Vorwahlen in Argentinien: Front der Linken mit 1 Mio. Stimmen drittstärkste politische Kraft

14.09.2021, Lesezeit 9 Min.
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Quelle: La Izquierda Diario

In Argentinien hat die Front der Linken (FIT) bei den Vorwahlen am vergangenen Sonntag die besten Ergebnisse seit ihrem zehnjährigen Bestehen erzielt. Warum die vier trotzkistischen Parteien in ihrem Wahlkampf nicht nur Massen erreichte, sondern sie auch überzeugte.

Zehn Tage vor Frühlingsbeginn auf der Südhalbkugel hat die revolutionäre Linke in Argentinien am Sonntag Geschichte geschrieben. Die Hochrechnungen der bei den Vorwahlen abgegebenen Stimmen zeigen klar und deutlich: Die Front der Linken und Arbeiter:innen (FIT) ist mit über einer Million Stimmen die am drittmeisten gewählte politische Kraft. Und das mit einem Wahlprogramm, das eine klare Linie der politischenn Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse von allen Varianten des Kapitals und der reformistischen Bürokratien vertrat – ein Übergangsprogramm für eine sozialistische Arbeiter:innenregierung.

In Buenos Aires kommt Menschenrechtsanwältin Myriam Bregman zum ersten Mal bei einer Vorwahl auf 6,23 Prozent. Bregman ist Mitglied der Partei Sozialistischer Arbeiter:innen (PTS), eine der Parteien der FIT, die zugleich die Schwesterpartei von RIO in Argentinien ist. In der die Stadt umgebende Provinz Buenos Aires – der bevölkerungsreichsten des südamerikanischen Landes – landet die FIT ebenfalls erstmals seit ihrem zehnjährigen Bestehen auf Platz Drei. Im nördlichen Jujuy, einer der ärmsten Provinzen des Landes, kommt die aus vier trotzkistischen Parteien bestehende Front auf stolze 23,31 Prozent.

Die Jugend feiert das Ergebnis, Seite an Seite von kämpferischen Arbeiter:innen. Es ist das erklärte Ziel der komplett selbstfinanzierten Kampagne der FIT gewesen, die berechtigte Wut über ihre Situation und die „linke“ Regierung von Alberto Fernández in Organisierung umzuwandeln.

Dabei hatten die hegemonialen Medien es die letzten Wochen und Monate lang kategorisch vermieden, über die aufsteigende linke Kraft zu sprechen. Stattdessen widmeten sie ihre volle Aufmerksamkeit den Kämpfen zwischen und innerhalb der zwei größten politischen Strömungen Argentiniens: dem rechtskonservativen Macrismus (ohne Macri) und dem linkspopulistischen Peronismus, der momentan das Land regiert.

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Es muss nicht das kleinere Übel sein

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte

Es ist nicht das erste Mal, dass diese gegeneinander antreten. Vielmehr ist ihr Spiel altbekannt: Wer Unzufriedenheit schürt, verliert in den darauffolgenden Wahlen an den Urnen massiv an Stimmen an die jeweilige Opposition. So hat die vermeintlich progressive „Front Aller“ von Präsident Fernández ganze zehn Prozent weniger erzielt als die Front „Zusammen für den Wandel“ des Macri-Sektors, die man als Mischung zwischen der CSU und dem ultrarechten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro bezeichnen könnte.

Fernández ist inzwischen gut darin trainiert, die Pandemie oder wahlweise den Ex-Präsidenten Mauricio Macri als Antwort auf jegliche Kritik zu nutzen. Und es stimmt, dass dieser ihm 2019 ein ruiniertes Land überlassen hatte – ein Land, dessen Bevölkerung beispielsweise damals schon zu 35,4 Prozent unter der Armutsgrenze lebte. Fernández beteuerte, den Argentinier:innen zurückzugeben, was ihnen gestohlen worden war: Renten- und Lohnerhöhungen, Jobs, den bedingungslosen Zugang zum Gesundheitssystem, …

Doch sind heute drei von vier Kindern in Argentiniens bevölkerungsreichsten Provinz arm, die Renten von Großeltern geringer denn je und der Gesundheitshaushalt gekürzt. Und nein, weder Macri noch die Pandemie haben den Präsidenten zum Ergreifen so drastischer Maßnahmen gezwungen.

Zurecht herrscht hierzulande also Unzufriedenheit, so weit das Auge sehen kann. Viele hatten Fernández vor zwei Jahren ihre Stimme gegeben, damit er dem Elend, in das sie während der vierjährigen Präsidentschaft seines Vorgängers gerutscht waren, ein Ende setzt. Doch der Peronismus war gekommen, um es zu verschlimmern. Statt dem versprochenen endlich wieder vollen Kühlschrank gelten heute mehr als 42 Prozent der Gesamtbevölkerung als arm. Unter ihnen sind auch viele Vollzeitbeschäftigte, da ihre Lohnerhöhungen stets geringer ausfallen als die Preissteigerungen (Inflation). Das heißt, dass zum Beispiel meine Freund:innen ihre Nebenkostenrechnung trotz 40h-Job nicht mehr bezahlen können, ohne zusätzlich noch einen Zweitjob anzunehmen.

Nichtsdestotrotz wagte die Wahlfront des Präsidenten es, mit dem Slogan „Das Leben, das wir wollen“ in den Wahlkampf zu starten.

Das ist nicht das Leben, das wir wollen

Letztes Jahr war Facundo Castro spurlos verschwunden – ein unschuldiger Jugendlicher, der zuletzt mit der Polizei gesehen worden war – bevor er tot aufgefunden wurde; das Land steht u. a. als Konsequenz von Fracking immer wieder in Flammen – wie viele Wälder Lateinamerikas und im urbanen Guernica wurde eine Landbesetzung gewaltvoll geräumt, damit dort stattdessen eine gated community inklusive Tennis- und Golfplätzen errichten werden konnte. Tränengas und Gummigeschosse auf Kinder und alleinerziehende Frauen, die sich nicht mehr in der Lage sahen, ihre Miete zusammenzukratzen, weil sie trotz extra erlassenem Kündigungsverbot von einem Tag auf den anderen entlassen worden waren.

Das ist nicht das Leben, das wir wollen. Das Leben, das wir wollen, ist nicht von Repression, Klimawandel, Prekarisierung und Arbeitslosigkeit geprägt. Und genau das drücken die mehr als eine Million Stimmen für die FIT aus.

Diese hatte vorgeschlagen, die vorhandene Arbeit auf dem Rücken aller zu verteilen. Denn während jede:r Zehnte arbeitslos ist, schuften andere zwölf Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche. Die kapitalistische Irrationalität kennt keine Grenzen. Die Dreistheit der hiesigen Gewerkschaftssekretär:innen allerdings auch nicht: So schlug bspw. Sergio Palazzo von La Bancaria, der Gewerkschaft der Bankangestellten, ebenfalls „Weniger arbeiten, alle arbeiten“ vor – doch war seine Idee, dabei auch die heute sowieso schon miesen Gehälter auf alle Schultern zu verteilen.

Die FIT betonte im Wahlkampf unermüdlich, dass es das Geld gäbe, um allen einen Lohn zu zahlen, der tatsächlich zum Leben reicht. Wenn Argentinien aufhören würde, Unmengen an Auslandsschulden an den von den USA, aber auch Frankreich und Deutschland angeführten Internationalen Währungsfond (IWF) zu zahlen, könnte mit dem so Einbehaltenen auch der Bildungshaushalt wieder aufgestockt werden.

Zusammen sind wir stärker

Wenn die gerade stattgefundenen Vorwahlen es bestimmten, würde die FIT ihre bisherigen zwei Sitze im Kongress verdoppeln. Doch der Moment ist im November, an dem endgültig entschieden wird, ob es in den nächsten vier Jahren eine gestärkte linke Opposition geben wird – oder nicht. Im antidemokratischen argentinischen Wahlsystem gibt es seit zehn Jahren diese Vorwahlen, um schon im Vorfeld der tatsächlichen Wahlen all diejenigen Kräfte auszusieben, die nicht über die eingeführte 1,5%-Hürde gelangen.

Es macht einen großen Unterschied, ob im Kongress jemand sitzt, der sich den Plänen des Postmacrismus und des Peronismus entgegenstellt, die Krise weiterhin auf dem Rücken der großen Mehrheiten abzuladen und stattdessen Kämpfe gegen die Ungleichheit sichtbar macht – oder nicht. Ob die Stimme der Arbeiter:innen und der Unterdrückten, für die die zwei keine Vertretung darstellen, unüberhörbar ist – oder nicht.

Denn neben dem Linksruck ist in Argentinien auch ein Rechtsruck zu verzeichnen. Es wäre angesichts des historischen Aufstiegs der revolutionären Linken falsch, an dieser Stelle den Teufel an die Wand zu malen. Doch sei zu erwähnen, dass der von der Rückkehr der Militärdiktatur träumende, rechtsliberale Javier Milei es schaffte, die Enttäuschung einiger Sektoren zu kanalisieren – vor allem in der Hauptstadt. Im Umland ebendieser, der entscheidendsten Provinz, konnte Nico del Caño (PTS) allerdings mehr Stimmen verzeichnen als der dortige „Liberale“.

Da die Polarisierung sich also verschärft, muss die revolutionäre Linke sich vereinen. Wenn man die Wahlergebnisse ihrer fünf Listen in Buenos Aires (Stadt) addiert, ist klar: So gut wie jede:n Zehnte überzeugte ein klassenkämpferischer und sozialistischer Ausweg aus der Krise.

Noch einmal: Wenn die vergangenen Vorwahlen es bestimmten, wäre die Gespaltenheit das Armutszeugnis dieser Linken. Denn während die beiden Listen der FIT, deren Ergebnis zusammengerechnet wird, bei den Vorwahlen ein historisches Ergebnis erhielten und damit für die Wahlen im November in einer günstigen Position sind, lief es für die anderen Listen weniger gut. So konnten weder die sich vor zwei Jahren von der PO (Arbeiter:innenpartei) abgespaltene PO-Tendenz unter dem historischen Anführer Jorge Altamira noch die Nuevo Más (Neue Sozialistische Bewegung) die 1,5%-Hürde überwinden. Sie dürfen bei den Wahlen im November nicht antreten. Sie müssen unter Druck gesetzt werden, die FIT zu wählen – ohne ihre zusätzlichen Stimmennanteilen gäbe es eine:n linken Abgeordneten weniger.

In den nächsten zwei Monaten muss die Regierung den Haushaltsplan für 2022 vorlegen und mit dem IWF diskutieren. Sie will den Schuss gehört haben – doch weiterhin ohne mit der Wimper zu zucken Millionen Dollar auf das Volk abzuwälzen, spricht eine andere Sprache.

Währenddessen Tee zu trinken und Däumchen zu drehen, wird die notwendige Einheit allerdings nicht erreichbarer machen. Dafür zu kämpfen, endlich das Sektierertum beiseite zu legen, um die Einheit der revolutionären Linken aufzubauen, aber schon.

Die dazu notwendige Hartnäckigkeit, an der man sich ein Beispiel nehmen kann, ist in den vielen Kämpfen der letzten Zeit aufzufinden. Das Scheitern Macris, das katastrophale Pandemiemanagement Fernández, das die strukturellen Probleme Argentiniens lediglich verschärfte und der Frust darüber, dass dieser statt für die großen Mehrheiten Politik für eine sehr kleine Minderheit macht, ist umgeschlagen. In altbekannte und neue Kampfphänomene. Das Leben, das wir wollen, ist das Leben, für das wir kämpfen.

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