Warum begeht die Sozialdemokratie Selbstmord?

22.03.2018, Lesezeit 8 Min.
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Die SPD befindet sich auf einem historischen Tiefpunkt. In der Großen Koalition wird sich ihr Abwärtstrend nur fortsetzen.

Es war ein Schock mit Ansage: Am 19. Februar kam die Nachricht, dass die AfD erstmals in einer bundesweiten Umfrage vor der SPD lag. Niemand war überrascht. Schließlich erlebt die älteste Partei Deutschlands seit fast zwei Jahrzehnten einen unaufhaltsamen Abwärtstrend. 1998 bekam Gerhard Schröder noch 40,9 Prozent der Stimmen; letztes Jahr erhielt Martin Schulz nur halb so viel. Die Sozialdemokrat*innen liegen seit Anfang des Jahres in Umfragen konsequent unter 20 Prozent, manchmal nur bei 15 Prozent.

Ein Blick auf andere sozialdemokratische Parteien in Europa zeigt, wohin diese Reise geht: Die Parti Socialiste in Frankreich holte bei der ersten Runde der letzten Präsidentschaftswahlen sechs Prozent. Die griechische PASOK schrumpfte auf unter fünf Prozent („Pasok-ifizierung“ heißt nun dieser Prozess des Abstiegs der klassischen Sozialdemokratie).

Im Kabinett Merkel IV wird sich der Niedergang der SPD fortsetzen. Bei den nächsten Wahlen in dreieinhalb Jahren wird es aller Wahrscheinlichkeit nach weiterhin eine SPD geben – aber gut möglich, dass sie bei unter zehn Prozent liegt.

Die SPD hat einst das Verbot durch die Sozialistengesetze unter Otto von Bismarck überlebt, genauso wie die Diktatur der Nazis. Doch die heutige Parteiführung scheint entschlossen, ihrer Partei den Gnadenstoß zu geben. Im Wahlkampf macht die Partei allerlei soziale Versprechen – und im Handumdrehen verrät sie ihre Wähler*innen. Auch nach dem schlechtesten Wahlergebnis in der Nachkriegsgeschichte gibt es keinen Hauch einer Kurskorrektur. Stattdessen verspricht einen SPD-Minister die „schwarze Null“ und ernennt einen Investment-Banker zum Staatssekretär.

Es ist ein sehr ausgedehnter Selbstmord. Und nur die AfD profitiert davon, denn sie kann sich als „einzige Alternative“ zu den inhaltsgleichen etablierten Parteien präsentieren.

Echte sozialdemokratische Politik?

Viele Lohnabhängige reiben sich die Augen: Warum machen die Sozen das? Die SPD könnte sich für bessere Renten, gegen befristete Verträge und für höhere Löhne einsetzen – mit einem solchen Programm würde sie auch sofort 45 Prozent der Stimmen erhalten. Als Martin Schulz die Möglichkeit einer Lockerung der brutalen Hartz-IV-Sanktionen andeutete, schossen seine Zustimmungswerte nach oben. Aber wenig später umarmte er Gerhard Schröder und bekannte sich zu dessen Agenda 2010.

Die Spitzenfunktionär*innen der SPD haben keine Angst vor dem Untergang ihrer Partei. Schließlich warten auf sie lukrative Posten in Aufsichtsräten – Gerhard Schröder zum Beispiel ist so Millionär geworden, nachdem er Millionen Rentner*innen zum Sammeln von Pflandflaschen verdammte.

Die SPD war einst von Arbeiter*innen als revolutionäre sozialistische Partei aufgebaut worden. In ihrem Erfurter Programm von 1891 beispielsweise forderte die Partei „die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln (…) in gesellschaftliches Eigentum“. Sie erklärte, dass Arbeiter*innen aller Länder exakt die gleichen Interessen haben. Sie bekämpfte „jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung“.

Doch bereits 1914 warf die SPD ihre Prinzipien über Bord. Die Partei hatte sich verpflichtet, die Gefahr eines neuen Krieges mit allen Mitteln zu bekämpfen. Aber als der Krieg ausbrach, bewilligte die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag die Kriegskredite. Der damalige SPD-Vorsitzende erklärte: „In der Stunde der Not lassen wir unser Vaterland nicht im Stich.“ Die Folge war ein beispielloses Gemetzel mit Millionen Toten.

Seit 1914, seit über 100 Jahren, ist die SPD eine Partei, die sich auf die Arbeiter*innenklasse stützt, aber Politik fürs Kapital macht. Es ist eine Partei von Bonzen.

Manche meinen sich an eine Goldene Zeit in den 50er und 60er Jahren erinnern zu können, als die Sozialdemokratie für wachsende Löhne und bessere Bildung für die Lohnabhängigen in der BRD sorgte. Aber das war nur eine Ausnahme unter ganz außergewöhnlichen historischen Bedingungen: Erstens gab es nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges ein gewisses Wachstum des Kapitalismus; zweitens haben Millionen sogenannte „Gastarbeiter*innen“ mit wenigen Rechten dafür geschuftet; drittens war das Kapital auf einem Drittel des Planeten enteignet – die Kapitalist*innen hatten große Angst und waren zu gewissen Zugeständnissen bereit. Diese historische Ausnahmesituation existiert heute nicht mehr.

Was tun?

Kommt es nach der krachende Niederlage vor einem halben Jahr nun zu einer Kurskorrektur in der SPD? Von vielen Seiten wird vorgeschlagen, dass die SPD zu einer „sozialdemokratischen“ Politik zurückkehre.

Es gibt durchaus Stimmen in der SPD, die eine „Erneuerung“ verlangen. Einzelne Bundestagsabgeordnete plädieren beispielsweise für eine „linke Volkspartei im 21. Jahrhundert“. Aber selbst diese vermeintlich linken Sozialdemokrat*innen sagen kein Wort über die Abschaffung von Hartz IV oder die unzähligen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Höchstens fordern sie eine Lockerung der Sanktionen.

JuSo-Chef Kevin Kühnert hatte viel richtige Kritik an der Großen Koalition geübt. Beispielsweise das Versprechen nach 8.000 zusätzlichen Pflegestellen – das ist nicht mal 0,6 Stellen pro Pflegeeinrichtung in Deutschland! Aber auch Kühnert hat kein grundsätzlich anderes Programm vorgelegt. Vielmehr zielt er darauf, dass sich die SPD in der Opposition ein bisschen erholt – sicherlich mit einem Blick auf seine eigenen Karrierechancen in vier Jahren.

Schließlich haben zwei Drittel der SPD-Mitglieder für die Große Koalition gestimmt. Die ersten Aussagen von Jens Spahn und Horst Seehofer machen deutlich, dass jetzt große Angriffe auf Arme, Migrant*innen und Frauen anstehen. Von den sozialdemokratischen Minister*innen ist kein anderer Ton zu vernehmen. Es wird nicht reichen, dass Kevin Kühnert „der Regierung auf die Finger schaut“, wie der JuSo-Chef kürzlich versprach.

Nötig werden große Mobilisierungen für mehr Pflegepersonal, gegen Rassismus und für die Rechte von Frauen sein. Jedes SPD-Mitglied, das gegen die Große Koalition ist, sollte diese Mobilisierungen unterstützen. Schließlich würden über 100.000 SPD-Mitglieder auf den Straßen für mehr Pflegepersonal, zusammen mit den Kolleg*innen aus den Krankenhäusern, einen riesigen Druck auf den neuen Gesundheitsminister schaffen.

Eine eigene Partei

Warum stimmen zwei Drittel der SPD-Mitglieder für den Niedergang ihrer eigenen Partei? Warum kann die SPD keine wirklichen Verbesserungen für die Lohnabhängigen anbieten, obwohl sie die meiste Zeit an der Regierung ist?

Die Spielräume für Reformen innerhalb des Kapitalismus sind kleiner geworden. Der Konkurrenzkampf zwischen den Konzernen und ihren Regierungen nimmt immer schärfere Formen an.

Deswegen haben es nicht nur sozialdemokratische Parteien, sondern auch neue linke Formationen so schwer. Die Linkspartei zum Beispiel erhebt viele richtige Forderungen, wenn sie in der Opposition ist. Aber dann tritt sie in rot-rot-grüne Regierungen ein und trägt die Verantwortung Zwangsräumungen, Prekarisierung und Abschiebungen. In anderen Worten: das gleiche wie die SPD. Genauso passiert es mit der neuen Linkspartei Podemos im spanischen Staat. Sie beteiligt sich an der Regierung in drei großen Städten, wo sie ebenfalls Politik für das Kapital macht. Das krasseste Beispiel ist die griechische Linkspartei Syriza: Sie stellt seit 2015 den Ministerpräsidenten – und setzt nun grausame Kürzungspolitik gegen die Arbeiter*innen durch.

Es ist illusorisch, auf eine Erneuerung der SPD zu hoffen. Wir müssen den Weg gehen, den Arbeiter*innen in Deutschland vor 150 Jahren gegangen sind: Wir müssen eine neue Partei aufbauen, die unsere Interessen als Arbeiter*innen vertritt. Unsere Partei würde nicht darauf zielen, als Teil einer Regierung die Geschäfte des Kapitals zu verwalten – unsere Partei würde für eine Regierung der Arbeiter*innen kämpfen.

Eine solche Partei würde sich dafür einsetzen, dass Hartz IV sofort abgeschafft wird; dass jeder Mensch eine Arbeit hat, von der er*sie in Würde leben kann; dass alle deutschen Truppen aus dem Ausland abgezogen werden und die Bundeswehr zerschlagen wird. Usw.

Wie die SPD einst forderte, müsste eine Arbeiter*innen-Partei heute dafür eintreten, das Privateigentum an Produktionsmitteln zu überwinden. Natürlich ist es keine einfache Aufgabe, diese Partei aufzubauen. Aber wir Arbeiter*innen haben keine andere Chance, wenn alle Parteien gegen uns sind.

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