USA: Rebellion im Herzen des Imperiums

12.06.2020, Lesezeit 15 Min.
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Die Vereinigten Staaten stehen in Flammen. Der brutale rassistische Mord an George Floyd war der Auslöser einer landesweiten Rebellion, die die herrschende Klasse überraschte. Dieser Ausbruch des Zornes der Massen eröffnete eine neue politische Situation im Herzen des Kapitalismus. Die Rebellion strahlt ihren Einfluss in eine Welt aus, die sich aufgrund der Coronavirus-Pandemie in einer Krise befindet. Antirassistische Mobilisierungen in Paris, Berlin, London und anderen Städten sind das erste Echo dieser Schockwelle.

Alles geschah auf schwindelerregende Weise. Am 25. Mai wurde George Floyd, ein 46-jähriger Afroamerikaner, der wegen der Coronavirus-Krise seinen Job verloren hatte, von vier weißen Polizeibeamten in Minneapolis verhaftet, weil er angeblich mit einem gefälschten 20-Dollar-Scheck bezahlt hatte. Einer von ihnen, Derek Chauvin, erstickte ihn fast neun Minuten lang mit seinem Knie, während seine Offizierskollegen ihm zusahen.

Diese Bilder von explizitem und unerträglichem Rassismus, die bis zum Überdruss in sozialen Netzwerken und auf Bildschirmen reproduziert wurden, entfachten die Wut der Massen, reaktivierten die Black Lives Matter-Bewegung und drängten eine multiethnische, generationenübergreifende Menschenmenge auf die Straßen, mit schwarzen, lateinamerikanischen und weißen Jugendlichen in der vordersten Front. Obwohl der Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO nicht mobilisiert hat – und die Polizeigewerkschaften, die dem Schutz der gewalttätigen und rassistischen Polizei dienen, immer noch in ihrer Organisation hat – gab es ermutigende Anzeichen, wie das Beispiel der New Yorker Busfahrer*innen, die sich weigerten, die Verhafteten zu transportieren.

Trump und die Demokraten hatten sich mitten in der Pandemie mit einem zwei Billionen Dollar schweren Konjunkturpaket den sozialen Frieden erkauft, das zwar hauptsächlich der Rettung der Kapitalist*innen diente – daher das Wall-Street-Jubelgeschrei trotz des Coronavirus -, aber zum Teil für die Erhöhung der Arbeitslosenversicherung und die Aushändigung von Schecks von bis zu 1.200 Dollar an alle mit einem Einkommen unter 75.000 Dollar pro Jahr vorgesehen war. Aber das war nicht der Auslöser der sozialen Explosion.

Floyd’s letzte Worte – „Ich kann nicht atmen“ – wurden zum Banner einer massiven Protestbewegung, die mit jedem Tag und der staatlichen Repression immer massiver wurde. Zehn- oder vielleicht Hunderttausende haben in fast jeder Stadt in den Vereinigten Staaten demonstriert, mit unterschiedlichem Grad an Gewalt und Radikalität.

Der Präsident trieb mit einem „law and order“-Diskurs die Polarisierung und Repression voran. Dies war ein Element der Radikalisierung. Trump wirkte angesichts der Mobilisierungen wie ein Provokateur und fügte dem Feuer mehrere Liter Brennstoff hinzu. Er nannte die Demonstrant*innen „Schläger“ . Er twitterte leichtfertig, „Wenn die Plünderung beginnt, beginnt die Schießerei“, ein Satz von Walter Headley, dem rassistischen Polizeichef von Miami in den 1960er Jahren, der afroamerikanischen Vierteln den Krieg erklärt hatte, um mit der Bürgerrechtsbewegung fertig zu werden. Aber die rassistischen Ausbrüche des Präsidenten können nicht die gesamte herrschende Klasse freisprechen. Demokratische Gouverneure und Bürgermeister*innen, angefangen von denen in Minnesota, Minneapolis und New York, griffen hart durch, verhängten Ausgangssperren und riefen die berüchtigte Nationalgarde.

Es dauerte mehr als sieben Tage und Nächte des Kampfes, bevor die Justiz entschied, auch nur minimale Zugeständnisse zu machen – einschließlich der Erweiterung der Anklage gegen Derek Chauvin und der Verhaftung seiner Komplizen.

Der Prozess ist tiefgreifend und betrifft nicht nur diejenigen, die sich mobilisieren. Laut einer Reuters-Umfrage von Anfang Juni unterstützt eine Mehrheit von 64% die Mobilisierungen, und 55% lehnen Trumps harte Linie zur Unterdrückung der Proteste ab. Das liegt zum Teil daran, dass Polizeibrutalität und -morde und die soziale Krise auch arme Weiße treffen.

Dieses Bündnis der Ausgebeuteten, der Unterdrückten und der Jugend, das sich auf den Straßen und in der öffentlichen Meinung der Mehrheit ausdrückt, weist auf die unauflösliche Verbindung zwischen Rassismus und Kapitalismus hin, die dem amerikanischen Staat zugrunde liegt. Dies ist nicht nur eine weitere Revolte. Wir befinden uns am Anfang eines Ereignisses von historischer Tragweite, dessen politische Folgen sich nicht auf das Ende der Bewegung beschränken werden, nicht einmal auf einen politischen Zeichenwechsel im Weißen Haus im November, sondern mittel- und langfristig gemessen werden müssen.

1968. 2020

„Ohne Rassismus gibt es keinen Kapitalismus“, sagte Malcolm X mehr oder weniger Mitte der 1960er Jahre. Er hatte Recht. Tatsächlich ist der Rassismus in die DNA des amerikanischen Kapitalismus und seines Staates eingeschrieben. Nach mehr als 50 Jahren in der Bürgerrechtsbewegung und nach zwei Amtszeiten von Barack Obama, dem ersten Schwarzen Präsidenten der Geschichte, hat sich die strukturelle Situation nicht wesentlich verändert. Die afroamerikanische Gemeinschaft ist nach wie vor das Ziel der brutalsten Unterdrückung: Als Minderheit von 13% der Bevölkerung stellt sie 33% der Gefängnisbevölkerung dar und weist die höchsten Armuts-, Arbeitslosen- und Marginalitätsraten auf. Aber an bestimmten Punkten hören die Statistiken auf, kalte Zahlen zu sein und verwandeln sich in soziale Kräfte und Straßenkämpfe.

Rassistisch motivierte Verbrechen durch die Polizei – und ihre Vertuschung durch die Gerichte – sind insofern Gang und Gäbe, als sie neben Krebs oder Verkehrsunfällen als Todesursache gezählt werden. Laut einer Studie aus dem Jahr 2019 kann jeder tausendste erwachsene Schwarze Mann von der Polizei getötet werden. Dies führt immer wieder zu gewalttätigen Protesten. Einer der symbolträchtigsten Ausbrüche war der Aufstand der Stadt Los Angeles 1992 anlässlich des Freispruchs der Polizisten, die Rodney King brutal zusammengeschlagen hatten. Dieser Aufstand dauerte sechs Tage und forderte 60 Tote, aber es gelang ihm nicht, die lokale Begrenzung zu durchbrechen oder den Rechtsruck inmitten des neoliberalen Booms aufzuhalten, der sich in der Übernahme der demokratischen Führung und des Weißen Hauses durch die Clintons ausdrückte. Näher dran sind die Demonstrationen für die Ermordung von Eric Garner und Michael Brown im Jahr 2014, die die Black Lives Matter-Bewegung ins Leben riefen. Aber um eine Analogie zu einem Protest von ähnlicher Tiefe und nationaler Breite zu finden, muss man 52 Jahre zurückgehen bis zum heißen Sommer 1967 und der Demonstrationswelle nach der Ermordung von Martin Luther King im April 1968. In diesen aufregenden Jahren, denen die Morde an J. F. Kennedy und Malcolm X vorausgingen, traf die Bürgerrechtsbewegung auf eine Jugend, die die Bewegung gegen den Vietnamkrieg radikalisierte.

Jede historische Analogie ist unvollkommen, aber in ihren Unterschieden hilft sie, den gegenwärtigen Moment zu verstehen. Die andauernde Rebellion ist nicht aus dem Nichts entstanden. In ihr finden sich Prozesse wieder, die sich in den letzten Jahren angesammelt haben und die durch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Pandemie, die in Floyds Verbrechen einen Wendepunkt fand, noch verschärft wurden.

Heute gibt es kein Äquivalent zum Vietnamkrieg, obwohl die Auswirkungen des Coronavirus und die durch ihn hervorgerufene wirtschaftliche Depression als Beschleuniger wirkten. Es gibt weitere kritische Faktoren: Das Scheitern der Kriege in Afghanistan und im Irak hat den Niedergang Amerikas als Hegemon der Welt beschleunigt und militärische Abenteuer für weite Teile der amerikanischen Bevölkerung höchst unpopulär gemacht. Präsident Trump ist in seiner schlechtesten Verfassung. Und so ist es auch die Position der USA, die kapitalistische Welt anzuführen. Dies geht soweit, dass Richard Haass, einer der Ideologen der imperialistischen Außenpolitik, dies für den „gefährlichsten Moment“ seit dem Ende des Kalten Krieges hält, mit dem Auftauchen Chinas, in geringerem Maße Russlands und anderer Mächte, die die US-Dominanz herausfordern. Die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und politischen Konjunkturkrisen überschneiden sich mit den allgemeineren Tendenzen der organischen Krise, die die Große Rezession 2008 einleitete und Trump ins Weißen Haus brachten. Diese Tendenzen zur sozialen und politischen Polarisierung, die Spaltung der herrschenden Klasse und des Staatsapparates und der Niedergang der US-Führung in der Welt wurden durch Trumps protektionistische und unilaterale Orientierung vertieft und stellen sein Wiederwahlprojekt in Frage.

Zwischen reformistischer Zurückhaltung und Radikalisierung

Die Protestbewegung eröffnete eine Krise großen Ausmaßes in der Regierung und legte die Brüche in der herrschenden Klasse und im Staatsapparat offen. Trump drohte damit, die Armee zu entsenden, um die Mobilisierungen zu unterdrücken, wurde aber von Pentagon-Chef Mark Esper überstimmt, der diese Möglichkeit rundweg ablehnte. Mehrere Persönlichkeiten der Republikanischen Partei, die sich gegen Trump positionierten, taten dasselbe.

Die Präsidentschaftswahlen im November bringen zusätzliche Spannungen in die politische Situation. Sie können eine Gelegenheit zur Ablenkung und Eindämmung, aber auch zu einer verstärkten Polarisierung sein.

Die Wiederwahl von Trump sieht vor dem Hintergrund der Pandemie schwierig aus: mehr als 100.000 Tote, mindestens 21 Millionen Arbeitslose (obwohl 43 Millionen seit Beginn der Pandemie Arbeitslosenversicherung beantragt haben), eine Rezession von 4,8% im ersten Quartal des Jahres und nun die Proteste. Nach den schlimmsten Tagen seiner Präsidentschaft erhielt Trump die erste gute Nachricht der letzten Monate: Die Arbeitslosenquote lag im Mai bei 13,3 %, nach 14,7 % im April und weit entfernt von den von den meisten Ökonomen prognostizierten 20 %. Das bedeutet aber immer noch eine Erhöhung um zehn Punkte ab März. Darüber hinaus werden bei der Messung diejenigen nicht berücksichtigt, die gezwungen sind, Teilzeit zu arbeiten oder nicht mehr auf Arbeitssuche sind, was die Quote auf 21,2% erhöhen würde. Trump regiert immer noch inmitten einer Katastrophe, und die wirtschaftliche Erholung steht noch aus. Sein Wahlkampf könnte dem von 2016 ähneln, basierend auf der Verschärfung der Polarisierung und der Verherrlichung von „America First“, in dessen Mittelpunkt die Feindseligkeit gegenüber China steht, und einem Diskurs von „Recht und Ordnung“, um seine härteste Wählerbasis zu mobilisieren und an die konservativsten Sektoren der republikanischen Rechten zu appellieren. Wie mehrere Analyst*innen argumentiert haben, soll damit die Wahl Nixons von 1968 wiederholt werden, die an die Angst der schweigenden konservativen Mehrheit vor dem Chaos appellierte. Doch im Gegensatz zu Nixon, der kein Amt besaß und die Führung der Demokraten von außen kritisierte, ist Trump seit vier Jahren Präsident.

Angesichts der Heftigkeit der Mobilisierung proben zentrale Sektoren der Bourgeoisie die Taktik der Kooptierung und versuchen, sich die Forderungen anzueignen, um die Bewegung von der Straße auf die Wahlurnen und institutionelle Wegen umzulenken.

Die Person, die für diese „Eindämmungsoperation“ verantwortlich war, ist der ehemalige Präsident Barack Obama, der das freundlichste Gesicht des demokratischen Establishments darstellt. In einer öffentlichen Erklärung trat Obama in Dialog mit den Demonstrant*innen und forderte sie auf, die Proteste in eine Welle von Stimmen für die Demokratische Partei zu verwandeln, der die Republikaner nicht nur aus dem Weißen Haus, sondern auch aus dem Kongress, den Gouverneursämtern und den lokalen Parlamenten hinwegfegen würde. Durch einen Wechsel der politischen Macht auf allen Ebenen und im Weißen Haus soll nach dieser Vorstellung eine Reform der Polizei und der Justiz durchgesetzt werden.

George Floyds Beerdigung inszenierte diese Art von „nationaler Einheit“ angesichts der Abkehr vom Trend zur direkten Aktion, der Demokraten und Republikaner – wie Obama und George W. Bush – ebenso umfasst wie die großen Unternehmensmedien entgegenstehen. Die Washington Post, die sich im Besitz des Milliardärs Jeff Bezos befindet, ist einer der Sprecher dieser „passiven Pseudorevolution“, die in Gang gesetzt wurde. In ihrem Leitartikel vom 5. Juni argumentiert sie, dass der Rassismus weder durch die Emanzipationsproklamation von 1863 noch durch die Bürgerrechtsgesetze von 1964 oder die Wahl von Barack Obama im Jahr 2008 beseitigt wurde, und fordert ein Reformprogramm und eine Niederlage von Trump bei der nächsten Wahl.

Die Demokratische Partei ist aufgerufen, ihre historische Rolle als das Instrument der herrschenden Klasse schlechthin zu spielen, um soziale Bewegungen zu passivieren und sie in den Stoffwechsel des bürgerlich-imperialistischen Regimes einzubinden. Das Problem ist, dass ihr Kandidat, Joe Biden, ein alter Politiker des Establishments mit mehreren Leichen im Schrank ist. Das bedeutet nicht, dass das Argument des „kleineren Übels“ nicht trotzdem ein weiteres Trumpmandat verhindern hat und Biden am Ende zum Sieg verhelfen kann. Aber es ist eine Sache, eine Wahl zu gewinnen, und eine ganz andere, zu regieren.

Offensichtlich versucht die bürgerliche Politik mit aller Macht ein Szenario weiterer Radikalisierung zu vermeiden. Aber das Ergebnis ist noch offen. Die „restaurative“ Strategie zur Rückkehr zu einer angeblichen „Vor-Trump-Normalität“ passt nicht gut zu der offensichtlichen Forderung nach tiefgreifenden Veränderungen, die sich im Linksruck breiter Sektoren der Jugend ausdrückt, die den Sozialismus dem Kapitalismus als überlegen betrachten und die die Grundlage des Phänomens Bernie Sanders in den Jahren 2016 und 2020 waren, was dazu führte, dass bedeutende Sektoren von Latinxs und Schwarzer Teil der Wahlkoalition wurden. Es ist eine Generation, die nicht mehr an den „amerikanischen Traum“ glaubt, unter anderem weil ihre kurze Lebenserfahrung von zwei kapitalistischen Krisen historischen Ausmaßes geprägt ist: die von 2008 und die Coronavirus-Pandemie.

Diese Veränderung der Situation drückte sich auch in einem wachsenden Trend des Klassenkampfes aus, der 2019 mit dem Automobil- und Lehrer*innenstreik den höchsten Stand seit Jahrzehnten erreichte. Dieser Trend setzte sich auch mitten in der Pandemie mit den Kämpfen prekärer „essentieller“ Arbeiter*innen für Gesundheitsmaßnahmen fort.

Die Enttäuschung über Sanders, der von der Verheißung einer „politischen Revolution“ zur Unterstützung von Biden (und davor Hillary Clinton) überging, und die gescheiterte Strategie der DSA (Democratic Socialists of America), der Partei, die Tausende von Jugendlichen in ihre Reihen zog, aber die Demokratischen Partei stützte, macht es dringend nötig, zu dem Schluss zu kommen, dass eine echte dritte Partei der Arbeiter*innenklasse und der Unterdrückten benötigt wird, eine, die den Kampf gegen Rassismus, Kapitalismus und den US-imperialistischen Staat bewusst organisieren kann und den Kampf für den Sozialismus anstrebt. Ein solches politische Phänomen alleine könnte weltweit die Waage zugunsten der Ausgebeuteten verschieben.

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