Vereinigtes Königreich: Pflegepersonal beginnt historischen Streik

20.12.2022, Lesezeit 6 Min.
Übersetzung:
1
Matthew Troke / shutterstock.om

Vor dem Hintergrund der sozialen Krise und den Protesten gegen die Inflation, sowie der Politik des sozialen Kahlschlags der Regierung kämpfen Arbeiter:innen in viele Branchen. Nun streikt auch das Krankenhauspersonal.

Während Großbritannien in diesem Monat aufgrund der galoppierenden Inflation eine Reihe von Streiks im ganzen Land erlebt, schließen sich die Krankenschwestern der Bewegung mit zwei Aktionstagen an, die vom Royal College of Nurses (RCN), der Gewerkschaft des Krankenhauspersonals, beschlossen wurden. Der erste fand am 15. Dezember statt, der zweite ist für den 20. Dezember geplant.

Der Streik für Lohnerhöhungen und gegen die Verschlechterung des britischen Gesundheitssystems findet durch die Urabstimmung am 9. November statt und ist eine Fortsetzung der landesweiten Streikwelle gegen die Inflation und für höhere Löhne. Es handelt sich um eine historische Premiere in der Geschichte des NHS (National Health Service), des 1948 in der Nachkriegszeit gegründeten öffentlichen Gesundheitssystems, welches nach Jahren der Unterfinanzierung von der Politik des sozialen Kahlschlags der Regierung voll getroffen wurde.

So waren es die Krankenhausangestellten des ganzen Landes, die am vergangenen Donnerstag zum ersten 12-stündigen Streik mobilisiert hatten und am Dienstag, dem 20. Dezember erneut auf die Straße gehen werden. Insgesamt streikten rund 100.000 Pflegekräfte in 76 Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen in England, Wales und Nordirland.

Die erste Reihe im Streik für bessere Löhne

Wie bei vielen britischen Arbeitnehmer:innen geht es bei der Hauptforderung der Krankenschwestern und Krankenpfleger um die Löhne. Der RCN fordert einen Inflationsausgleich und 5 % mehr Lohn, und das, obwohl die Inflation im Vereinigten Königreich auf über 11 % gestiegen ist. Die Krankenpfleger erhielten nach der Pandemie eine lächerliche Erhöhung von 3 %, obwohl sie an vorderster Front mobilisiert wurden. Ihr Reallohn ist seit 2010 schätzungsweise um 20 % gesunken.

Nach Angaben der Gewerkschaft sind im ganzen Land 47 000 Stellen für Krankenschwestern und Krankenpfleger nicht besetzt. Aufgrund der Pandemie haben zusätzlich viele Mitarbeiter gekündigt. Im St. Mary’s Hospital in Nord-London marschierten streikende Krankenschwestern mit Schildern auf, auf denen sie daran erinnerten: „Personalmangel kostet Leben“.

Eine besondere Neuerung ist, dass die meisten der mobilisierenden Krankenschwestern zum ersten Mal in ihrem Leben streiken. Eine von ihnen, die seit sieben Jahren in einem Krankenhaus im Südosten Englands arbeitet, berichtet gegenüber CNN: „Im Laufe der Jahre wurde die Möglichkeit, meinen Patienten das Maß an Pflege zukommen zu lassen, das sie benötigen, immer mehr beeinträchtigt. Jeden Tag finden sich Krankenschwestern im ganzen Land in Krankenhäusern wieder, die unterbesetzt sind. Es ist unhaltbar.“ Eine Kinderkrankenschwester, die sich dem Streik anschließen will, prangert, ebenfalls gegenüber CNN, an: „Es geht darum, das Personal zu entlohnen, damit es seine Rechnungen bezahlen kann.“ Im St. Mary’s Hospital in London sind einige sogar gezwungen, zusätzlich zu ihrer Arbeit freiberufliche Stunden zu leisten, um über die Runden zu kommen.

Streik im „Winter der Unzufriedenheit“

Der Streik zeigt der Öffentlichkeit die Wut, die unter den Beschäftigten eines krisengeschüttelten öffentlichen Gesundheitsdienstes und im weiteren Sinne auch unter den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in den letzten Jahren aufsteigt. Die Mobilisierung der Krankenschwestern ist nur ein Beispiel für die Streikwelle, die Großbritannien in diesem Monat erfasst hat. Während die Inflation die Arbeitnehmer:innen erdrückt, erlebt das ganze Land eine Streikwelle für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, die eine soziale Bewegung bildet, wie sie das Land seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hat. Eisenbahner, Busfahrer, Lehrer, Postbeamte: Alle werden im Dezember streiken.

Im Gesundheitssektor haben die Gewerkschaftsführungen eine härtere Linie angezeigt, wobei die RCN ankündigte, dass im Januar mehr Streikende in mehr Krankenhäusern an Streiks teilnehmen würden, sofern die Regierung nach dem Aktionstag am Dienstag keinen Rückzieher macht.

Angesichts einer unnachgiebigen Regierung werden isolierte Aktionstage nicht ausreichen!

Die aktuelle Situation und die härtere Gangart der Gewerkschaftsführungen ist in hohem Maße auf die harte Haltung zurückzuführen, die Premierminister Rishi Sunak an den Tag legt. Ein Konservativer, der nach einer großen politischen Krise an die Macht gekommen ist, greift die Streikenden immer wieder an. Obwohl seine Regierung der Ansicht ist, dass Lohnerhöhungen nicht finanzierbar wären – seine konservative Vorgängerin Liz Truss hatte vor einigen Wochen die Steuern für die Reichsten gesenkt – bereitet er sich darauf vor, die Armee einzusetzen und Beamte zu requirieren, um den Personalmangel zu beheben und so die Streiks zu brechen, insbesondere die für den 21. und 28. Dezember geplanten Streiks der Rettungssanitäter.

Um seine unnachgiebige Haltung zu rechtfertigen, versucht Rishi Sunak gleichzeitig, die Streikenden in der öffentlichen Meinung zu beschmutzen. So erklärte er in der britischen Wochenzeitung The Sun on Sunday: „Die Gewerkschaften verursachen Elend für Millionen von Menschen, vor allem durch Streiks im Transportwesen, die grausam auf Weihnachten terminiert sind“.

Wenn diese Gegenwind die Gewerkschaftsführer:innen nicht dazu zwingt, ihrerseits den Ton zu verschärfen, wird ihre Politik die Arbeiter:innen in eine Sackgasse führen. Bisher beklagten sie die Verhandlungsverweigerung der Regierung und stellten sie der Haltung der schottischen Regierung gegenüber, die Lohnverhandlungen mit den Gewerkschaftsführungen aufgenommen hatten, um einen Streik im Gesundheitswesen zu verhindern. In diesem Sinne bezeichnete die an einem Streikposten anwesende RCN-Führerin den Streiktag am Donnerstag als „tragisch“.

Die Bereitschaft, eher zu verhandeln als zu streiken, geht einher mit der Weigerung der Gewerkschaftsführung, eine Koordinierung zwischen den sehr zahlreichen streikenden Sektoren einzuleiten. Die Gewerkschaften mobilisieren daher abwechselnd, ohne gemeinsame Termine und ohne den Versuch, das sehr eingeschränkte Streikrecht in Großbritannien zu überwinden, welches eine Anmeldung von Streiks mehrere Wochen vorher fordert.

Während der Streik im Gesundheitswesen die Unterstützung der Bevölkerung genießt, die im Vorbeifahren massenhaft lautstark hupen, wenn sie an den Streikposten vorbeifahren, könnte er sich als Ausgangsort für die Koordinierung der streikenden Sektoren erweisen, und die Bewegung auf andere Sektoren der Arbeiter:innenklasse ausdehnen.

Weit entfernt von isolierten Mobilisierungsterminen und Verhandlungen mit einer Regierung, die bereit ist, die Armee zu rufen, um den Streik zu brechen, wird es möglich sein, die Bewegung zu stärken, indem man die Koordination aller kämpfenden Sektoren an der Basis vorantreibt, und der Losung des Generalstreiks, die sich im Land auszubreiten beginnt, Gestalt verleiht.

Mehr zum Thema