Selbstbestimmung in Katalonien, Marxismus und Revolution

05.10.2017, Lesezeit 10 Min.
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People take to the streets with a banner reading "independence" during a protest for greater autonomy for Catalonia within Spain in central Barcelona, July 10, 2010. More than a million people took part in the protest according to the police. REUTERS/Gustau Nacarino(SPAIN - Tags: POLITICS CIVIL UNREST)

Wie steht der Kampf für demokratische Rechte und gegen nationale Unterdrückung in Verbindung mit dem gesamten revolutionären Programm? Fünf Stichpunkte zur Position der Marxist*innen.

1. Ein Volk, das ein anderes unterdrückt, kann selbst nicht frei sein

Dieser Satz von Marx und Engels, den Lenin und Trotzki sich angeeignet haben, ist Teil des grundlegenden Erbes des revolutionären Marxismus und definiert allgemein eine politische Strategie. In der konkreten Situation im Spanischen Staat und in Katalonien bedeutet er zunächst einmal, dass die Arbeiter*innen im gesamten Spanischen Staat – inklusive der katalanischen, baskischen, galicischen und restlichen Arbeiter*innen, gemeinsam mit den Immigrant*innen – das Recht auf Selbstbestimmung der katalanischen Bevölkerung verteidigen müssen – und sogar ihre Entscheidung, sich loszutrennen. Denn das nicht zu tun, würde bedeuten, die Unterdrückung durch den Spanischen Staat zu unterstützen, die in der jüngeren Geschichte durch die monarchistische Verfassung (die das Regime von 1978 begründet) durchgesetzt wurde, die die „Einheit Spaniens“ mit Feuer und Flamme verteidigt. Wenn sie diese demokratische Forderung aufnimmt, macht die Arbeiter*innenklasse des gesamten Spanischen Staats einen Schritt nach vorne in ihrer Einheit: gegen die Zentralregierung und das Regime, aber auch gegen die Strategie der bürgerlichen katalanischen Führung, die die Arbeiter*innenklasse des Spanischen Staats spalten und einen neuen bürgerlichen Ausweg finden will.

Ausgehend hiervon ist schnell verständlich, dass die Politik der reformistischen Parteien Podemos und Izquierda Unida den Interessen der arbeitenden Bevölkerung entgegensteht. Denn sie verkünden zwar ihre Verteidigung des Rechts auf Selbstbestimmung, aber zugleich verneinen sie die Durchsetzung dieses Rechts, da sie auf einem unmöglichen „ausgehandelten“ Referendum mit dem Regime von 1978 beharren.

Vor 100 Jahren in der heldenhaften Russischen Revolution von 1917 verkündete die radikalste Demokratie der Geschichte – die Demokratie der Arbeiter*innen-, Bauern*Bäuerinnen- und Soldatenräte – ein Dekret an die Völker der Welt, nur einen Tag nach der Machtübernahme:

Wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten wird, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsche (…) das Recht vorenthalten wird, nach vollständiger Zurückziehung der Truppen der die Angliederung vornehmenden oder überhaupt der stärkeren Nation in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz ohne den mindesten Zwang selbst zu entscheiden, so ist eine solche Angliederung eine Annexion, d. h. eine Eroberung und Vergewaltigung.

Alle imperialistischen Staaten annektierten am Ende des Ersten Weltkriegs neue Staaten und verstärkten ihre Unterdrückung anderer Nationen. Der Sowjetstaat war der einzige, der seinen Gründungsprinzipien die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung der Nationen hinzufügte – auch wenn es später, als sich der Stalinismus konsolidierte, enorme Rückschritte gab und sich das unterdrückerische „Großrussland“ wieder konstituierte.

Gegen die Tradition des Stalinismus und der kommunistischen Parteien hielt die von Leo Trotzki gegründete Strömung die Verteidigung des Rechts auf Selbstbestimmung aufrecht, weil der internationalistische Kampf für die Weltrevolution und den Kommunismus (also der Kampf für eine Gesellschaft ohne Klassen und ohne Staat) nicht einen Millimeter voranschreiten kann, solange die gewaltsame Unterdrückung eines Volkes durch ein anderes bestehen bleibt.

2. Das Recht auf Selbstbestimmung auf revolutionärem Weg verteidigen, gegen die Regierung und das Regime

In den 30er Jahren schrieb Trotzki häufig an die Gruppen der linken Opposition in Spanien über die Wichtigkeit der Forderung der Selbstbestimmung Kataloniens im Rahmen eines revolutionären Spaniens. Konkret sagte er 1930:

Selbst bei nationalen Fragen verteidigt das Proletariat die demokratischen Losungen völlig, und erklärt, dass es bereit sei, mit revolutionären Mitteln das Recht der verschiedenen nationalen Gruppen auf Selbstbestimmung, selbst bis zum Punkt der Lostrennung, zu unterstützen. (Leo Trotzki: Aufgaben der spanischen Kommunisten)

Das Wichtigste an dieser Definition ist nicht nur, dass die Arbeiter*innenklasse die demokratischen Forderungen als ihre eigenen aufgreifen muss, sondern dass sie das „auf revolutionärem Wege“ tun muss, das heißt indem sie den Klassenkampf weiterentwickelt, unabhängig von der Bourgeoisie und allen kapitalistischen Fraktionen.

Konkret übersetzt sich das heute darin, dass die Arbeiter*innenklasse des gesamten Spanischen Staats den Willen der katalanischen Bevölkerung verteidigen muss, sich loszutrennen – wie sie trotz der Repression mehrheitlich im Referendum vom 1. Oktober ausgedrückt hat. Aber sie muss das auf revolutionärem Wege tun: mit den Methoden der Arbeiter*innenklasse, dem Generalstreik und mit eigenen Organismen der Arbeiter*innendemokratie, mit einem eigenen Programm von Übergangsforderungen und mit dem Ziel einer unabhängigen sozialistischen katalanischen Arbeiter*innenrepublik.

3. Sich der Falle der bürgerlichen katalanischen Führung entgegenstellen

Vor einigen Jahren war der Wunsch nach Unabhängigkeit in Katalonien nicht mehrheitlich. Mit Beginn der kapitalistischen Krise wuchs der Unmut mit dem Regime von 1978, der Monarchie und der Vormachtstellung der Zentralregierung. Die historischen Parteien der katalanischen Bourgeoisie, die ebenfalls an Zustimmung verloren, weil sie Kürzungen durchsetzten, begannen den „Weg der Unabhängigkeit“ zu beschreiten und sich an die Spitze des Prozesses zu stellen – eine Art und Weise, den sozialen Unmut in das Labyrinth der nationalen Frage umzulenken.

Heute ist klar, dass der Wunsch nach Unabhängigkeit aufgrund der konstanten Offensive des Zentralstaats gegen die katalanische Bevölkerung – die sich in den letzten Wochen und am Tag des Referendums immer weiter steigerte und einen qualitativen Sprung machte – gewachsen ist und sich als Mehrheitswille der katalanischen Bevölkerung ausgedrückt hat. Das zeigte das Referendum am 1. Oktober: Millionen von Menschen haben sich buchstäblich mit ihrem Körper der Polizeirepression entgegenstellt, um das Recht auf Abstimmung zu verteidigen.

Dennoch will die Führung des „procés“, die historischen Parteien der katalanischen Bourgeoisie und des Kleinbürger*innentums, diese ganze Energie hinter ein Projekt bringen, das ihnen einen bürgerlichen Ausweg ermöglicht. Sei es die Ausrufung einer unabhängigen katalanischen Republik oder sogar eine erneute Neuverhandlung der Autonomiestatute innerhalb des Rahmens des aktuellen Regimes. Auf diesem Weg schüren sie Illusionen darin, dass die Europäische Union die katalanische Unabhängigkeit unterstützen könnte – dieselbe EU, die nicht zögerte, die Bevölkerung Griechenlands zu zerquetschen, obwohl ihre Regierung nur ihre Schulden neu verhandeln wollte. In Wahrheit ist die wirkliche Durchsetzung dieser unabhängigen bürgerlichen Republik ein unmögliches Ziel, ohne die Repressivkräfte des Spanischen Staats anzugreifen, in Mitten der internationalen Ablehnung gegenüber einem unabhängigen Staat in Katalonien. Die andere „strategische Wette“ wäre, sich in kommenden autonomen Wahlen zu stärken, die Rajoy-Regierung bis zum äußersten zu schwächen, und auf Verhandlungen nach einem Regierungswechsel zu hoffen. Dort könnte es eine Regierungskoalition zwischen PSOE, Podemos und den nationalistischen Parteien geben, was aber aktuell sehr unwahrscheinlich ist, angesichts der völlig pro-zentralstaatlichen Position von Pedro Sánchez‘ PSOE.

In der Zwischenzeit spielen sie mit dem Feuer und schüren so die Mobilisierung, auch wenn sie so tun, als wenn sie es unter Kontrolle hätten (deshalb wollten sie den Generalstreik in einen „Bürger*innenstreik“ gemeinsam mit den Bossen verwandeln, auch wenn sie das nicht geschafft haben). Was klar ist, ist dass sich Brüche eröffnen, die durch die Massenbewegung ausgenutzt werden können, um als unabhängige Akteurin auf die Bühne zu treten. Das Referendum am 1. Oktober und der Generalstreik am 3. Oktober zeigten diese Tendenz. Aber dafür darf die katalanische Arbeiter*innenklasse nicht vergessen, dass die bürgerliche „Junts pel Si“-Koalition aus den Parteien besteht, die für die Kürzungen, die Sparpolitik und die Repression gegen die arbeitende Bevölkerung verantwortlich sind, und dass die Mossos [die katalanische Polizei, A.d.Ü.] ihr repressiver Arm sind.

Die demokratischen Forderungen bis zum Ende zu führen, wird es ermöglichen, die katalanische Bourgeoisie zu demaskieren – und auch die reformistischen Führungen des restlichen Spanischen Staats wie Podemos und Izquierda Unida, die trotz aller Reden über „Demokratie“ nicht bereit sind, diese Forderungen zu verteidigen. Aber dafür ist es notwendig, die politische Unabhängigkeit von der bürgerlichen katalanischen Führung zu erkämpfen und ihre Strategie zu verurteilen, die nur zu neuen Enttäuschungen für die Arbeiter*innen führen werden – im Gegensatz zu der Politik, die die antikapitalistische Formation CUP verfolgt, sich dem „procés“ unterzuordnen. Das heißt, wir müssen die demokratischen und nationalen Forderungen aufnehmen, aber ausgehend von einer Politik der Unabhängigkeit der Arbeiter*innenklasse und im Kampf gegen die Front der „nationalen Einheit“ von sozialen, studentischen und Arbeiter*innenorganisationen mit Sektoren der katalanischen Bourgeoisie.

4. Verfassungsgebende Prozesse, um über alles zu entscheiden und für die Hegemonie der Arbeiter*innenklasse zu kämpfen

Der offene Kampf in Katalonien – wo sich Elemente der Selbstorganisation zur Verteidigung des Referendums gezeigt haben, genauso wie die starke erste Intervention der Arbeiter*innenklasse mit dem Generalstreik am 3. Oktober – wirft die Notwendigkeit auf, den Klassenkampf weiterzuentwickeln, um freie und souveräne Verfassungsgebende Prozesse in Katalonien und dem gesamten Staat zu eröffnen. Verfassungsgebende Versammlungen, wo über alles entschieden werden kann, von der Selbstbestimmung aller Völker bis zum Ende der Monarchie und dem Konkordat mit der katholischen Kirche, der Verstaatlichung öffentlicher Dienstleistungen und des Bankenwesens unter Arbeiter*innenkontrolle, inklusive der Enteignung leerstehender Wohnungen, die aktuell den Banken gehören, um das Problem des Wohnungsmangels zu lösen. Demokratische Forderungen wie die, dass jede*r Funktionär*in genauso viel verdient wie ein*e durchschnittliche*r Arbeiter*in, unter anderen. Der Kampf für diese Verfassungsgebenden Versammlungen – mit abwählbaren Vertreter*innen, die auf der Grundlage von proportionalem Wahlrecht der gesamten Bevölkerung ab 16 Jahren gewählt werden – beinhaltet eine frontale Konfrontation mit dem Regime von 1978, seinen Parteien und Institutionen.

Der Kampf für diese radikaldemokratischen und sozialen Forderungen mittels der Selbstorganisation der Arbeiter*innen und der Massen kann der Arbeiter*innenklasse erlauben, die Hegemonie über die restlichen unterdrückten Sektoren zu erobern, indem sie zeigt, dass sich die nationalistischen und reformistischen Führungen weigern, bis zum Ende für dieses Programm zu kämpfen.

5. Für ein unabhängiges sozialistisches Katalonien der Arbeiter*innen, in der Perspektive einer Freien Föderation Iberischer Sozialistischer Republiken

Die Arbeiter*innenklasse Kataloniens und des restlichen Spanischen Staats hat keinerlei Interesse an der Gründung neuer kapitalistischer Staaten, genauso wenig wie bezüglich neuer Grenzen zwischen der Arbeiter*innenklasse. Aber angesichts des Mehrheitswillens der katalanischen Bevölkerung, sich loszutrennen und eine Republik zu gründen, unterstützen wir als internationalistische Revolutionär*innen bedingungslos ihr Recht auf Selbstbestimmung. Nichtsdestotrotz tun wir das im Rahmen eines Kampfs für eine unabhängige sozialistische katalanische Republik der Arbeiter*innen, nicht für eine Republik von Puigdemont und den katalanischen Unternehmer*innen. Eine Republik wie Österreich oder Niederlande würde keinerlei Fortschritt für die Arbeiter*innen bedeuten, die nur neue Angriffe durch die Kapitalist*innen erleiden müssten. Und während wir die Gründung einer unabhängigen sozialistischen Republik verteidigen, kämpfen wir für die Bildung einer Föderation sozialistischer Republiken auf der Iberischen Halbinsel, um die Einheit der gesamten Arbeiter*innenklasse zu verteidigen, im Rahmen einer Föderation Sozialistischer Republiken in ganz Europa.

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