Warum wir statt „Touris raus“ lieber „Bosse raus“ fordern sollten

15.07.2017, Lesezeit 7 Min.
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Viele Berliner*innen geben dem Tourismus für die verschlechterten Lebensbedingungen in der Hauptstadt die Schuld. Überteuerte Ferienwohnungen, wo früher Arbeiter*innen wohnten, schicke Restaurants, wo früher der Kiezladen war. Auch viele Linke nehmen deshalb den Kampf gegen „die Tourist*innen“ auf. Doch ist wirklich der Tourismus schuld an alledem?

Berlin im Sommer: Während Student*innen und Arbeiter*innen unter drückender Hitze von einem Termin zum anderen hetzen, füllen sich die Straßen und Stationen mit Tourist*innen aus aller Welt. Der ständige Lärm der Rollkoffer auf den Pflastersteinen, grölende Gruppen betrunkener Reisender, laute Partykneipen… Was von den Politiker*innen als multikultureller „Berliner Lifestyle“ gefeiert wird, kann im stressigen Alltag oft zur Belastung werden.

Deswegen macht sich unter vielen Berliner*innen eine latente Ablehnung gegenüber „den Tourist*innen“ breit, die für alles Übel verantwortlich seien. Sticker wie „Berlin doesn’t love you“ kleben in der ganzen Stadt, Graffitis fordern „Touristen anzünden“ oder „Touris raus“. Auch Teile der Linken haben sich die Praxis des „Kiez Abwertens“ zu eigen gemacht, die sich hauptsächlich gegen Tourist*innen richten soll, jedoch vor allem die Anwohner*innen trifft.

Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich so, als seien Tourist*innen für viele Verschlechterungen der letzten Jahre verantwortlich. Die gesamte Innenstadt wird im Interesse der Tourismusbranche umgebaut. Wo früher ein Späti war, ist jetzt ein Starbucks. In einigen Bereichen von Mitte bekommt man kein bezahlbares Essen, weil nur an die konsumfreudigen und zahlungskräftigen Tourist*innen gedacht wird. Jahrzehntelange Anwohner*innen müssen wegen Mietpreissteigerung und „Modernisierung“ in die Randbezirke ziehen. Die letzten noch vom Zweiten Weltkrieg übrig gebliebenen Lücken werden zugebaut – jedoch nicht mit bezahlbarem Wohnraum, sondern mit Luxusimmobilien, Hotels oder überteuerten Ferienwohnungen.

Dazu kommt der besonders im Stadtzentrum bemerkbare Preisanstieg: Die Eckkneipe muss dem coolen Café weichen, der linke Kiezladen wird geräumt, schicke Restaurants und feine Läden prägen mehr und mehr das Stadtbild. Da bleibt wenig Platz für die Studierenden, die sich mit ihren Nebenjobs die WG-Miete verdienen, die prekär Beschäftigten, die trotz Vollzeit-Job beim Arbeitsamt aufstocken müssen, oder die Rentner*innen, die sich mit Flaschensammeln bis zum Monatsende retten.

Doch diese negativen Auswirkungen für die lohnabhängige Stadtbevölkerung haben nicht „die Tourist*innen“ zu verantworten, sondern die Unternehmen, die mit dem Tourismus Riesengewinne machen, und das politische Establishment der Hauptstadt, das diesen Geschäftszweig erst in dieser Form ermöglichte.

Berlin hatte lange Zeit eine große Industrie und war noch in den 20er-Jahren für die Kampftradition und Stärke der Arbeiter*innenklasse bekannt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Teilung der Stadt verlor Berlin sowohl in der BRD wie auch in der DDR (jedoch in geringerem Maße) die Position als wichtigstes Industriezentrum. Mit dem Fall der Mauer erreichte diese Entwicklung einen weiteren Höhepunkt. 1989 arbeiteten noch 380.000 Menschen in der Industrie. 2007 waren es nur noch knapp 100.000. Dieser Zusammenfall der Industrie ging einher mit einer brutalen Offensive gegen die gesamte Arbeiter*innenklasse im Zuge der kapitalistischen Restauration (a.k.a. die „Wende“) in Ostdeutschland und der neoliberalen Agenda 2010.

Auf der Suche nach neuen gewinnbringenden Wirtschaftszweigen entdeckte die rot-rote Landesregierung unter Klaus Wowereit Anfang der 2000er den Tourismus für sich. Verbunden mit massiven Sparmaßnahmen, Privatisierung von Wohnraum und Entlassungen im öffentlichen Dienst, wurde das Bild von Berlin als attraktivem und coolen „melting pot“ geprägt. Unter dem Motto „arm aber sexy“ sollten sowohl Investor*innen angezogen werden, um die vernachlässigte Hauptstadt aufzuwerten, als auch Tourist*innen für eine billige Stadt mit großer Kulturszene begeistert werden.

Mit dieser Neuorientierung ging auch eine Umstrukturierung der Wirtschaft hin zum Ausbau des Dienstleistungssektors einher. Für die Berliner Arbeiter*innenklasse bedeutete das die zunehmende Prekarisierung durch niedrige Löhne, Ausgliederung in Tochterunternehmen und Flexibilisierung der Arbeitszeiten. Der rot-rote Senat hat diese Entwicklung aktiv unterstützt mit einer Politik, die Dienstleistungsunternehmen, Läden, Hotels und Restaurants klar bevorzugte.

Ein Beispiel davon ist das Gesetz der Ladenöffnungszeiten, das durch die kontinuierliche Liberalisierung zu den flexibelsten in ganz Deutschland gehört. So können die Partytourist*innen nach dem Club-Besuch um vier Uhr morgens bei Rewe einkaufen oder 24/7 beim Spätkauf etwas zu Trinken holen. Auch die zahlreichen verkaufsoffenen Sonntage im Jahr gehören dazu. Was zwar schön und bequem für einige ist, bedeutet eine extreme Belastung für die Arbeiter*innen der Dienstleistungsbranche.

Auch die Baumafia wurde zu einem beliebten Partner des politischen Establishments der Hauptstadt. Die Immobilienspekulation nahm im Gleichschritt mit der Privatisierung von 100.000 Wohnungen unter Wowereit und der Liberalisierung des Immobilienmarktes zu, die den Bau von Luxuswohnungen und -hotels in der Innenstadt vorantrieb. Mit widersprüchlichen Ergebnissen, denn die Ausbreitung des Immobilienmarktes führte immer mehr dazu, dass alt eingesessene Clubs und Kneipen schließen mussten, was die Stadt um einige touristische Attraktionen beraubte.

In einer Stadt mit einer traditionell starken linken Szene musste sich diese neoliberale Politik auch direkt gegen die Linke richten. Alternative Kulturzentren, Kneipen, Läden und besetzte Häuser stehen bis heute unter Beschuss. Dabei setzen die verschiedenen Regierungen vom Roten Rathaus aus mit Hilfe der Polizei die Interessen der Immobilienhaie und Investmentfonds durch. Eine besondere Rolle nahmen dabei die reformistischen Parteien SPD und DIE LINKE ein, die von den Regierungssitzen aus die Räumungen und Verfolgung linker Aktivist*innen anordneten, um sich danach in Parteierklärungen von den brutalen Ausmaßen derselben zu distanzieren.

Ein wichtiges Argument der Politiker*innen, warum man diesen Wandel nicht aufhalten könne und den Tourismus nicht einschränken sollte, sind die Milliarden, die durch den Tourismus nach Berlin kämen und die Stadt am Laufen halten würden. Die Lohnabhängigen und Jugendlichen fragen sich daraufhin jedoch zurecht, wo genau diese Milliarden hingelangen – denn sie sehen davon rein gar nichts.

Genau das ist das Problem. Das Tourismus-Geschäft bringt den privaten Unternehmer*innen Riesengewinne, die sie jedoch für sich behalten. Gleichzeitig gibt die Stadt auf Kosten der Steuerzahler*innen Milliarden aus, um den Unternehmen die Profite noch zu vergrößern. Und die arbeitende Bevölkerung hat unter den Konsequenzen in Form von Preissteigerung, überfüllten Zügen und ständigen Baustellen zu leiden.

Würde man im Gegenzug zur privaten Profitmacherei die großen Hotelketten, die Einkaufszentren, den öffentlichen Nahverkehr und den gesamten Wohnraum entschädigungslos unter Kontrolle der Arbeiter*innen und Anwohner*innen/Nutzer*innen verstaatlichen, würden die Gewinne zur Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Bevölkerung und der Jugend eingesetzt werden können. Die Löhne könnten erhöht, die Arbeitszeiten verkürzt und die Mieten gesenkt werden. Es würden keine Milliarden in Megaprojekte in den Sand gesetzt werden, die nur der Baumafia und den Unternehmen des Tourismus-Sektors dienen.

Dafür könnten Schulen saniert und bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden, sowie der öffentliche Nahverkehr ausgebaut und kostenfrei nutzbar gemacht werden. Gleichzeitig würde ein solches Modell nicht nur die wohlhabenden Tourist*innen anziehen, sondern Platz für einen nachhaltigen und für arbeitende Menschen bezahlbaren Tourismus schaffen. Das Geld für all das ist da, es ist nur im Besitz einer kleinen Handvoll Großkapitalist*innen, die mit den Leiden der Stadtbevölkerung ihre Profite vermehren. Deshalb liegt das Problem nicht an den Partytourist*innen oder kleinen hippen Cafés und Bars, sondern am Kapital und der politischen Kaste, die ihn ihrem Interesse regiert.

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