Von Wulff zu Gauck

09.05.2012, Lesezeit 10 Min.
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// Die herrschende Klasse zwischen Eurokrise, Wulff-Affäre und dem Niedergang der FDP //

Die herrschende Klasse in Deutschland und ihre politische Repräsentanz in der Bundesregierung und dem Parlament befinden sich in einer schwierigen Situation, denn die Krise der Eurozone stellt sie vor große Herausforderungen, die mit enormen Möglichkeiten für die Expansion des deutschen Imperialismus, aber auch mit nicht zu verachtenden Risiken, Unsicherheiten und Widersprüchen verbunden sind. Gleichzeitig beginnt die Situation in Deutschland selbst unruhiger zu werden. Die Stille vergangener Jahre beginnt sich langsam zu verflüchtigen, verursacht durch unterschwellige Bewegungen in der deutschen ArbeiterInnenklasse, der Jugend, und Teilen der Mittelklassen, die sich – mit großen inneren Widersprüchen und Beschränkungen – in Phänomenen wie Occupy, Stuttgart 21 und vor allem den Streiks der letzten Monate zu zeigen beginnen.

Allgemein muss gesagt werden, dass die Situation des bundesrepublikanischen Regimes, besonders im Vergleich mit der aufgewühlten Situation in den südeuropäischen Ländern, weiterhin äußerst stabil ist. Dennoch ist diese Stabilität, wie wir schon in früheren Ausgaben von Klasse Gegen Klasse geschrieben haben, fragil. Wir wollen an dieser Stelle analysieren, welche Elemente der Situation von möglichen Rissen in der Stabilität des Regimes zeugen. Das darf uns nicht zu einem grenzenlosen Optimismus führen, der davon ausgeht, dass der Zusammenbruch des Regimes kurz bevor steht. Gleichzeitig dürfen wir nicht blind sein für die ersten Zeichen der Veränderung, denn die sich möglicherweise zeigenden Risse können Ansatzpunkte für revolutionäre Interventionen bieten. Und tatsächlich zeigen sich in der komplexen aktuellen Situation erste Risse im Regime der Bundesrepublik, die eng mit der aktuellen Eurokrise zusammenhängen: Es gibt Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse über die Lösung der Krise, während gleichzeitig die Austragung dieser Konflikte sowie die bisherigen Lösungen von der Mehrheit der Bevölkerung mit einem langsam wachsenden Legitimitätsverlust der Regierung und Teilen des Regimes beantwortet werden.

Die Legitimitätskrise zeigt sich beispielhaft in der Affäre um den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff: Nie zuvor wurde die Immunität eines Bundespräsidenten aufgehoben, und nie zuvor gab es Kundgebungen vor dem Schloss Bellevue, die zum Rücktritt eines Bundespräsidenten aufgerufen haben (auch wenn die TeilnehmerInnenzahl relativ klein war) [1]. Die Wulff-Affäre ist indes nicht deshalb interessant, weil das Amt des Bundespräsidenten ein besonderes institutionelles Gewicht hätte, welches nun nicht mehr im Sinne der Krisenpolitik der Merkel-Regierung eingesetzt werden könne. Denn das Bundespräsidentenamt ist ein repräsentatives Relikt aus der Zeit der Monarchie, welches keinerlei reale institutionelle Macht besitzt. Dennoch bedeutet das nicht, dass das Amt für die Herrschenden ohne Nutzen wäre: Denn die Illusion eines über den politischen Parteienkämpfen stehenden Staatsamtes strahlt eine Neutralität aus, die den tatsächlichen Klassencharakter des Staates verschleiern soll. Somit fungiert die Figur des Bundespräsidenten als ein Stabilitätsgarant für das Regime. Das ist letztlich der Grund, warum die Wulff-Affäre für die Merkel-Regierung so unangenehm war: In Mitten der Euro-Krise, in der die deutsche Bourgeoisie ein Bild der Einheit gegenüber den „Krisenländern“ und gegenüber der eigenen Bevölkerung ausstrahlen muss, um eine Atmosphäre der Unausweichlichkeit ihrer Vorstellung von Krisenpolitik zu projizieren, kommt eine Beschädigung des Mythos‘ der Neutralität des Staates, verkörpert durch den „Präsidenten aller Deutschen“, zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt – zumal die xenophobe Argumentation der „korrupten Griechen“ angesichts der offensichtlich gewordenen Korruptheit der deutschen herrschenden Klasse nun nicht mehr so einfach ist. Wegen der sich ausweitenden Eurokrise braucht die deutsche Bourgeoisie einen starken Präsidenten. Umso mehr, wenn in der Regierung selbst immer größere Konflikte auftauchen, die die Legitimation der Merkel-Regierung beschädigen.

Nichtsdestotrotz ist die Wulff-Affäre durch die Wahl Joachim Gaucks nicht zu einer Niederlage für die Merkel-Regierung geworden, ganz im Gegenteil. Denn Gauck stellt ein interessantes Paradox dar: Symbol der deutschen Einheit (und als solches „neutral“) und Paradebeispiel der konservativ-lliberalsten Elemente der deutschen Bourgeoisie. Gauck ist ein glühender Vorreiter des Antikommunismus, ein Verfechter des Neoliberalismus, als Pfarrer ein Aushängeschild der „christlichen Wertegemeinschaft“, vertritt ein islamophobes Weltbild mit Anschluss an die Thesen Sarrazins, und kann trotz seines Bildes des „Bürgerrechtlers“ mit heutigen Protesten wie bei Stuttgart 21 oder Occupy rein gar nichts anfangen. Somit vermag er sehr viel eindrucksvoller als Christian Wulff, das Bild der Überparteilichkeit mit schärfster Ablehnung sozialen Protestes zu verbinden.

Während also die Wulff-Affäre selbst ein Zeichen der wachsenden Legitimitätskrise des Regimes war, wurde diese durch die Wahl Gaucks zumindest wieder ein Stück zurückgedrängt. Dennoch kann es nicht unbenannt bleiben, dass die Stimmung gegen eine Institution der Bundesrepublik nie so schlecht war wie heute. Die Wahl Gaucks zeigt aber noch etwas anderes: Sie ist ein Auftakt für eine neue Große Koalition. Wenn auch die Nominierung Gaucks von der SPD und den Grünen gegen Merkel durchgesetzt wurde, verkörpert Gauck die gleiche politische Ausrichtung wie Merkel. SPD und Grüne haben mit der Auswahl Gaucks gezeigt, wie kompatibel sie mit der Krisenpolitik Merkels sind. Es kann daher nicht überraschen, dass die SPD und die Grünen diejenigen waren, die am Lautesten für die Rettung der „Würde des Amtes“ und der Wahrung des Images der „Neutralität des Staatsoberhauptes“ geschrien haben. Ihr Angebot an Merkel, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen, anstatt einen politischen Kampf gegen Schwarz-Gelb zu beginnen, zeigt, dass Merkels Strategie, wenn sie auch schärfer diskutiert wird, bisher immer noch für den einzig praktikablen Fahrplan gehalten wird.

In diesem Sinne ist es auch bemerkenswert, wie sehr sich die Linkspartei an die Parteien der herrschenden Klasse angebiedert hat. Einmal mehr stellte sie ihre Unfähigkeit zur Konfrontation mit der herrschenden Politik unter Beweis. Anstatt die Präsidentenwahl zu einem Symbol des Kampfes gegen die Krisenpolitik der herrschenden Klasse zu machen und eine außerparlamentarische (wenn schon nicht sozialistische) Alternative aufzuzeigen, war die Spitze der Partei geradezu beleidigt, dass sie nicht zu den einheitlichen Gesprächen über eine Kandidatur Gaucks (des Antikommunisten!) eingeladen wurde. Und selbst als dieser Zug abgefahren war, steuerten sie nicht auf politische Auseinandersetzung zu, sondern nominierten mit Beate Klarsfeld eine Frau, die zwar in den bürgerlichen Medien für eine Antifaschistin gehalten wird, aber beispielsweise mit den ultrakonservativen Positionen Sarkozys sympathisiert und die unterdrückerische Politik Israels gegenüber den PalästinenserInnen gutheißt. Statt ein Symbol des außerparlamentarischen Widerstands gegen die Krisenpolitik zu nominieren, stellen sie eine Antikommunistin gegen einen anderen.

Doch auch wenn die Herrschenden eine massivere Legitimitätskrise des Regimes gemeinsam abwenden wollten, indem sie die „Würde des Amtes“ betonten, kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse in Deutschland über die Lösung der Eurokrise, insbesondere im Hinblick auf den Fiskalpakt und die Lage in Griechenland, schärfer werden. Dieser Konflikt ordnet sich zudem noch in einen größeren Rahmen ein: Dem der Krise des neoliberalen Akkumulationsmodells insgesamt. Davon ist der Aufstieg der Grünen seit Beginn der Krise 2007/8 ebenso ein Ausdruck, wie der Niedergang der FDP, welcher sich in den letzten Monaten noch verschärft hat. Gleichwohl wird der Aufstieg der Grünen durch das Aufkommen der Piraten wieder gebremst, da diese einen Teil der „ProtestwählerInnenschaft“ anziehen, den sonst traditionell die Grünen mobilisiert hatten. Die Piraten sind ein weiteres Element der Legitimitätsprobleme der traditionellen Parteienlandschaft und drücken die Unzufriedenheit einiger Schichten über die Erstarrtheit des deutschen Parteiensystems aus. Indes heißt das nicht, dass die Piratenpartei automatisch eine progressive Entwicklung darstellen würde. Sie könnte auch dafür sorgen, dass die Sektoren, die die herrschende Politik ablehnen, letztlich wieder in das Regime integriert werden. Die kleinbürgerliche Programmatik der Piraten leistet dem Vorschub. Nichtsdestoweniger sind sie ein Ausdruck der Unzufriedenheit.

In Bezug auf die Krise der FDP zeigt sich, dass, während sich die herrschende Klasse darüber einig ist, dass die ArbeiterInnenklasse und die Jugend die Folgen der Weltwirtschaftskrise zahlen sollen, immer noch eine Orientierungslosigkeit darüber herrscht, wie dies am besten zu bewerkstelligen ist. Die FDP repräsentiert einen kleinen, radikalen Teil der herrschenden Klasse und des gehobenen Kleinbürgertums, welcher der Meinung ist, dass die sozialpartnerschaftliche Herangehensweise der letzten Jahrzehnte – die, wenn auch seit der Schröder-Ära teilweise von ihr Abstand genommen wurde, seitens der herrschenden Klasse auch während der Krise immer noch aufrecht erhalten wird – abgelöst werden sollte durch frontale Angriffe auf die Masse der Bevölkerung. Offensichtlich bedeutet der Niedergang der FDP, dass die herrschende Klasse in Deutschland als Ganzes bisher nicht die Notwendigkeit offener Konfrontation sieht, bzw. dass die wichtigsten Kapitalsektoren nicht dieser Meinung sind. Die FDP muss daher um ihr politisches Überleben kämpfen, spielt die Karte des nationalistischen Populismus und provoziert eine Regierungskrise nach der anderen. Die Regierungskrise ist aber nicht nur Ausdruck des Überlebenskampfs der FDP, sondern allgemein der tiefschürfenden Uneinigkeit der herrschenden Klasse über den Kurs in der Eurokrise. Der Widerstand der FDP gegenüber verschiedenen CDU-Maßnahmen ist zwar ein Element, kann aber nicht allein erklären, warum die Krisenpolitik Merkels beispielsweise in den bürgerlichen Massenmedien immer wieder kritisiert wird.

Denn in der Weltwirtschaftskrise und ihrem momentanen Epizentrum, der Eurokrise, offenbart sich die größte Möglichkeit für den deutschen Imperialismus seit dem Nationalsozialismus, seine Vorherrschaft über seine europäischen KonkurrentInnen auszudehnen. Die Politik Merkels gegenüber Griechenland, Italien, Portugal, Spanien etc. zeigt bonapartistische Tendenzen, getragen von dem doppelten Versuch der Schaffung der Bedingungen für eine Rückzahlung der Staatsschulden (zur Rettung der Interessen des europäischen Banken- und Finanzsektors) und der Umstrukturierung der Ökonomien Südeuropas im Interesse des deutschen und transnationalen Großkapitals [2]. Doch dieser Kurs ist nicht ohne Risiken, denn die Austeritätspolitik, die zu diesem Zweck vorangetrieben wird, könnte die südeuropäischen Wirtschaften zum vollständigen Bankrott und damit im Endeffekt zum Zerfall der Eurozone führen. Zudem steigt auch der Widerstand gegen die Maßnahmen Merkels in diesen Ländern an.

Dieser Balanceakt – zwischen einer harten Hand in Europa und einem wachsenden Legitimitätsproblem ihrer Politik im In- und Ausland – ist die große Herausforderung für die herrschende Klasse in Deutschland. Die Regierungskrisen sind letztlich ein Ausdruck der Unsicherheit über die korrekte Balance, wenn auch verzerrt durch die Partikularinteressen einer langsam verschwindenden FDP. Das Glück für die Merkel-Regierung ist momentan, dass die Unentschlossenheit bisher nicht zu einer eindeutigen Entscheidung im Sinne schärferer Angriffe gegen die deutsche ArbeiterInnenklasse gedrängt wurde, da die Eurokrise – im Vergleich zum Beispiel zur Krise von 1929 – sehr langsam voranschreitet. Wenn die abwartende Haltung, für die Merkel des Öfteren kritisiert wurde, nicht länger möglich ist, werden sich die Regierungskrise und die Risse im Regime verschärfen. Zu diesen Konflikten in der herrschenden Klasse kommen, wie erwähnt, auch die beginnenden Legitimationskrisen. Glück ist für Merkel aber auch, dass der Klassenkampf in Deutschland bisher auf einem solch niedrigen Niveau verläuft, dass die Instabilität der Regierung nicht besonders problematisch ist. Wenn der Druck von außen steigt (zum Beispiel durch eine Verschärfung der Eurokrise), wird er indes auch von innen steigen, und der Klassenkampf in Deutschland an Fahrt aufnehmen. Auf diese Situation muss sich die ArbeiterInnenklasse und die Jugend in Deutschland vorbereiten und die sichtbar werdenden Risse im Regime auszunutzen wissen.


Fußnoten:

[1] Ein interessantes Detail dabei ist, dass die TeilnehmerInnen der Kundgebung mittels eines Schuhs ihre Verachtung gegenüber Wulff ausdrücken wollten – ein Symbol, welches an die Proteste in der arabischen Welt gegen den damaligen US-Präsidenten George W. Bush angelehnt ist, und seitdem immer wieder, auch im Prozess des „arabischen Frühlings“ in den westlichen Medien zu sehen war.

[2] Siehe den Artikel von Juan Chingo in Klasse gegen Klasse Nr. 3.

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