Was steht hinter dem Attentat auf den russischen Botschafter in der Türkei?

22.12.2016, Lesezeit 6 Min.
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Am Abend des 19. Dezembers ist Andrej Karlow, russischer Botschafter in Ankara, bei einem Angriff getötet worden. Es eröffnet eine neue Epoche für das türkische Regime und seine außenpolitische Orientierung.

Der Angriff geschah während einer Ausstellungseröffnung über die russische Provinz Kamtschatka. Kurz nach dem Beginn der Rede von Karlow feuerte ein Mann in Anzug von hinten auf den russischen Botschafter Schüsse ab. Danach hob er seinen Zeigefinger hoch und begann zunächst auf Arabisch, dann auf Türkisch rachemotivierte Losungen aufzurufen: „Allahu Akbar“ (Gott ist der Größte), „Vergesst nicht Aleppo“, „Nur der Tod wird mich wird mich von hier wegholen“, „Jeder, der an dieser Grausamkeit Teil hat, wird einzeln Rechenschaft leisten“.

Bumerangeffekt: Der syrische Krieg kommt in der Türkei an

Die Rückeroberung Allepos von islamistischen und oppositionellen Kräften durch Assad löste eine Welle der Empörung und Wut aus. In den vergangenen Tagen gab es in der Türkei Demonstrationen vor den iranischen und russischen Botschaften, die von Nationalist*innen und Islamist*innen aufgerufen wurden, die zur AKP-Basis zuzuordnen sind. Sie waren empört darüber, dass Assad mit der Unterstützung russischer Luftangriffe die nordsyrische Stadt Aleppo vollständig von den Rebellen zurückerobern konnte. Es geht so weit, dass die islamistischen Kräfte, die seit dem Beginn des Bürger*innenkriegs in Syrien finanziell, militärisch und logistisch mit der AKP kooperierten, der AKP nun Verrat vorwerfen. Denn der türkische Staatspräsident hat sich am Verhandlungstisch mit Russland sich über die Intervention in Aleppo einigen können. Nichtsdestotrotz haben die AKP-nahen Medien währenddessen propagandistisch zur „Steinigung des Teufels“ (Assad) aufgerufen und die tragischen Bilder der Zivilist*innen zugunsten ihrer eigenen heuchlerischen Interessen instrumentalisiert.

Kurz nach dem Attentat meldete sich der türkische Innenminister Süleyman Soylu zu Wort und teilte mit, dass der Täter ein 22-jähriger Polizist sei, der seit zweieinhalb Jahren in der Hauptstadt Ankara im Einsatz war. Der Attentäter wurde am Tatort von den Spezialkräften getötet. Drastisch und absurd waren die Versuche der AKP-Politiker*innen und Journalist*innen, die FETÖ (die Bezeichnung für die Gülen-Bewegung), mit dem Attentat in Verbindung zu bringen. Ein Versuch, von der Verantwortung abzuweichen und gleichzeitig den Angriffen gegen die FETÖ Legitimation zu verleihen. Doch dieses Manöver, mit dem zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden sollten, scheiterte sehr schnell. Es drückte sich unter anderem an der Panikreaktion der AKP aus, da sie durch mediale Hetze und Zusammenarbeit mit islamistischen Milizen dem Attentat den Boden bereitet hat. Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, veröffentlichte einen Bericht über die Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes im Auftrag der türkischen Regierung an die islamistischen Milizen in Syrien.

Die Offensive Assads über die islamistischen und oppositionellen Milizen in Syrien produziert nicht nur Machtverschiebungen und neue Welle von Geflüchteten sondern auch den Rückzug dieser Milizen in ihre Zellen in türkischen Gebieten, was die Instabilität der politischen Situation in der Türkei verschärft.

Die Auswirkungen des Attentats auf die türkisch-russischen Beziehungen

Die AKP fürchtete, dass der Täter mit dem Attentat die normalisierten Beziehungen zu Russland negativ beeinflussen könne. Im November 2015 kam es zu einer schweren diplomatischen Krise zwischen den beiden Staaten, weil die Türkei einen russischen Kampfjet im syrisch-türkischen Grenzgebiet abschoss. Infolgedessen reagierte Russland mit Sanktionen und bezeichnete den türkischen Staat als „Helfershelfer von Terroristen“. Im Sommer 2016 normalisierten sich die Beziehungen nachdem Erdogan von seiner aggressiven Rhetorik Russland gegenüber zurückruderte. Auch in diesem Konflikt spielte nach Aussagen der AKP die FETÖ eine verbrecherische Rolle, weil die im Militär eingenisteten FETÖ-Kader ohne den Schießbefehl gehandelt hätten. In der jetzigen politischen Konjunktur nach dem gescheiterten Putsch beschuldigt die AKP die FETÖ für jeden Konflikt und lenkt somit von ihrer Verantwortung ab und legitimiert den Ausnahmezustand und die Säuberungs- und Verhaftungswelle.

Interessant ist, dass das Attentat einen Tag vor dem Treffen zwischen den Außen- und Verteidigungsministern von Iran, Russland und der Türkei stattfand. Das Treffen wurde trotz des Attentats mit dem Ziel abgehalten, sich auf eine gemeinsame Position zur Entwicklung des Syrien-Konfliktes zu einigen. Dabei handelt es sich um eine besondere Wende, da die Interessen der beteiligten Akteure bisher entgegengesetzt waren. Russland und Iran beharren auf die „Souveränität“ Syriens und unterstützen Assad mit jeglichen Mitteln. Währenddessen hat Erdoğan seit dem Beginn des Bürger*innenkrieges die „Rebellen“ unterstützt, von der FSA bis zu islamistischen Milizen, um den Sturz von Assad herbeizuführen. Aus dem Treffen gingen die Vertreter mit der Einigung heraus, eine gemeinsam für einen dauerhaften Waffenstillstand und den Beginn der Friedensgespräche zwischen den „Rebellen“ und Assad einzutreten. Der Außenminister von Russland, Sergei Lawrow, betonte nach dem Treffen, dass sich die drei Staaten darüber geeinigt haben, dass ein Regimewechsel in Syrien nicht prioritär ist.

Der Attentat wird also nicht zur einer erneuten Krise zwischen dem russischen und dem türkischen Staat beitragen. Nach dem Attentat wurde eine Untersuchungskommission gegründet und das Team aus Russland ist bereits in der Türkei angekommen.

Unter diesen Bedingungen ist es zu erwarten, dass sich die Kräfteverhältnisse zugunsten der Interessen von Russland entwickelt haben. Russland spielt nun mit „besseren Karten“ und die Türkei ist nicht in der Position, bei Verhandlungen ihre Interessen durchzusetzen. Der wirtschaftliche Einfluss Russlands kombiniert sich seit der Normalisierung der Beziehungen und spätestens seit dem Attentat mit politischen Faktoren. Das bedeutet wiederum, dass in der kommenden Zeit eine Machtverschiebung innerhalb der AKP stattfinden kann. Das heißt, dass die pro-russischen Politiker*innen werden mehr zu Wort und Stellungen kommen könnten.

Hypothetisch kann man sagen, dass das Attentat weitere Nachbeben produzieren kann. Denn anders als die bisherigen Anschläge der islamistischen Kräfte ist die Ermordung des russischen Botschafters eine eindeutige Botschaft gegen die AKP-Regierung. Dieser Kurswechsel in Syrien kann sich niemals ohne Schaden abspielen. Als Symbol dafür stehen die Selbstmordattentate von IS-Milizen im nordsyrischen Al-Bab, die am 21. Dezember 14 türkischen Soldaten das Leben kostete. Die jetzige politische Konjunktur in der Türkei ist geprägt von krisenhaften Momenten und dem Aufkommen einer großen wirtschaftlichen Krise, welche die AKP nicht mit Ausnahmezustand und Säuberungs- und Verhaftungsprozessen beseitigen kann. Die absolute Passivität der Opposition in der Türkei erlaubt der AKP weiterhin an der Macht zu bleiben, doch in der Arena der Weltpolitik stechen höhere Trümpfe.

Anmerkung der Redaktion: Mittlerweile hat sich das Bekennerschreiben von Al-Nusra als Fälschung herausgestellt.

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