fall in zahlreichen arabischen Ländern im Norden Afrikas, wo der revolutionäre Prozess den Fall von Diktatoren, die Jahrzehnte lang an der Macht waren, bedeutete: Ben Ali in Tunesien, Ghaddafi in Libyen, Mubarak in Ägypten. Auch wenn diese Prozesse wichtige Rückschläge hinnehmen mussten, sind sie immer noch offen.

Diese Kämpfe und Krisen sind ein harter Schlag für das bürgerliche Siegesgeheul weltweit. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Imperialismus in den 90ern vom „Ende der Geschichte“ sprach und es „keine Alternative“ zur bürgerlichen Demokratie und zum Kapitalismus gab.

Die Krise der EU und der „alten Demokratien“ ist ein ergänzendes Element der Krise. Die großen Leiden, die die „europäischen Partner“ den Massen von Griechenland und anderen Ländern aufzwingen, und der immer bonapartistischere Kurs der Gesamtheit der politischen Regimes des Kontinents macht die „europäische Perspektive“ für die Massen aus dem europäischen Hinterhof immer unattraktiver.

Keiner der osteuropäischen Aufstände hatte die „europäische Integration“ als zentrale Forderung. Selbst in der Ukraine wurde diese zu Beginn zentrale Forderung schnell durch die Verurteilung der korrupten und repressiven Regierung von Viktor Janukowitsch ersetzt, bevor eine pro-imperialistischen Regierung in Kiew an die Macht kam und der Konflikt die Formen eines BürgerInnenkriegs annahm.

Auch wenn die Ablehnung der politischen Kaste sich in immer mehr Ländern auf der Welt verbreitet und durch die Krise stark zunahm, muss im Fall von Osteuropa eine wichtige Besonderheit hervorgehoben werden: Da die politischen Regimes in den letzten 25 Jahren in Form von „demokratischen Konterrevolutionen“ und bürgerlichen Restaurationen eingeführt wurden, ist die Infragestellung der politischen Parteien und der Regierungen direkt mit dem Prozess der Wiedereinführung des Kapitalismus verbunden. Die politische Kaste, im Sessel seit Beginn der 90er, kann nicht einfach infrage gestellt werden, ohne auch die Privatisierungen, die Fabrikschließungen, die Entlassungen, die Zerstörung des öffentlichen Dienstes, den Verlust sozialer Errungenschaften und die Verschlechterung der Lebensbedingungen zu hinterfragen.

Das bedeutet natürlich nicht, dass die Massenmobilisierungen in den ehemaligen bürokratisierten ArbeiterInnenstaaten in Osteuropa mechanisch zu einer Infragestellung des Kapitalismus führen. Es gibt aber sehr wohl eine Tendenz zur Verbindung zwischen Fragen des politischen Regimes und der wirtschaftlichen Ordnung, fast als wären sie ein und dasselbe. So nahmen die Mobilisierungen der vergangenen Jahren zusammen mit der Forderung nach dem Rücktritt dieser oder jener Regierung gleichzeitig die nach einer Rücknahme der Privatisierungen der letzten Jahrzehnte in sich auf: Im Fall von Bulgarien 2013 forderten die DemonstrantInnen angesichts der Erhöhung der Strompreise die Renationalisierung der Strom-Unternehmen und sogar die Rücknahme aller Privatisierungen, die vor 25 Jahren vorgenommen wurden. Während der sozialen Explosion in Bosnien-Herzegowina im Februar 2014 war sogar von der Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle von bestimmten Fabriken die Rede, zusammen mit anderen ArbeiterInnenforderungen.

Zweiter Teil und letzter Teil der Artikelserie, die zuerst auf LaIzquierdaDiario publiziert wurde, erscheint morgen.

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