Schüler von ’68: Die Terrorgruppe Neuruppin

20.03.2018, Lesezeit 5 Min.
Gastbeitrag

Vor 50 Jahren war die Jugendrevolte in West-Berlin in vollem Gang. Michael Prütz, damals 15 Jahre alt, ging zur Terrorgruppe Neuruppin. Bald wurde daraus eine maoistische Sekte. In dieser zweiwöchentlichen Kolumne schreibt Prütz seine Erinnerungen aus 1968 auf.

1

Im März 1968 – ich war inzwischen 15 Jahre alt – war ich unausgeglichen und verwirrt.

Etwa zweimal die Woche lief ich zu Fuß von zuhause in eine der Universitäten, um Flugblätter aufzusammeln, die von den studentischen Gruppen verteilt wurden. Zwar hatte sich dadurch mein sozialer Status auf dem Gymnasium deutlich verbessert, da ich mit Informationen aller Art vor meinen Mitschüler*innen glänzen konnte. Es gelang mir aber nicht so recht, Anschluss an die überall um mich herum aufsprießenden Gruppen der außerparlamentarischen Opposition zu knüpfen. Zusätzlich quälte mich meine überbordende jugendliche Sexualität. Ein Rendezvous, geschweige denn eine Freundin, schien allerdings in weiter Ferne. Mich interessierte nur eine Frage: Wohin konnte ich gehen und was war das Ziel?

Eines Tages tauchten an meiner Schule Flugblätter auf, unterzeichnet von vier männlichen Schülern, unter ihnen Alf Böhmert und Ezra Gerhardt. Es war ein Aufruf, gerichtet an Schüler*innen ebenso wie an Lehrlinge, zu einer Versammlung in Vorbereitung einer Zeugnisverbrennung. Zeugnisverbrennung – das ergab für mich Sinn. Zeugnisse waren, damals noch viel stärker als heute, Instrumente der Repression und Selektion und führten zu ständigem Krach mit den Eltern.

Ich nahm also meinen ganzen Mut zusammen und machte mich zu dieser Versammlung auf. Anwesend waren dreißig bis vierzig, hauptsächlich männliche, Schüler*innen. Wortführer war Alf Böhmert, dessen Name auch schon auf den Flugblättern gestanden hatte. Auf seinem Schoß saß eine junge Frau und Alf fuchtelte wüst mit den Armen, während er ohne Punkt und Komma referierte. Heute würde ich diese Pose und dieses Verhalten anders bewerten, aber als 15-Jähriger war ich unendlich beeindruckt: wüste Agitation und ein Mädchen auf dem Schoß! So stellte ich mir revolutionäre Politik vor!

Das Treffen verlief völlig chaotisch, es gab weder Tagesordnung noch Redeliste, jede*r plapperte, wie der Schnabel gewachsen war. Immerhin wurde aber eine öffentliche Zeugnisverbrennung für Ende März beschlossen.

Obwohl ich dieses Treffen sehr anziehend fand, hatte ich das Gefühl, in eine gefestigte Gruppendynamik geraten zu sein und kriegte kein einziges Wort heraus. Ich ging trotzdem weiter zu den Treffen. In allen neu entstehenden Stadtteilgruppen dominierten aber die Älteren. An meiner Schule, dem Grauen Kloster, hatte sich, im Gegensatz zu vielen anderen Schulen, noch kein Schulkollektiv gebildet.

Aus dieser vermeintlichen Schüler*innen- und Lehrlingsgruppe, entwuchs schon bald die Terrorgruppe Neuruppin. Der Namensgebung folgend reduzierte sich auch rasch der politische Anspruch: Es entwickelte sich eine subkulturelle Formation, die darauf aus war, Feten aufzumischen, nicht genehme Bücher der Gastgeber auf den Hof zu schmeißen, und ansonsten von einer gemeinsamen Kommune träumte. Je mehr sich unsere Gruppe abschottete und die Außenwelt als feindlich wahrnahm, desto zärtlicher wurden wir untereinander; auf Feten setzten wir erst unsere politischen Vorstellungen durch, dann wurde untereinander geknutscht und gefummelt.

Die letzte politische Aktion der Terrorgruppe war die Beteiligung an der revolutionären 1.-Mai-Demo 1968, auf der es einen großen Schüler*innen- und Lehrlingsblock gab. Den meisten von uns war klar, dass eine „Politik“, die jede*n außerhalb der Gruppe als Feind ansah, keine Zukunft haben konnte. Im Sommer 1968 entstand aus den Resten der Terrorgruppe Neuruppin die Rote Garde West-Berlins, eine maoistische Jugendorganisation, deren autoritäres Gehabe mich von Beginn an abstieß. Mitglieder mussten sich in blauen Mao-Jacken mit rotem Mao-Button uniformieren und aufstehen, wenn die Leitung den Raum betrat. Mir wurde schnell klar, dass dies nicht meine Perspektive und Politik war.

Die Rote Garde war aber auch eine der ersten Gruppen, die die Ausbeutung von Lehrmädchen thematisierte – ein Problem, unter dem junge Frauen in zahllosen Betrieben litten. Berühmtestes Beispiel war Fleischermeister Sasse. Die Lehrmädchen in Sasses Betrieb, unter ihnen auch eine Genossin der Roten Garde, waren zahlreichen Schikanen ausgesetzt: Sie wurden zum Fegen des Hofes abkommandiert, mussten Enkelkinder ausführen und betreuen, und waren beständig sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Es war damals durchaus üblich, dass Lehrherren sich ihren Lehrmädchen sexuell näherten. Die Rote Garde rief tagelang vor dem Betrieb zu einem Boykott von Fleischermeister Sasse auf, was zu Umsatzeinbußen und einem Umschwenken Sasses führte. Später stellte sich heraus, dass Sasse Mitglied der SED West-Berlin war.

Alf Böhmert fuhr Mitte der 70er Jahre nach China, in das vermeintliche kommunistische Paradies, und kam maßlos enttäuscht von den autoritären Strukturen wieder nach Berlin zurück. Ezra Gerhardt, jahrelanger deutschlandweiter Chef der Roten Garde, wurde später ein bekannter Filmregisseur. Ich selber hatte genug von der Sektiererei der Roten Garde und fing an, Gruppen zu suchen, die ernsthafter an die Politik herangingen. So fand ich zu trotzkistischen Jugendgruppen.

Aufgeschrieben von Mascha Bartsch.

Lesetipp: Wer waren die K-Gruppen? Kleine Geschichte des deutschen Maoismus (Teil 1)

In zwei Wochen berichtet Michael Prütz an dieser Stelle vom Attentat auf Rudi Dutschke.

Mehr zum Thema